P R O L O G


A B I G A I L

Keuchend lasse ich mich in dem Versuch, mein schnell schlagendes Herz unter Kontrolle zu bringen, auf den Rasen fallen. Die Sonne brennt auf meiner Haut und ein wohliges Kribbeln erfasst meinen ganzen Körper, als ich lächelnd in den Himmel hinaufschaue.

Bar Harbor ist gar nicht mal so schlecht, wie ich am Anfang gedacht habe. Im Gegensatz zu New York, meiner Heimatstadt, sollte es hier todlangweilig und meilenweit kein Mensch zu sehen sein. Zumindest habe ich das vor unserer Ankunft vor zwei Tagen angenommen. Aber ich habe mich geirrt, was Bar Harbor angeht. Es ist keineswegs wie New York, die Stadt, in der nie Ruhe – oder etwas ziemlich nah dran – herrscht.

Hier ist es tatsächlich schön und entspannend, ganz gleich wie ich es in den vielen Artikeln im Internet gelesen habe. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, stundenlang unzählige Tabs mit Berichten über die Stadt geöffnet zu haben, um sie genauestens unter die Lupe zu nehmen, komme ich mir ziemlich albern vor. Ich habe allerdings versucht, über meinen neuen Wohnort so viel, wie es einem Menschen nur möglich ist, in Erfahrung zu bringen.

Tatsächlich zieht sich mein Herz bei dem Gedanken an meine ältere Schwester zusammen, die sich mein Geplapper über Bar Harbor angehört hat, und das, obwohl sie aufgrund ihres Studiums in New York zurückbleiben musste. Dabei haben wir beide, seit ich denken kann, ständig irgendwelche komischen Meinungsverschiedenheiten.

Dennoch vermisse ich ihre bissigen Kommentare und ihre Bemerkungen darüber, wie ich etwas Sinnvolles aus meinem Leben machen soll. Und auch, wenn es noch sehr wenige weitere Dinge gibt, die ich vermissen oder Menschen, mit denen ich nicht mehr in Kontakt bleiben werde, ist das befreiende Gefühl einfach atemberaubend. Wer hätte gedacht, dass es so einfach sein kann, sein altes Leben fast komplett auszulöschen, indem man bloß die Sachen packt, die alte Handykarte in Stücke zerschneidet und in eine andere, weit entfernte Stadt zieht. Erinnerungen sind das Einzige, das bleibt und auch diese werden mit der Zeit verblassen.

Zudem muss ich mich auch nicht mehr mit dem Getümmel an Menschen rumschlagen, welches schon immer lästig gewesen ist. Stattdessen kann ich meine Nachmittage am Eagle Lake verbringen. Oder in unserem Garten. Was für mich noch viel besser erscheint, weil wir in New York all die Jahre in einem Apartment gewohnt haben. Und nun, da wir unser eigenes Haus besitzen, weiß ich gar nicht, wie ich es die ganze Zeit in einer Wohnung ausgehalten habe.

Es kommt mir beinahe stickig vor. Selbst bei dem bloßen Gedanken daran kann ich nicht das einengende Gefühl runterschlucken. Es ist als wären meine Hände an Gitterstäbe gefesselt, die sich niemals brechen lassen.

Vielleicht muss man aber erst jahrelang in einem goldenen Käfig gefangen sein, um zu merken, dass man daran fast zerbrochen ist, dass man nicht länger die Person ist, die man ursprünglich sein wollte.

»Abigail!«, höre ich eine mir allzu bekannte Stimme von der Veranda aus rufen.

Nora.

Ich schließe leicht lächelnd die Augen und werfe meinen Unterarm über meine Augen, um mich so vor meiner jüngeren Schwester abzuschirmen. Zumindest hoffe ich, dass sie mich noch für einen weiteren unendlich langen Augenblick in Frieden lässt. Zu meinem Bedauern jedoch scheint sie sich nicht darum zu kümmern, dass ich gerade einen Moment für mich brauche.

Denn schon einen Sekundenbruchteil später höre ich sie die vier Stufen zu mir herunterrennen. Ihre zierliche Figur ragt über mir auf und stellt sich genau zwischen mich und die Sonne. Seufz. Habe ich gerade gedacht, hier hätte ich endlich meine Ruhe? Jap. Eindeutig bin ich mit diesem Gedanken zu weit vorangeschritten.

»Wo bist du die ganze Zeit gewesen?«, fragt sie mich vorwurfsvoll, so, als hätte ich sie tagelang allein gelassen. Was beim längeren Nachdenken dazu führt, dass ich den Geistesblitz zu fassen bekomme, sie würde es nicht einmal bemerken, sollte ich sie tagelang allein lassen. Weil sie niemals allein sein würde.

Dabei sind es nur zwei Stunden gewesen, plus oder minus einige Minuten, die ich außerhalb von zu Hause verbracht habe. Nora scheint in diesem Augenblick Moms Aufgabe übernommen zu haben, mich und mein Leben kontrollieren zu wollen. Aber sie muss noch an ihrer Taktik schleifen, denn zu diesem Zeitpunkt muss sie noch jede Menge lernen – wenn sie auch die Kunst der Manipulation bereits gut gemeistert hat.

