Kapitel 1
↠ Wohl sehe ich, Zeit ist Herrscherin der Menschen, Erzeugt sie erst, um sie zu begraben, Gibt, was sie will, nicht was sie möchten haben.
- William Shakespeare, Perikles 2.Akt, 4.Szene
18. Dezember 2017, irgendwo im Luftraum über England
SOPHIA ♠ Sechzehn Jahre später sitze ich im Flugzeug und denke an dieses komische Gefühl zurück, was ich damals zum ersten Mal in seiner Anwesenheit verspürte.
Und nicht nur dort, auf dem Schulhof der Grundschule, blieb es. Nein, in den Jahren später und je älter wir wurden, desto stärker wurde es. Manchmal ließ ich es stärker zu, manchmal unterdrückte ich es. Nicht immer erfolgreich aber immerhin erfolgreich genug, um den Wingman zu spielen und mich selbst auf Beziehungen -ob glücklich oder nicht- einzulassen.
Zwar fand ich es irgendwann einfach nur noch nervig, wenn er ständig mit neuen Mädchen anbandelte, doch ich akzeptierte, dass er sich nie wirklich festlegen konnte. Klar, war er in gewisser Weise beliebt, aber ich hatte das Gefühl, unsere Freundschaft bliebe dadurch auf der Strecke. Doch ich akzeptierte die Karten, die das Schicksal mir zu spielte. Was blieb mir auch anderes übrig?
Zu den ohnehin schon vorhandenen Differenzen und Strapazen kamen dann noch die Musik und der Kampf um seine Band. Im Nachhinein hatte sich alles kämpfen gelohnt. Ich gönnte ihm den Erfolg. Es machte ihn glücklich und ich war immer wahnsinnig stolz auf ihn und sein Durchhaltevermögen. Meine Gefühle für ihn und dieses andere ungute Gefühl zeigte ich ihm nie, für ihn war das alles normal gewesen.
Wir hatten eine gute Freundschaft und konnten über alles reden, doch diese Momente wurden mit fortschreitender Zeit immer weniger.
Jetzt haben wir uns fast fünf Jahre nicht gesehen und viel ist passiert. Ich wurde Reisejournalistin und flog von einem Land ins nächste, er ein erfolgreicher Musiker, der von der Damenwelt genauso angehimmelt wird, wie damals von den Mädchen in der Oberstufe.
Vielleicht hätte ich ihm meine Gefühle beichten sollen, doch immer schob ich es vor mir her, wie einen schweren Stein, schließlich wollte ich es nicht riskieren einen meiner Freunde zu verlieren. Liam, Andy und ich: wir waren die drei Musketiere Wolverhamptons und dabei sollte es auch bleiben.
Jetzt war es zu spät, denn er wollte in zwei Tagen heiraten. Ich freute mich für meinen besten Freund und das war nicht gelogen. Alle anderen Gefühle, verbannte ich in eine dunkle Ecke meines Herzens. Dorthin wo sie hingehörten.
Als das Flugzeug landete und ich aus dem Fenster nach draußen auf das Rollfeld schaute, waren nur ein paar Quellwolken zu erkennen und obwohl ich immer noch im Flieger saß, fühlte ich mich jetzt schon zuhause.
Mein Sitznachbar war endlich aus seinem Tiefschlaf erwacht, nachdem die Stewardess schon kurz davor war ihm kühles Wasser ins Gesicht zu kippen. Beruhigungsmittel mögen helfen aber ab einem gewissen Ausmaß begann es zu nerven. Andererseits war mir Geschnarche, welches sich mit Kopfhörern ausblenden ließ, tausendmal lieber als hysterisches Weinen und Strampeln.
Denselben Gedanken, wie die Stewardess hegte ich schon seit gefühlten Stunden, aber bei mir wäre es kein Wasser gewesen, sondern Tomatensaft. Auf seinem weißen Hemd und dem teuer aussehenden, hellgrauen Anzug hätte sich der Saft wirklich fabelhaft gemacht. Mit seinem Schnarchen hatte er mich trotz der Kopfhörer nämlich fast in den Wahnsinn getrieben.
Viel hatte sich in dem Flughafen nicht verändert, sogar der Geruch war immer noch der gleiche. Irgendwie ein schönes Gefühl.
Die Gepäck Ausgabe zog sich mal wieder wie Kaugummi in die Länge und meine Geduld war gefährlich nahe am Abgrund. Mein Zeug kam natürlich als letztes, wie sollte es anders sein.
Auch wenn Liam und ich uns verändert hatten, eines hatte sich nicht verändert. Ellie war immer noch meine beste Freundin. Ich war nicht dieses typische Mädchen und meine Mum hatte oft gesagt, an mir sei ein erstklassiger Junge verloren gegangen, aber als ich Ellie da stehen sah, lief ich fast schon hysterisch in ihre Arme und wir quickten vor Glück los.
