Kapitel 2

Cole


Heute kann ich es kaum erwarten, dass meine Schwester mich endlich ablöst. Keine Ahnung warum, sonst bin ich immer froh nicht zuhause sein zu müssen. Wie immer kommt sie zu spät, weil sie genau weiß, dass ich um die wenigen Minuten froh bin, die ich länger bleiben kann. Sie wiederum ist froh sich nicht abmühen zu müssen hierher zu kommen. Doch heute schlägt ihr unerwartet schlechte Laune entgegen, als sie eine halbe Stunde nach Beginn ihrer Schicht den Laden betritt. Ihre eigene,  gute Laune verfliegt augenblicklich, als sie in mein finsteres Gesicht blickt.

„Coley, was ist denn mit dir los?", fragt sie leicht lächelnd und lehnt sich an den Tresen an, mustert mich neugierig. Ich verdrehe die Augen und presse die Lippen zusammen, sodass sie einen Strich ergeben. Ich hasse diesen Spitznamen. 

„Nenn mich nicht so, wie oft noch?", sage ich finster und erhebe mich von dem Stuhl, auf dem ich gesessen hatte. Und das seit Stunden, denn ich hatte hier absolut nichts zu tun heute. Wobei ich mich auch ansonsten eher weniger darum bemühe irgendwas in diesem Laden hier zu tun. ,,Und außerdem bist du zu spät". Irritiert sieht sie mich an und nickt.

„Alles klar, Cole. Jetzt bin ich da. Tut mir leid", sagt sie ruhig und hält meinem Blick stand. Ich beiße mir auf die Lippe und erhebe mich, will nach meiner Jacke greifen, bis mir wieder einfällt, dass ich die ja überhaupt nicht mehr habe. Und wahrscheinlich auch nicht wiedersehen werde. Verdammt, was war ich nur für ein Idiot? Auch wenn die Jacke absolut keinen materiellen Wert hatte, eher müsste ich draufzahlen dafür, dass die jemand nimmt, bedeutet sie mir viel. Und was tat ich? Sie einfach irgendeinem wildfremden Mädchen mitgeben, welche sie wahrscheinlich in den nächstbesten Mülleimer wirft, sobald sie ihren zweck nicht mehr erfüllt. 

Kurz erwische ich mich bei dem Gedanken daran, sie suchen zu gehen. Also die Jacke versteht sich, doch ich verwerfe den Gedanken lieber schnell wieder. Es war lächerlich. Das Mädchen und ihr kleiner Bruder sollten sicher nach Hause kommen, auch wenn ihre Art und Weise arroganter nicht hätte sein können.  Ich wünschte, dass es mir egal sein könnte, wenn sie ausgeraubt werden würde, mit ihrem lächerlichen Mantel, doch das ist es mir nicht. Auch wenn sie am nächsten Tag vermutlich mit komplett neuen Sachen ausgestattet werden würde. Sie ist eines der Mädchen, welche ihr gesamtes Leben lang von ihren Eltern finanziert werden und darin kein Problem sehen. Ich hasse solche Menschen. EIgentlich.

Wortlos gehe ich zum Ausgang, dann drehe ich mich um und bleibe zögernd stehen. Der Blick meiner Schwester fällt zurück auf mich. Fragend sieht sie mich an. Ihre Miene ist ernst, ihr Kiefer angespannt. Ich weiß, dass sie Streit hasst. Wir hatten beide genug Streits in unserem Leben miterlebt um einen Streit untereinander aus dem Weg zu gehen. Und sie, als Älteste hatte noch viel mehr miterlebt, als ich. Ohne etwas zu sagen laufe ich zu ihr zurück und ziehe sie an mich, was sie widerstandslos zulässt. Ich spüre ihre Hände, welche leicht an meiner Seite zittern. Was für ein Idiot. Wie hasste Streits nicht nur, sie wurde panisch dabei. 

„Tut mir leid, Kate", flüstere ich. Sie nickt und anhand ihres hektischen Atems weiß ich, dass sie nur schwer die Tränen zurückhalten kann. Was ich verstehen kann. Ein Streit zwischen unseren Eltern ist nie gut ausgegangen. Es gab immer einen Verletzten. Egal ob sichtbar oder nicht und sie und ich waren nicht nur einmal dazwischen geraten. Und sicherlich wollte ich mich wegen so etwas nicht mit ihr streiten, denn ich wollte immer nur das Beste für sie. Und ich kann mich darauf verlassen, dass sie dasselbe über mich denkt. Egal wie nervtötend sie manchmal ist. Sie lässt mich los und mustert mich.

„Wirst du mir den Grund verraten?"

„Den Grund für was verraten?", frage ich und lege den Kopf schief. Sie verdreht theatralisch die Augen und seufzt.

„Cole, den Grund für deine schlechte Laune natürlich."

,,Du meinst, dass ich an all den anderen Tagen ein wahrer Sonnenschein bin?", frage ich amüsiert und trete einen Schritt rückwärts, da sie mich so intensiv mustert, dass ich das Gefühl habe ihre Blicke auf meiner Haut spüren zu können. 

,,Genau das habe ich damit ausdrücken wollen.", meint sie augenverdrehend tippt abwartend mit ihren Schuhspitzen auf den Boden. 

„Ich habe meine Jacke verloren", lüge ich. Auch wenn ich mit ihr über alles reden konnte wollte ich es nicht. Sie würde mich wahrscheinlich für dumm halten.

„Und? Ich habe die sowieso immer gehasst", meint sie und grinst schief. Ich schüttle den Kopf und verschränke die Arme vor der Brust.