»Ich war laufen, Nora.« Langsam lasse ich meinen Unterarm auf den Rasen fallen und öffne meine Augen. »Was gibt es denn?«, möchte ich von ihr wissen, denn ich würde meiner Schwester, trotz ihrer eigenartigen Art, mir auf die Nerven zu gehen, immer zuhören und zur Hilfe eilen. Und ich wünsche mir, sie würde dasselbe für mich tun.

Nora steht mit verschränkten Armen über mir und beobachtet mich gründlich aus ihren hellblauen Augen, wobei sich einzelne schwarze Haarsträhnen aus ihrem Zopf gelöst haben und sanft ihr von Natur aus blasses Gesicht umranden.

»Naja, Dad und Wyatt sind in der Stadt und Mom ist im Garten beschäftigt.« Nun?

»Und du brauchst mich, weil ...?«

»Weil ich seit einer Ewigkeit Hunger habe und mir dachte, du könntest etwas zu Essen machen?«

Lachend verdrehe ich die Augen. Mir sollte von vornherein klar sein, dass sie mich nur aufgrund meiner hervorragenden Kochkünste ausnutzen will. Meine Schwester sieht mich mit ihrem liebevollsten Blick an, den sie imstande ist aufzubringen und ich kann nicht anders, als meinen kleinen magischen Moment hiermit zu beenden.

»Worauf hast du denn Lust?«, will ich seufzend wissen. Nora zuckt mit den Schultern, absolut selbstzufrieden und mit sprühenden Funken in den Augen, welche ich nicht so recht deuten kann. Dann setzt sie sich neben mich auf den Rasen. Sie trägt ein grünes Kleid, das im starken Kontrast zu meinen Joggingshorts und dem weißen Top steht, die nun an meinem verschwitzten Körper kleben. Nora ist schon immer die Prinzessin gewesen. Sie ist mit ihren elf Jahren ausgezeichnet kreativ und intelligent, aber sie ist kein kleines Bisschen selbstständig.

Das scheint die alleinige Schuld meiner Mom zu sein.

Immer wieder kommt das kleine Biest mit den verschiedensten Sachen davon. Alles, was es braucht, ist ein einziges Wimpernklimpern und ein hübsches, aufgesetztes Lächeln und Zack: jeder Wunsch wird ihr von den Augen abgelesen.

»Wie wäre es denn mit einem Sandwich?« Ich sehe sie von der Seite an und als Antwort kräuselt sie nur die Nase. Meine Kochkünste sind natürlich unter gar keinen Umständen hervorragend, weshalb die Auswahl stark beschränkt ist.

»Pancakes?«

»Nee. Vielleicht etwas, das kein Snack ist?« Ein Snack?

Baff sehe ich meine Schwester an, die ihr ordentliches Kleid zurechtstreicht und mit einem aufkommenden Lächeln kämpft. Man kann Pancakes oder Sandwiches doch kaum als Snacks bezeichnen, wenn sich die halbe Weltpopulation täglich davon ernährt und man es als Hauptspeise in einem Restaurant serviert bekommen kann ...

Ich meine erst jetzt die Funken in ihren hellen Augen deuten zu können. Belustigung. Verdammter Mist. Das kommt davon, wenn du es immer allen recht machen willst, höhnt eine Stimme in meinem Hinterkopf, der ich ausnahmsweise zustimme, dann machen sich sogar schon deine Geschwister darüber lustig. Dummes Mädchen. Immer sofort aufspringen, wenn jemand etwas von dir verlangt. Genau das hat dir so viel Ärger eingebracht – und das wird es auch weiterhin tun.

»Entspann dich, Abigail! Ich meinte das doch nicht ernst. Gar nichts davon«, sagt Nora und stupst mich mit der Schulter an. »Mila und Roxy werden gleich von ihrer Schwester zu uns gebracht, habe ich dir das nicht gestern gesagt?«

Womöglich, aber ich könnte es in diesem wirren Durcheinander der letzten zwei Tagen vergessen haben.

»Nein.« Unschuldig hebe ich eine Schulter in die Höhe.

»Naja, ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass ich es dir gesagt habe. Egal. Dad hat deshalb versprochen, uns eine Pizza mit Käse mitzubringen. Die Beste in ganz Bar Harbor.«

»Jetzt bin ich wirklich überrascht. Russel hat dir eine Pizza versprochen?« Noras Lächeln verschwindet ganz plötzlich, weit weg und davon, während ich innerlich mit den Augen rolle.

Ich kenne Russel, seit ich vier bin und er ist mir ungeheuer wichtig, aber er ist nicht mein Dad. Auch wenn er und meine Mom schon zwölf Jahre miteinander verheiratet sind und er Noras und Wyatts Dad und dazu ein toller und liebevoller Mensch ist, wird er meinen Dad nie ersetzen.

Mein Paps und ich haben ein gutes Verhältnis zueinander und ich könnte mir nicht einmal vorstellen, jemanden anderen als meinen Vater zu bezeichnen, außer ihn. Und das, obwohl wir uns nur einige Male im Jahr sehen, die ich allesamt an meinen Fingern abzählen kann. Trotzdem freue ich mich über jede Sekunde, die wir miteinander verbringen, jedes Telefonat, das wir führen und jede Nachricht, die wir einander senden. Es ist nicht perfekt, aber es genügt, weil ich weiß, wie sehr er mich liebt und dass das Leben eines Matrosen alles andere als einfach ist.