„Gott, Sophia, ich hab dich so unheimlich vermisst."
„Und ich dich erst", überglücklich starrten wir uns an. „Komm lass uns zu mir fahren und dann erzählst du mir alles, was du in den letzten fünf Jahren erlebt und getrieben hast, ja? Und gleich danach mit wem", redete sie förmlich drauf los und zwinkerte mir zu. Ich nickte bloß lachend. Arm in Arm liefen durch die grauen Gänge zu ihrem Volvo und luden mein Gepäck ein. „Das ist so schön, dass du da bist. Liam wird sich riesig freuen und alle anderen auch. Heute Abend wir richtig Party gemacht, mit allen Mädels", sie bog um die nächste Kurve.
„Wie mit allen Mädels?", fragte ich skeptisch nach. „Ja mit allen Mädels. Du, Perrie, Taylor und ich. Wie in guten alten Zeiten! Okay, Liam's Schrulle auch, dass lässt sich bei einem echten Jungessellenabschied leider nicht vermeiden. Was dachtest du denn?"
Ja, was dachte ich. Ich dachte daran einfach meine Ruhe zu haben und vielleicht meinen besten Freund aus Kindertagen nochmal zu treffen, bevor er übermorgen endgültig unter die Haube kam. Ich dachte daran mit einem Bier in der Hand am Lagerfeuer zu sitzen und wie damals zuzuhören, wie er eine Gitarre vergewaltigte.
Stattdessen musste ich den Abend jetzt mit durch geknallten Weibern verbringen, deren größtes Laster, wahrscheinlich Prosecco und Hauptthema die neueste Pariser Mode war. Super. Fabelhaft.
„Muss ich da wirklich mit?", fragte ich schmollend und versuchte meinen überzeugendsten und Mitleid erregendsten Blick aufzusetzen. Filmreicher Dackelblick inklusive.
„Ja musst du. Cheryl will dich auch unbedingt kennenlernen." Wer zum Teufel war Cheryl. Ich schaute sie fragend an. „Die Braut, Soph. Cheryl ist die Braut, du Nuss."
Machte Sinn.
Ich nickte. Meine Lust auf diesen Abend war jetzt schon am absoluten Tiefpunkt.
„Das wird lustig. Wir klappern die Bars ab und haben Spaß. Vertrau mir, wir regeln das schon." Sie lächelte aufmunternd zu mir über. Ihr Wort in Gottes Ohr. Wenn gar nichts mehr helfen würde, würde ich einfach meine Arbeit vorschieben. Die Rezension des russischen Hotels schrieb sich schließlich nicht von alleine (leider) und auch die passenden Fotos wollten sorgfältig ausgewählt und bearbeitet werden.
Wir kamen nach einer halben Ewigkeit Fahrt durch den zähen Londoner Stadtverkehr, in Ellie's Wohnung an. Sie löcherte mich sofort mit hundert Fragen, über meine Reisen und über meinen derzeitigen Beziehungsstatus. Typisch Ellie eben.
Ich offenbarte ihr, dass ich schon seit geraumer Zeit Single war. „Wir besorgen dir heute Abend einen heißen Typen. Vielleicht hast du dann wenigstens heißen Sex", sie zwinkert mir verführerisch zu. „Eleanor. Ich brauche weder einen Typen noch Sex." Eigentlich wollte ich nur Liam endlich wieder sehen aber diese Gedanken behielt ich sicherheitshalber für mich.
Wir redeten über belanglose Dinge. Ellie erzählte von ihrem Modeblog, welchen wie zusammen mit ihrem besten Freund, Max, führte. Nebenbei ließ sie fallen, dass auch Louis sich endlich dazu entschlossen hatte, aus dem Quark bekommen hatte und sich zusammen nach einer gemeinsamen Wohnung umsahen. Zum ersten Mal an diesem Tag freute ich mich ehrlich. Denn wenn man betrachtete, wie wahnsinnig gut die zwei zusammen passten, wie sie harmonierten, wunderte es mich, dass Louis nicht schon längst den Sack zugemacht und um ihre Hand angehalten hatte. Sollte es soweit sein, wäre ich die erste, die ihm vorhalten würde, wie dämlich er war, weil er sich so lange Zeit gelassen hatte.
Ich hatte nichts ausgepackt oder die Zeit dazu irgendwie zur Ruhe zu kommen, denn wir fuhren weniger später gleich los zu den „Mädels".
Gerade so hatte ich eine Tasse Kaffee trinken und meine labberige Jogginghose gegen eine bequeme Jeans tauschen können.
