Kapitel 4

Amilia


Wie nicht anders zu erwarten war, ist Jen spät dran. Erst zwanzig Minuten nach sieben öffnet sie, ohne zu klopfen, meine Zimmertüre und schließt sie geräuschvoll hinter sich. Ich blicke von meinem Handy auf und lächle knapp.

„Du bist spät", erinnere ich sie. Ausgerechnet ich. Sie wirft mir einen Handkuss zu und lässt sich neben mich fallen.

„Es ist auch schön dich zu sehen. Ich habe uns Essen mitgebracht", meint sie und deutet auf die Papiertüte in ihrer Hand, welche sie zwischen uns auf dem Bett abstellt. Bei dem Anblick des Pizzakartons verzeihe ich ihr auf der Stelle.

„Du bist die Beste", murmle ich.

„Ich weiß doch", meint sie grinsend und öffnet den Karton. „Extra ohne Knoblauch", meint sie. Ich verdrehe die Augen.

Schweigend essen wir. Ich allerdings schneller als sie, da ich erstens Hunger hatte und zweitens schnell loswollte. Während sie mit den letzten beiden Stücken beschäftigt ist, gehe ich mir nebenan im Badezimmer die Zähne putzen und lege Parfum auf, binde mir den Zopf neu. Erst als ich zufrieden bin, gehe ich zurück zu ihr. Sie sitzt an meinem Schminktisch und erneuert ihr Makeup. Sie lächelt mich durch den Spiegel an.

„Können wir los?", frage ich. Sie mustert mich.

„Du willst so gehen?", fragt sie.

„Was stimmt nicht?"

„Ich dachte du willst ihn flachlegen", meint sie. Ich verdrehe erneut die Augen.

„Das habe ich niemals gesagt"

„Aber ich. Zieh dich um.", meint sie. Zweifelnd betrachte ich mich im Spiegel. Ich war eigentlich ganz zufrieden gewesen mit meinem Outfit. Schwarze, enge Jeans, weinrotes Longsleeve mit etwas Ausschnitt. Angepasster eben. Aber neben ihr sah ich zugegebenermaßen unscheinbar aus. Anstatt mich selbst darum kümmern zu lassen geht sie an meinen Kleiderschrank und wirft einige Klamotten aufs Bett.

„Das hier", herrscht sie mich an und wirft mir einen schwarzen Minirock zu, sowie ein Oberteil, welches ich nicht mal zuhause anziehen würde, da es eindeutig zu wenig Stoff beinhaltete.

„Damit werde ich aussehen wie eine Nutte", zweifle ich. Sie zuckt jedoch nur mit den Schultern.

„Solche Typen stehen auf sowas"

„Ich möchte wenigstens das Oberteil anbehalten", protestiere ich, während ich mich aus der Jeans schäle und sie gegen den Rock eintausche.

„Hör mal auf mich", meint sie. Ich beschließe ihr zu vertrauen, auch wenn es absolut gegen meinen Willen ist. „Und mach dein Haar auf"

Ich lasse es über mich ergehen, dass sie aus mir die billigste Prostituierte der Stadt macht, ziehe aber um mich etwas wohler zu fühlen, einen schwarzen, Knielangen Mantel darüber. Auch wenn es die Sache nicht besser machte. Dann lasse ich mich von ihr nach draußen schieben.

Wir kommen fast an meiner Mutter vorbei, doch als sie mich ansieht, schüttelt sie den Kopf.

„Niemals in hundert Jahren wirst du so rausgehen", tadelt sie mich. Am liebsten hätte ich sie vor Freude geküsst, doch stattdessen sehe ich sie genervt an und verschwinde nach oben, um mir das Outfit von vorhin anzuziehen. Doch statt des Mantels entscheide ich mich dafür Coles Jacke anzuziehen. Es ist ohnehin warm genug um später ohne Jacke herumzulaufen.

„Habt einen schönen Abend", ruft meine Mutter uns nach, auch wenn ihre Glaubhaftigkeit zu wünschen übrig lässt. Schnell küsse ich Jack auf den Kopf und eile Jen nach, welche bereits in den Aufzug gestiegen war.

Statt den zwölf Minuten brauchen wir nur sieben Minuten, was sicherlich daran liegt, dass ich schneller laufe als üblicherweise. Meine Freundin hat Schwierigkeiten mir zu folgen, doch ich warte in der Nähe des Ladens, bis sie mich schließlich eingeholt hat. Sie sieht mich genervt an.