Paps tut all das für mich, für eine Zukunft – meine Zukunft.

»Dad hat mir tatsächlich eine Pizza versprochen und eine Diät Coke für uns alle«, gibt Nora, offenbar ziemlich gereizt, von sich. Sie scheint das Wort Dad regelrecht mit all ihrer Kraft gegen meinen Kopf schleudern zu wollen. Zu meinem Glück muss ich mir nichts von dem Duplikat meiner älteren Schwester eintrichtern lassen.

»Großartig. Vielleicht gibt es sogar Doppelkäse.«

»Es gibt Doppelkäse dazu, und Pepperoni. Mhm.« Bei dem Gedanken an die Pizza verdreht sie voller Vorfreude die Augen.

Meine Mom und Russel sind beide Ärzte, weshalb sie stark auf gesunde Ernährung achten – vor allem bei Nora und Wyatt, die am liebsten die ganze Zeit Fast Food in sich hineinstopfen würden. Deswegen nehme ich an, die Pizza soll eine Art Wiedergutmachung für die Kinder sein.

Ich dagegen muss mich an einen personalisierten, extrem strengen, von Mom erstellten, Ernährungsplan halten. Nicht nur, weil sie Ärztin ist.

»Cool. Und wie sind deine zwei neuen Freundinnen?«, lenke ich eifrig das Gespräch auf eine andere Bahn und ziehe meine Beine an, um sie mit meinen Armen zu umschlingen. Für Nora ist das wenig damenhaft, aber ich bin Eiskunstläuferin und Athletin, da ist mir Komfort am liebsten.

»Mila und Roxy sind Zwillinge, weißt du?« Bei dem Themenwechsel erhellt Nora plötzlich beinahe mehr als die Sonne, die über uns schweift. Zufrieden lege ich meinen Kopf nach links und beobachte sie, während sie mir von Mila und Roxy erzählt. Denn gleich an ihrem ersten Schultag haben die zwei Schwestern Nora in ihren Freundeskreis aufgenommen, unter ihre Fittiche sozusagen, und ihr sogar über die Hälfte der Grundschüler vorgestellt.

Wenn ich nur genauso viel Glück an meinem ersten Schultag gehabt hätte, wie meine strahlende Schwester. Die Neue zu sein, ist nicht gerade so, wie in berühmten amerikanischen Teenie-Filmen.

Vor allem nicht auf der Mount Desert Island, meiner neuen High-School.

Es sind einige Schüler auf mich zugekommen, das schon, und einmal habe ich mich sogar mit einem Mädchen länger als fünf Minuten unterhalten, aber sie hat mir nur meinen Stundenplan erklärt und musste dann wieder los.

Es ist insgesamt natürlich nicht schlecht gelaufen, aber ich würde zu weit gehen, sollte ich meine Versuche, neue Freundschaften zu knüpfen, als gut bezeichnen.

Ich schätze, in meiner inneren Zerrissenheit ist es im Allgemeinen schwer zu entscheiden, ob ich es genossen habe, für die anderen unsichtbar gewesen zu sein. Vielleicht wäre der Wunsch nach jemandem, der mich endlich beachten könnte, einfach zu viel.

Ist es ein Verbrechen, sich nach Normalität zu sehnen? Von anderen Menschen als ein ganz normales Mädchen angesehen zu werden, dem man auf dem Flur freundschaftlich zuwinken oder ein kleines »Hey« zurufen kann?

Wenigstens sind meine Lehrer in Ordnung und haben mir Auskunft über die Eislaufhalle gegeben. Auch wenn es nichts Neues gab, was sie mir darüber mitteilen konnten. Worüber ich mich insgeheim unglaublich freue, es lässt mich freier atmen als noch Nächte zuvor.

Für die Eiskunstläufer gibt es in der Stadt kein Trainingsprogramm, sondern lediglich für die Eishockeyspieler, die ziemlich weit oben in der Tabelle stehen. Aus diesem Grund hat sich meine Mom noch am Tag unserer Ankunft darum gekümmert, die Eishalle für mein Training zu buchen. Ich möchte lieber weiterhin in der Dunkelheit tapsen, als zu wissen, wie viel Geld sie monatlich dafür in den Wind schießen wird.

Sie würde mich für meine Gedanken tadeln, wenn sie nur Zugang zu ihnen hätte. Ein Glück nur, dass sie, was das angeht, nicht an den Fäden ziehen und in meinen Kopf schauen kann.

Jetzt muss ich mich fügen und die Möglichkeit beim Schopf packen, die meine Mutter mir auf einem goldenen Teller liefert.

Es ist eine gute Sache, einige Male in der Woche Zugang zu der Halle zu haben, bevor die Eishockeyspieler die Fläche für sich beanspruchen. So wird es zumindest für mich ablaufen, bis wir in der Nähe ein geeignetes Trainingsprogramm für mich finden.