„Ja, vielleicht hast du Recht"

„Wie kannst du deine Jacke verlieren? Bist du nicht die ganze Zeit im Laden gewesen?", fragt sie neugierig und schwingt sich auf die Theke, lässt ihre Beine frei schaukeln. Ich blicke kurz zu Boden und sehe sie dann wieder an.

„Ich war müde", sage ich und verfluche mich innerlich dafür, dass mir keine einigermaßen logische Erklärung einfällt. 

„So müde, dass dir keine bessere Ausrede mehr einfällt?"

„Offensichtlich", murmle ich grimmig. 

„Cole, ich dachte, dass wir über alles reden können", sagt sie. Enttäuschung schwingt in ihrer Stimme mit. 

„Können wir, müssen wir aber nicht", sage ich ruhig und setze mich zurück auf den Stuhl, sehe mich im Laden um, doch wie in den Minuten zuvor ist er leer. Kein Wunder. Wer sollte ausgerechnet hier seinen Bedarf an Zucker stillen, wenn er auch einfach in den nächsten Supermarkt gehen konnte? 

„Aber ich weiß, dass du es willst"

„Du bist anstrengend", seufze ich. Sie grinst und nickt heftig.

„Das ist meine Aufgabe als große Schwester"

„Ich...habe jemanden kennengelernt", sage ich schließlich ruhig, auch wenn ich es am liebsten nicht sagen wollte. Ich komme mir nun wirklich dumm vor. Immerhin war es nicht so, dass ich sie wirklich kannte. Und vor allem wollte ich nicht mit meiner Schwester darüber sprechen, sonst wusste es morgen die halbe Stadt. Sie hebt interessiert eine Augenbraue. Und spätestens jetzt weiß ich, dass ich ein Problem habe. 

„Sag bloß."

„Ich meinte...naja du weißt schon", sage ich nervös und starre auf meine Hände, welche ich noch immer verschränkt halte.

„Wer ist sie?", fragt sie herausfordernd und neugierig. Ein wenig zu neugierig, doch so war sie eben. Wobei es mich nicht interessieren würde, wenn sie diejenige war die irgendjemanden kennenlernte. Genau genommen wollte ich sowas noch nichtmal wissen. Über niemanden. 

„Kennst du nicht."

„Vielleicht ja schon", ich schüttle den Kopf und seufze. Ihre Neugierde und Hartnäckigkeit hat mich schon immer genervt, doch heute noch mehr als üblich.

„Nein, sicher nicht, sie...sie ist... egal.", Kate legt den Kopf schief und grinst verschwörerisch. Meine Eltern hatten es wirklich geschafft die schlimmsten Gene in einer Person zu vereinigen und dieser Person auch noch einen Bruder an die Seite zu stellen, welcher sein ganzes Leben dafür leiden musste. 

„Bis du etwa verliebt? Dann verstehe ich deine schlechte Laune aber nicht", meint sie mit einem fetten grinsen im Gesicht. 

„Nein, bin ich nicht. Ich kenne sie eigentlich gar nicht, wenn ich ehrlich bin". Und wenn ich ehrlich bin weiß ich auch nicht, warum ich noch weiter redete. Es ging sie nichts an und eigentlich wollte ich auch mit ihr nicht reden. Je weniger desto besser. 

„Dann solltest du das dringend ändern", schlägt sie vor. 

„Ich denke, dass das keine gute Idee ist"

„Vielleicht ja doch."

„Ziemlich sicher nicht.", sie zuckt mit den Schultern und nickt.

„Wenn du meinst. Es geht mich nichts an, du kannst ja machen was du willst", meint sie und wendet sich langsam von mir ab. Ich grinse leicht. Dann erhebe ich mich, da sie noch immer keine Anstalten macht wieder zu mir zu sehen.

,,Wir sehen uns dann wieder morgen früh. Und sei pünktlich", sage ich weniger ernst. Sie nickt, noch immer ohne mich anzusehen. Ich schüttle amüsiert den Kopf und gehe endlich zum Ausgang. Die Müdigkeit hatte mich wieder eingeholt. Manchmal wurde es mir zu viel, doch ich konnte mich nicht auf meine Mutter verlassen. Hin und wieder war sie da, diese Phasen waren mittlerweile aber immer seltener, sodass ich nicht darauf zählte. Man konnte sich nichtmal mehr bei diesem Drecksloch auf sie verlassen. Dieser Laden war immer ihr Traum gewesen. Genaugenommen der Traum von unseren beiden Elternteilen. Wenn man es denn so nennen konnte. Meine schönsten Kindheitserinnerungen hatten in diesem Laden stattgefunden. Als wir kleiner waren, sind wir immer mit ihr biergewesen. Hatten Unmengen an Süßigkeiten gegessen und unserer Mutter geholfen. Ehrlicherweise hatte ich sie nur hier glücklich erlebt, doch mittlerweile war sie das auch hier nicht mehr. Genauso wie ihre Kinder. 

Meine Schwestern waren noch jung und hatten noch zu viel nebenher zu tun, als dass sie mehr arbeiten konnten. Die Jüngste ist noch zu jung um überhaupt zu arbeiten. Manchmal überlegte ich, ob es nicht besser war diesen Laden ganz zuzumachen, doch meine Schwestern wollten das nicht. Sie glaubten noch immer daran, dass dieser Schuppen lukrativ genug war. Vielleicht wollten sie auch einfach nur noch ein wenig länger an unserem Vater festhalten. Und ich wollte ihre Hoffnung nicht im Wege stehen.


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top