„Du lässt mich allein hier herumlaufen?"

„Lauf doch einfach schneller", fahre ich sie an, bereue meine Laune aber sofort. Entschuldigend sehe ich sie an, doch sie verdreht nur die Augen und sieht sich angewidert um.

„Wie du hier überhaupt landen konntest ist mir ein Rätsel."

„Ich hatte mich verlaufen", gebe ich zu. Ansonsten wäre ich hier auch mit großer Wahrscheinlichkeit nicht freiwillig entlanggegangen. Abgesehen von jetzt, da ich es ja tat.

„Das hoffe ich doch", brummt sie.

„Der Laden ist es", sage ich und deute darauf. Sie nickt, offensichtlich wenig begeistert und läuft darauf zu. Ich versuche mit ihr mitzuhalten, doch jetzt plötzlich scheint sie schneller zu sein als ich.

Erst als die Ladenglocke ertönt, blickt Cole von seinem Handy auf. Zuerst trifft sein Blick auf Jen, welche ihn abschätzig mustert, was er genauso erwidert. Erst als er mich entdeckt, erhellen sich seine Gesichtszüge. Jedenfalls hoffe ich mir das einzubilden. Er erhebt sich von seinem Platz hinter dem Tresen und sieht mich weiterhin dabei an. Ich lächle unsicher und laufe auf ihn zu. Kurz bleiben wir voreinander stehen, dann hebt er die Hand, um den Kragen seiner Jacke anzufassen. Sein Blick ist fragend, doch die Lippen sind zu einem Lächeln verformt. Ich kann den Blick nicht von ihm abwenden. Erst Jennifers schnauben bringt mich in das hier und jetzt zurück. Schnell ziehe ich die Jacke aus und drücke sie ihm ein wenig zu heftig in den Arm.

„Ich dachte, dass du sie bestimmt wiederhaben willst", sage ich lächelnd. Er lächelt dankbar und nimmt sie mir ab.

„Danke, Amilia", flüstert er und greift nach etwas, was hinter dem Tresen steht. Zu meiner Verwunderung, aber auch Freude, streckt er mir eine Schachtel der Schokolade zu, welche ich gestern vermisst habe.

„Dafür, dass du mir meine Jacke bringst", meint er. Ich hebe eine Augenbraue.

„Dafür, dass ich dir deine ausgeliehene Jacke wieder bringe?", frage ich spöttisch. Er grinst schief.

„Ich dachte, dass du sie vielleicht verkaufst oder der Heilsarmee stiftest", ich lache auf.

„Auf die 3 Dollar kann ich verzichten und das hier würde selbst die Heilsarmee ablehnen", sage ich belustigt.

„Gestern sind es noch 5 Dollar gewesen"

„Dann ist der Wert wohl rapide abgestürzt", sage ich und sehe ihm wieder in die Augen. Erst als Jen sich räuspert schrecke ich zusammen. An sie hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht. Sie tritt neben mich und hält ihm die Hand hin, als würde sie sie ihm geben wollen. Doch dann scheint ihr wieder einzufallen, dass sie keine armen Menschen berührt, und sie zieht die Hand wieder weg. Ich beiße mir auf die Lippe. Cole sieht sie fragend an, nickt ihr aber Höflichkeitshalber zu.

„Ich bin Jennifer. Amilia's beste Freundin"

„Ich bin Cole, aber das weißt du scheinbar bereits", meint er und mustert sie knapp. Sie lächelt ihn strahlend an.

„Also, Cole. Bist du schonmal straffällig geworden? Vielleicht ein Sexualstraftäter?", fragt sie, als wäre dies eine ganz normale Frage. Während ich mich an meiner eigenen Spucke verschlucke und sie am liebsten erwürgen würde, bleibt Cole ruhig und hält ihrem Blick stand.

„Ich schlafe nur mit Frauen, die das auch wollen. Bis jetzt hab es keine Beschwerden und keine Anzeigen", meint er. Sie nickt knapp. Und ich spüre, wie mein gesamtes Gesicht in Flammen aufgeht. Zu gerne hätte ich ihr befohlen das sein zu lassen, aber in ihrer Gegenwart war ich wie ein unsicheres, kleines Kind.