Oder vielmehr bis meine Mom etwas passendes findet, und mich einfach anmeldet. Aber das ist mir dann doch viel lieber, als wieder so weiterzumachen wie vor vier Jahren.

Mom ist es bestimmt schon öfter durch den Kopf gegangen, mich wieder am Privatunterricht teilnehmen zu lassen. Ganz sicher werde ich jedoch nicht noch einmal den Fehler wagen und mir von ihr einen Privatlehrer aussuchen lassen.

Keineswegs.

Viel mehr mag ich es, in einer Gruppe aus mir unbekannten Gesichtern zu arbeiten, so, wie ich es seit ungefähr drei Jahren getan habe. Denn es ist viel einfacher, in der Menge unterzutauchen.

Und ich verbleibe viel lieber im Hintergrund als den Mittelpunkt der Show darzustellen. In der Vergangenheit und während den unzähligen, nicht enden wollenden Auftritten und Meisterschaften kann ich natürlich nicht behaupten, dass meine Taktik Erfolg genossen hat. Die Zeit der großen Auftritte, ob nun bloß in den Staaten oder weltweit, ist für mich nicht länger eine Option. Nicht nach meinen letzten Meisterschaften, nicht nachdem das Gewicht der goldenen Medaille mir den Atem geraubt hat, nicht nachdem Hände ...

Ich rudere mit meinen Gedanken ganz weit weg von dem, was mich früher in den Krallen gehalten hat. Stattdessen rufe ich mir in Erinnerung, dass ich von Glück sprechen kann, nicht länger an solchen Veranstaltungen teilnehmen zu müssen.

»Die zwei sind sehr nett zu mir und ich hoffe, dass wir für immer Freundinnen bleiben, Abigail«, beendet Nora, woraufhin ich zustimmend nicke.

Meine eigenen Vorwürfe, ihr nicht genauer zugehört zu haben, schiebe ich beiseite. Nichts liegt mir ferner als die Aussage meiner Schwester. So etwas wie Freundinnen für immer gibt es nicht. Ein Fehler und alles ist vorbei. Jahrelange Freundschaft wird plötzlich eine Illusion, ein Schleier fällt und man erkennt die Hässlichkeit, in dem, was einem früher die Welt bedeutet hat.

»Ich bin mir sicher, dass das der Fall sein wird«, entgegne ich, um ihretwillen hoffend, dass es für sie besser sein würde – in jeder Hinsicht.

»Ich sollte langsam reingehen und mich für das Abendessen fertigmachen, was?«

Meine Schwester sieht mich abschätzend an, zieht beide Augenbrauen in die Höhe und bringt nur ein halbherziges »Ja, wahrscheinlich solltest du das« heraus.

Grinsend strecke ich meine Zunge raus, was sie zum Glucksen bringt. Ich rapple mich auf, fahre Nora spielerisch durch den Zopf, woraufhin sie, die kleine Furie, kreischend nach mir schlägt, mich aber nicht trifft und gehe dann in Richtung des Hauses.

Unser neues Zuhause ist recht simpel und auch wenn die gelbe Fassadenfarbe nicht die Schönste ist, hat das Haus eine unbeschreibliche Wärme an sich. Die Bäume, die sich um das dreistöckiges Gebäude verteilen, sind unsere einzigen Nachbarn. Das nächste Haus liegt nämlich am anderen Ende der Straße und ist unserem ähnlich, aber nicht auf die Art, wie alles in New York gleichaussieht. Alles hier ist irgendwie anders, obwohl man es nicht auf den ersten Blick erkennen kann.

Gerade als ich an der Hollywoodschaukel vorbeigehe, höre ich Nora kreischen, Sekunden darauf das Zuschlagen von mehreren Autotüren. Sobald ich mich wieder umdrehe, sehe ich zwei rothaarige Mädchen auf meine Schwester zurennen und dann fallen die drei in eine kurze Umarmung.

Schmunzelnd lehne ich mich an die Brüstung. Aus dem Auto steigt die Schwester der Mädchen und zu meiner eigenen Überraschung kenne ich sie. Es ist das Mädchen, welches mir gestern mit meinem Stundenplan geholfen hat. Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns einander richtig vorgestellt haben, aber ich kann mich nicht an ihren Namen erinnern.

Verflucht!

Sie scheint genau dasselbe zu denken, denn in dem Moment, in dem sie mich in ihren Blickfeld auffängt, schleicht sich ein Grinsen auf ihre rotbemalten Lippen. Ihr Haar ist genauso feuerrot, wie das der Zwillinge und während die zwei kleinen, identischen Gestalten grüne Augen haben, glänzen die der Unbekannten in einem dunklen Blauton.

»Du bist die Mama?«, fragt sie, direkt an mich gerichtet. Sie trägt einen weißen Rock und ein Jeanshemd, was ziemlich niedlich aussehen würde, wenn man den pinken Killer-High-Heels keine Beachtung schenken würde.

Ich lache auf, könnte es aber theoretisch ganz anders auffassen. »Nein. Bist du es?«

Nora und die Zwillinge rennen an mir vorbei ins Haus, vermutlich damit meine Schwester ihnen ihr Zimmer zeigen kann. Indessen mache ich mich auf den Weg, um die rothaarige, fast Fremde, auf halber Strecke zu unserem Haus zu begrüßen.