In meine kleine Umhängetasche hatte ich mir ein Notfallpaket gepackt: Mein iPhone um mir ein Taxi rufen zu können, Geld für das Taxi und für Alkohol und eine Schachtel Zigaretten. Mein kleines Tablett und eine kleine externe Festplatte mit allen Fotos hatte ich wehmütig zurück gelassen. Irgendwie musste ich ja den Abend überleben, weshalb ich, nur um wirklich sicher zu gehen, zwei Feuerzeuge in die Tasche schmiss und mich mehrfach vergewisserte, dass ich wirklich nichts vergessen hatte.
Ellie redete die gesamt Fahrt darüber, wie toll es werden würde und wie froh sie war, dass ich endlich wieder im Lande war. Ich hörte nur mit halbem Ohr hin und schaute aus dem Seitenfenster.
Die Stadt hatte sich kaum verändert und einige Plätze, an denen wir vorbeifuhren, hatten sich in mein Gedächtnis gebrannt.
Wir kamen vor einem großen Haus zum stehen und Ellie zog mich sofort aus dem Auto. Sie klingelte und drei andere Frauen begrüßten uns.
Bei näherer Betrachtung ahnte ich schon schlimmes. Alle trugen pinke Shirts auf denen irgendwas mit „Wedding" und „Bride" stand.
„Hallo, ihr zwei. Eleanor hast du uns da etwas die Sophia mitgebracht", kreischte Perrie lauthals. Auf ihrem Shirt stand, Brautjungfer. Alle belächelten mich und gaben mir ein Küsschen, sodass ich mich, wie ein mit gebrachter Hund fühlte. Und das obwohl ich hier eigentlich vor meinen Freunden stehen sollte.
Ellie wurde gleich in ein Gespräch über Kleider verwickelt und ich fühlte mich völlig fehl am Platz, schließlich hatte ich weder Ahnung von Brautkleidern, noch irgendeinen Stand der Planung mitbekommen. Ich lehnte mich also desinteressiert an die mint-grüne Wand, um nicht auch noch im Weg herum zu stehen. Wo waren wir hier überhaupt? Wessen Haus war das? Einige Zeit schaute ich mich um und blickte nochmals Gedankenverloren in den Flur, als es mir wie Schuppen von den Augen fiel. Dort standen die gleichen schwarzen Chucks, wie ich sie heute anhatte. Erst betrachtete ich meine nochmal und dann die, die dort standen. Es mussten seine sein. Ich kannte niemanden sonst, der auf den weißen Rand seiner Schuhe den Lyrics von "Toy Story" schreiben würde. Außer uns. Das war sein Haus, Liam's Haus. Ein unangenehmes Ziehen breitete sich in meiner Magengegend aus und es wurde auch nicht besser, als mir dann die Braut vorgestellt wurde.
„Du musst Sophia sein", sagte sie freudig und klang schon etwas beschwipst. Ich lächelte nur und nickte. „Lee hat schon so viel von dir erzählt." Cheryl war eine richtige Tussi, wenn ich das jetzt mal so sagen darf. Braune, lange, wellige Haare, schlank und sehr auffällig geschminkt. Schon jetzt, ohne dass sie mehr als nur einen Satz von sich gegeben hatte, wusste ich, dass ich diese Modepuppen nicht mochte. Aber anscheinend war ich genau hier am richtigen Platz gelandet, denn die anderen - wohl irgendwelche Freundinnen von ihr - sahen genau so aus.
El gesellte sich zu uns. „Sehr gesprächig ist deine beste Freundin ja nicht", bemerkte Cheryl spitz. „Sie muss erst warm werden", Eleanor schaute mich vorwurfsvoll an und am liebsten hätte ich ihr eine geknallt. Natürlich rein freundschaftlich, versteht sich. „
Mädels, die Limo ist da", kreischte wieder irgendeine Ohrenbetäubend und alle liefen geradewegs zur Tür. Vielleicht stillte ich sie einfach Chantal 1, 2 und 3, taufen? Ihre Namen würde ich mir ohnehin nicht merken können, darin war ich nie gut gewesen.
Natürlich sollten El und ich nicht auffallen, deswegen bekamen auch so ein Rosa Shirt zum überziehen. Meine absolute Lieblingsfarbe. Es stand mir fantastisch.
Ich wollte mich erst weigern, aber ich tat es für meine Freundinnen. Schließlich wollte ich nicht, dass Eleanor, Perrie und Taylor alleine wie ein Flamingo auf Koks rumlaufen mussten.
In der Limo gab es Musik von den Spice Girls und wie zu erwarten Prosecco. Wahrscheinlich würde dieser Abend, zu den schlimmsten in meinem Leben werden.
Super.
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