„Das glaube ich gerne", meint sie und tippt ihm gegen die Brust, was mich innerlich aufstöhnen lässt. „Wie sieht es mit Heiratsschwindel und Diebstahl aus?", fragt sie. Ich sehe Cole entschuldigend an, doch dieser sieht relativ gelassen aus. Auch wenn er meinem Blick aus dem Weg geht. Wirklich toll, endlich mal ein, auf den ersten Blick, vernünftigen Mann und meine beste Freundin muss ihn gleich vertreiben. 

„Ich habe keine Zeit für sowas", Jen lächelt zufrieden.

„Du gefällst mir", meint sie und lächelt süß, streicht sich das Haar hinters Ohr. Entgeistert sehe ich sie an, versuchte sie jetzt ernsthaft mit ihm zu flirten? Langsam zweifle ich daran, dass sie wirklich so einen großen Erfolg bei den Männern hat wie sie immer behauptete. Jedenfalls sieht das hier nicht so aus, als würde sie Erfolg damit haben.

„Wie auch immer", meint Cole und sieht mich endlich wieder an. Sein Blick ist durchdingend. „Wolltest du noch etwas?", fragt er mich. Seine Stimme ist genervt, was ich gut nachvollziehen kann. Dennoch bin ich enttäuscht. Doch was hatte ich erwartet? Ich verfluche mich innerlich dafür, dass ich Jen überhaupt gefragt hatte mitzukommen. Wobei vielleicht hatte er auch wirklich einfach nur Interesse daran gehabt, dass er seine Jacke zurückerhielt.

„Nein", sage ich leise.

„Gut, ich habe noch zu tun", meint er und zeigt mit dem Kinn zu einem einzelnen Kunden, welcher in den Reihen nach etwas suchte. Ich beiße mir auf die Lippe. Der Rausschmiss ist unverkennbar.

„Ja, man siehts", spottet Jen, doch weder Cole noch ich beachten sie.

„Tut mir leid", flüstere ich, er nickt knapp, doch als ich mich bereits abgewendet habe, greift er nach meinem Handgelenk. Seine Berührung verursacht ein Prickeln auf meiner Haut. Verwundert drehe ich mich zu ihm um. Sein Gesicht ist angespannt. Er sieht mir wieder so tief in die Augen, dass mir schwindelig wird.

„Willst du morgen allein wiederkommen?", fragt er leise, so dicht an mein Ohr, dass ich seine Worte auf meiner Haut spüren kann. Das „allein" betont er dabei offensichtlich, auch wenn das nicht nötig gewesen wäre. Ich würde sie ganz sicherlich nicht mehr mitnehmen.

„Ja", presse ich hervor, zu mehr bin ich nicht in der Lage. Er lächelt zufrieden und hebt meine Hand an seine Lippen, küsst sie sanft, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. Mein Herz flattert aufgeregt.

„Gute Nacht, Amilia"

„Gute Nacht, Cole", flüstere ich. Er zwinkert mir zu und sieht dann an mir vorbei.

„Tschüss, Jennifer", meint er kritisch, doch sie verabschiedet sich noch nicht mal von ihm. Er runzelt die Stirn und wieder sehe ich ihn entschuldigend an, bevor ich meiner Freundin hinterherlaufe.

„Spinnst du eigentlich? Was sollte das?", frage ich aufgebracht.

„Warum? Er hat den Test doch bestanden

„Weil er keine dummen Antworten gegeben hat? Was soll das für ein dämlicher Test sein? Wer würde diese Fragen ehrlich beantworten, wenn derjenige sowas tun würde?"

„Ich will dich nur beschützen", meint sie aber klingt dabei wenig aufrichtig.

„Ich denke, dass du mich eher sabotieren möchtest.", sage ich und sehe sie wütend dabei an.

„Aber rede doch keinen Unsinn, warum sollte ich das denn tun?", ich zucke bei ihrer Antwort mit den Schultern und denke nach. Eigentlich hat sie mir, wenn ich ehrlich bin, schon öfters Dinge schlecht geredet. Oft auch kaputt gemacht. Ich weiß nicht, warum sie das tut. Natürlich nicht. Ich habe bis jetzt auch noch nicht wirklich darüber nachgedacht. Statt ihr eine Antwort zu geben drehe ich mich um und setze mich in Bewegung. Kurz zögere ich, ob ich zurück zu Cole gehen sollte, doch dann kommen mir Zweifel. Ich will ihn nicht nerven. Und ich möchte ihm nicht hinterherlaufen. Ich muss mich wohl oder übel bis morgen gedulden. Ich schlage den Weg nach Hause ein, dann bleibe ich wieder stehen. Verdammt, Geduld war noch nie meine Stärke.

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