Sie macht gespielt große Augen und sieht an mir vorbei zu der Haustür, die die Kleinen gerade passiert haben.

»Um Gotteswillen, nein. Auf gar keinen Fall.«

Wir sehen uns an und fangen gleichzeitig an zu lachen. Ich strecke höflich die Hand nach ihr aus, um mich vorzustellen, auch wenn mir ganz eindeutig bewusst ist, dass solch eine Begrüßung nicht mehr gängig ist. Vor allem bei uns Jugendlichen. Eine warme Hand ergreift mit einem festen Druck die Meine.

»Wir hatten gestern nicht wirklich die Gelegenheit gehabt. Ich bin Abigail«, stelle ich mich vor.

Sie drückt meine Hand und ein Grinsen zieht sich von einem Mundwinkel bis zum anderen. »Hey. Stimmt. Ich bin Melanie, aber du kannst mich natürlich Mel nennen, Abi.«

Bisher hat mich noch nie jemand Abi genannt, immer nur Abigail oder bei meinem zweiten Namen, Willow.

Nicht einmal meine Freunde in New York haben mich Abi genannt, dabei ist es mir eigentlich auch nie wirklich wichtig vorgekommen, einen Spitznamen zu haben. Ist es jetzt ebenso wenig.

»Freut mich, dich offiziell kennenzulernen, Mel.«

»Die Freude ist ganz meinerseits, Abi. Wie gefällt dir Bar Harbor bisher?«

»Bisher? Es ist ganz schön. So ganz anders als New York.«

»Ich hoffe doch, das meinst du im positiven Sinn, oder?«

Ich nicke. In einem sehr positiven Sinn sogar. »Natürlich. Der einzige Nachteil ist, niemanden in solch einer kleinen Stadt zu kennen«, beteuere ich schnell.

Mel legt einen blau lackierten Fingernagel an ihr Kinn und sieht mich verwirrt an.

»Du hast doch mich! Zumindest jetzt.« Sie sieht mich hoffnungsvoll an und ich weiß, dass wir uns hervorragend verstehen werden. Mel ist mir vom ersten Moment an sympathisch.

»Jetzt, ja. Zu meinem Glück, wie?« Mel lacht und nickt bekräftigend.

»Aber sicher doch!«, stimmt sie zu, aber dann wird ihre Miene etwas ernster. »Ich hatte eigentlich nicht vor, dich einfach mit deinem Stundenplan allein zu lassen. Ich bin eigentlich das Begrüßungskomitee unserer Schule, du weißt schon, für den seltenen Fall, dass jemand hierhin zieht.« Sie grinst leicht, woraufhin auch meine Lippen nach oben zucken.

»Du bist also das offizielle Begrüßungskomitee der Mount Desert?«

Melanie nickt. »Inoffiziell. Und ich habe in meiner Aufgabe total versagt. Ich schwöre dir, mein Leben hing auf dem Spiel und wäre ich noch eine Sekunde länger geblieben, um mit dir zu plaudern, wäre ich heute nicht mehr hier. Meine Freundin Kaylee hat Geburtstag und sie schmeißt immer eine Party«, erklärt sie, die Hände abwehrend in die Höhe gehoben. Meine Augenbrauen ziehen sich belustigt zusammen.

»Mir scheint es ein passabler Grund, die neue Schülerin vollkommen verwirrt und ahnungslos mitten auf dem Gang zurückzulassen«, witzle ich. »Deine Freundin feiert ihren Geburtstag also mitten in der Woche?«

»Okay. Moment.« Mel beugt sich zu mir vor, als würde sie mir gleich eines ihrer größten Geheimnisse anvertrauen. »Du hast in New York gelebt, Prinzessin. Steigt da nicht, keine Ahnung, jeden Tag in der Woche eine Party?«

Ich sehe in ihre großen Augen, die wie ein Ozean glänzen. »Nicht jeden Tag. Und um deine nächste Frage vorwegzunehmen: Die Partys sind um Welten nicht so glamourös, wie in Gossip Girl.« Vor allem, wenn man sich aus der Wohnung schleichen muss, um dort überhaupt aufzutauchen. Um den Sieg einer Person zu feiern, die mich mittlerweile genauso hassen muss, wie alle anderen, die mich einst gekannt haben.

»Finde ich jetzt sauschade, aber wir sind ja in Bar Harbor, so leid es mir auch tut.« Sie lacht kopfschüttelnd in sich hinein, dann richtet Melanie sich wieder auf. Ihr blumiger Duft steigt mir in die Nase und erinnert mich an die frischen Tage im Frühling.

»Jedenfalls: Wir mussten in unseren Freistunden noch unzählige Einkäufe in Kaylees Haus bringen. Ich meine, sie kann schlecht ihre Haushälterin darum bitten, mehrere Kästen Bier zu besorgen. Die arme Jane. Oh, und ich habe dich in der Mittagspause gesucht. Keine Ahnung, wo du da warst. Ist aber auch völlig schnuppe. Ich finde es großartig, dass wir uns hier begegnen.«

»Ach ja?«

»Ja natürlich, Abi. Ich glaube, man kann sich schon denken, worauf ich hinauswill. Ich habe die perfekte Lösung, meinen Fehler geradezubiegen: Du kommst heute Abend auf die Geburtstagsparty. Es ist einfach die perfekte Gelegenheit, dass du neue Leute kennenlernst, inklusive meiner großartigen Persönlichkeit, und wir lernen dich kennen. Unsere neue Mitschülerin. Kaylee wird sich auch freuen, es war ihre Idee, um ehrlich zu sein. So etwas wie eine Geburtstags- und Willkommensparty in einem. Ergo: Eine Hand wäscht die andere, meine Liebe. Die halbe Schule wird da sein, großartig, nicht wahr!«

Oh? Damit habe ich tatsächlich nicht gerechnet, zumal weder Melanie noch Kaylee mich kennen. Das ist auch Sinn der ganzen Sache.

Aber eine Party?

Mitten in der Woche?

Eigentlich habe ich nichts einzuwenden, doch das bedeutet keinesfalls dasselbe für meine Mom. Ich stelle mir schon ihre Predigt darüber vor, wie es war, als sie siebzehn war. Keine Partys, kein Alkohol, keine Drogen und keine Jungs. In New York ist es einfacher gewesen, sich aus dem Apartment rauszuschleichen. Denn auch wenn das Haus groß ist, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie von meinem nächtlichen Ausflug Wind bekommt, genauso groß. Ich möchte sie nicht verärgern, weil sie mich, gerade für ihre Verhältnisse, in Ruhe lässt.

Als Melanie meinen nicht besonders überzeugten Gesichtsausdruck bemerkt, zieht sie einen übertriebenen Schmollmund. »Oh, nein. Abi«, seufzt sie theatralisch.

Sie schlendert einen Schritt auf mich zu und sieht mich hoffnungsvoll an, faltet die Hände wie zu einem Gebet aneinander.

»Wenn du mir jetzt sagen wirst, dass du nicht der Typ für Partys bist, oder du sie total bescheuert und abscheulich findest, so können wir keine Freundinnen werden. Denn, meine Liebe, ich, für meinen Teil, lebe für Partys. Und das liegt nicht am Alkohol, den sie dort Minderjährigen servieren.«

Abgesehen davon, dass ich nicht wirklich die Möglichkeit hatte, für Partys zu leben, finde ich sie ganz in Ordnung. Selbst die, die ich nicht wirklich aus freiem Willen besucht habe.

Das letzte Mal, dass ich auf einer Party gewesen bin, und meine Mom davon gewusst hat, liegt schon eine ganze Weile zurück. Es war eine verfluchte Schulparty, mit Lehrern und Kinderpunch. Und einer Menge Geflüster.

Was macht sie denn hier? Wieso hat er sie mitgebracht? Ist Rhett vollkommen bescheuert?

Ich wundere mich, welche Lügen sie ihm auftischt. Diese –

»Das ist es nicht. Ich mag Partys. Da geht es eher um meine Mom«, erkläre ich kleinlaut, während ich die Hände in die Hüfte stemme.

Mels Miene hellt sich augenblicklich wieder auf und ein verräterischer Funken umgibt ihre hell leuchtenden Augen.

»Damit können wir umgehen, Süße. Wir minimalisieren unsere Party nur auf ein Treffen unter Freunden.«

»Ich weiß nicht so recht, Mel. Meine Mom kann manchmal besser sein als ein Lügendetektor«, meine ich, nicht wirklich von der Idee, sie anzulügen, überzeugt.

Nicht, wenn gerade alles gut läuft und sich das Universum ausnahmsweise für und nicht gegen mich entscheidet.

Manchmal bin ich der Meinung, meine Mom hat sich den falschen Beruf ausgesucht. Sie passt mehr zum FBI als in die Kinderchirurgie.

»Sie hat doch keinen Grund, dir nicht zu vertrauen.« Da wäre ich mir nicht so sicher. »Und mir. Meinem engelsgleichen Gesicht wird sie nichts abschlagen können. Dafür würde ich mein Erstgeborenes verwetten.«

»Oh Gott, bitte tu das nicht.«

»Ist sie einfach so streng, oder hast du in New York die Grenze überschritten?«

Mel nimmt mich noch einmal genauestens unter die Lupe.

»Du siehst mir jedenfalls nicht nach einem bösen Mädchen aus.«

Ich schlucke und bringe ein Lächeln zustande. »Das ist eine äußerst nette Bemerkung. Aber: Meine Mom ist einfach so streng. Ich soll ihrem Beispiel folgen und so ein Zeug eben.«

Und das stimmt wortwörtlich. »Was die Party angeht, Mel ... Ich weiß nicht, ob wir an der Wahrheit herumschrauben sollten.«

»Wir haben aber keine andere Wahl! Nun sehe zu und lerne.« Mit diesen Worten spaziert der rothaarige Teufel in den pinkfarbenen Killer-High-Heels an mir vorbei in Richtung unserer Veranda. Verdutzt folge ich ihrem Beispiel, nur, um meine Mom rauskommen zu sehen.

Was für ein großartiges Gespür für die Zeit.

»Hi, Mrs. Dawson! Ich bin Melanie, Milas und Roxys ältere Schwester.« Meine Mom wischt ihre Hand an ihrer Jeans ab und schüttelt meiner neuen Freundin die Hand.

Dabei versucht sie mit der anderen ihr blondes Haar zurechtzurücken. Und obwohl ich den dunkelblonden Schopf meiner Mom geerbt habe, komme ich mit meinen haselnussbraunen Augen und den scharfen Gesichtszügen ganz nach meinem Dad.

»Hallo, Melanie. Schön dich kennenzulernen. Ihr zwei kennt euch?«, fragt Mom, die zwischen uns beiden hin- und herschaut und als Mel und ich gleichzeitig nicken, fängt Mom an, breit zu lächeln.

»Wir haben uns gestern in der Schule kennengelernt, Mrs.«

»Davon hast du gestern beim Abendessen nichts erzählt, Liebling« Ich höre die Beschwerde in ihrem Ton und verziehe mein Gesicht zu einer entschuldigenden Miene.

Gestern beim Abendessen habe ich nicht viel zu erzählen gehabt und ich wollte meiner Mom nicht unbedingt sagen, dass ich an meinem ersten Tag wenig Erfolg hatte, neue Freunde zu finden.

Das hätte ihr nur zu schaffen gemacht, was ich auf keinen Fall wollte. »Es war ein anstrengender Tag und ich schätze, ich habe vergessen, es zu erwähnen«, versuche ich ihr, so entspannt wie möglich, zu erklären.

Mom sieht mich einen Augenblick lang prüfend an, fast schon nach der Lüge suchend, schüttelt dann aber den Kopf und kaschiert ihre aufkommenden Zweifel mit einem leichten Lächeln. Neben mir ertönt ein empörtes Schnauben. »Du hast vergessen, mich zu erwähnen?« Melanie sieht kein Bisschen verletzt aus, tut aber so, als hätte ich ihr den Boden unter den Füßen weggezogen.

»Es war ein langer Tag, Melanie.«

Mel macht eine abfällige Handbewegung und wendet sich an meine Mom. »Schrecklich, Abi. Aber du kannst es wieder gut machen.«

Meine Mom lacht verschmitzt.

»Kann ich?«

»Ja. Einige Freunde treffen sich heute bei Kaylee, um ihren Geburtstag zu feiern und du kommst mit mir.«

Auch wenn ich Kaylee nicht kenne und meine Mom das nicht weiß, sieht sie nicht überzeugt aus, als ich meinen Blick zu ihr wandern lasse, um ihre Reaktion zu sehen.

Hoffentlich bemerkt sie nicht, wie angestrengt ich versuche, meine Maske aufrechtzuerhalten. »Ich weiß nicht recht, Mel.« Absichtlich zögere ich, was meine Mom zum Wackeln bringt.

»Wie viele Freunde?«, fragt Mom an Melanie gerichtet. Diese scheint einen Moment lang zu überlegen, obwohl ich ganz genau weiß, dass sie das nicht tut. Ihre einzig wahre Antwort wäre die halbe Schule und damit wäre meine Mom unter gar keinen Umständen einverstanden.

»Es werden ungefähr sechs Leute kommen, Abigail und mich ausgenommen. Das Treffen wird nicht länger als bis kurz nach Mitternacht gehen, weil Kaylees Eltern dann nach Hause kommen und wir wollen sowieso nur zwei Filme schauen«, klärt Mel entspannt auf. Mom runzelt die Stirn und ich sehe ihr an, wie sie die Pros und Contras in ihren Gedanken mit Vorsicht abwägt.

Während Mel meine Mom hoffnungsvoll ansieht, weiß ich innerlich, wie ihre Antwort lauten wird. Tut mir wirklich leid, aber das geht nicht.

Doch als meine Mom ihren Mund öffnet, um uns eine Antwort zu geben, überrascht sie mich völlig.

»Na gut, geh ruhig, Abigail. Aber –« Sie hebt die Hand, um ihre Bedingungen aufzuzählen. »Erstens: Du bist um halb eins spätestens zu Hause«, sagt sie, ihre Stimme so ruhig wie der heutige Wind und hebt indessen den ersten Finger in die Höhe. Der nächste folgt direkt.

»Und zweitens: Du trinkst keinen Alkohol. Ist das ein Deal?«

Lächelnd nicke ich und kann meine Freude nicht mehr zurückhalten. Ich schmeiße mich in ihre Arme und drücke sie an mich. »Versprochen, Mom! Danke.«

Hinter uns kreischt Melanie, die sich wahrscheinlich noch mehr darüber freut als ich selbst. »Wenn du magst, kann ich dich kurz vor acht zu Hause abholen«, schlägt sie vor, sobald ich mich von meiner Mom gelöst habe. Ich schüttle den Kopf und deute mit dem Daumen auf die Garage. »Danke, aber ich nehme mein Auto. Falls ich früher nach Hause möchte oder so.«

»Uh huh, das wird nicht der Fall sein.«

Das hoffe ich zumindest. Ich möchte, dass meine erste richtige Party – ohne Lehrer, ihn und meine Vergangenheit – keine Katastrophe wird. Und so, wie Melanie mich ansieht, ein stummes Versprechen in ihren blauen Augen, verfliegt auch ein Teil meiner Unsicherheit. Der heutige Abend wird schön werden, ich werde neue Freunde in der Stadt kennenlernen und so leben, wie ich in New York nie leben konnte.

Mit echten Freunden an meiner Seite. Ohne das Geflüster. Ohne Aufpasser.

»Ich nehme das als ein Versprechen. Aber ich möchte trotzdem mit meinem Auto fahren. So kann sich meine Mom sicher sein, dass ich nüchtern nach Hause komme.«

Verspielt, trotzdem innerlich etwas zurückhaltend, sehe ich meine Mom von der Seite an. Ich hoffe, dass sie es sich nicht doch auf einmal anders überlegt und mich wieder zu Hause einsperrt. Ich würde es nicht noch einmal aushalten, in dieser perfekten Blase voller Sorge und Mitleid, wie in einem goldenen Käfig eingeschlossen zu sein.

Abgeschirmt vor der Außenwelt, das machend, zu dem ich bestimmt bin.

Eislaufen.

Rennen und Tanzen. Dinge, die mir bis vor vier Jahren unheimlich Spaß gemacht haben – Dinge, die ich ihr zuliebe geliebt habe.

Jetzt sind sie nur eine Routine, bedeuten nichts.

»Ich wäre beruhigt zu wissen, dass du dich an unseren Deal hältst. Alles andere ist in Ordnung und wenn du mit Melanie fahren möchtest, bitte, Liebling«, meint sie um einen beruhigten Ton bemüht, dabei weiß ich, dass sie mit sich selbst zu kämpfen hat.

Sie verliert die Kontrolle, und vielleicht wird es ihr in diesem Moment klar. Die Sorge und Angst mischen sich gleichermaßen in ihre wunderschönen Gesichtszüge und lassen sie älter aussehen, als sie eigentlich ist.

Ich verstehe sie, kenne aber die Wahrheit hinter ihrer Fassade und den ungesagten Worten zwischen uns. Ein Stich durchzuckt mich bei dem Bild, welches vor meinem inneren Auge auftaucht.

Es schmerzt. So sehr.

Aber ich kann mich nicht für immer verstecken und von ihr in einen Kokon umhüllen lassen. Nie wieder. Nie wieder wird das passieren, was vor vier Jahren nicht hätte passieren sollen.

»Ist schon in Ordnung. Mel, du schickst mir einfach die Adresse zu und wir treffen uns bei Kaylee. Ich habe ehrlicherweise so ein Gefühl, wir würden zusammen viel zu spät kommen.« Mit einem sanften Stupser entlocke ich meiner Mom ein leichtes, schon etwas weniger besorgtes Grinsen.

Melanie zuckt mit den Schultern. Die Unschuld in Person. »Das stimmt wohl. Ich liebe es, mich hübsch zu machen. Für alles, sogar fürs Schlafen.«

Mom und ich brechen in Gelächter aus und Melanie stimmt mit ein.

»Möchtest du zum Mittagessen bleiben, Melanie?«, höre ich Mom neben mir fragen. Russel muss wohl eine große Bestellung gemacht haben, wenn Mom sogar meine neue Freundin einladen möchte.

Anders gedacht, isst Nora für ihr Alter schon ziemlich viel – vor allem, wenn es mal Fast Food gibt.

Meine neue Freundin schüttelt den Kopf.

»Das würde ich gerne, aber wir haben zu Hause zwei Hunde und die können nicht allzu lange allein im Haus bleiben. Sie würden die Wände niederreißen und meine Eltern sind erst gegen fünf wieder daheim«, antwortet sie aufrichtig. Mom kaut nicht länger darauf herum, sondern verabschiedet sich von Melanie mit der Ausrede, sie müsse im Garten weiterarbeiten.

Als sie die Tür hinter sich zuzieht, fangen Melanie und ich wie auf Knopfdruck an zu kreischen.

»Du miese Lügnerin!«, lache ich. »Wo warst du mein ganzes Leben lang?«

Sie betrachtet ihre Fingernägel ganz und gar zufrieden und stemmt eine Hand in die Hüfte, als würde sie einen Applaus von mir erwarten.

Und den würde sie bekommen, wenn meine Mom uns nicht von der Küche aus beobachten würde.

»Hier und da, meine liebste Freundin. Aber es hat sich gelohnt, oder?« Ich nicke. »Gib mir mal bitte dein Handy«, sage ich zu Mel, die daraufhin einen Knopf an ihrem Hemd öffnet und dann ihre Hand in ihren BH steckt, um mir letztlich ihr Handy zu übergeben.

»Praktisch«, kommentiere ich zufrieden. Schnell tippe ich meine Handynummer ein und gebe ihr das Handy zurück, das sie sofort wieder verstaut.

»Man muss sich das Leben einfacher machen und ich gebe nicht allzu gerne Geld für Taschen aus. Wozu habe ich sonst so große Brüste?«

»Oh Gott, Mel!« Lachend rolle ich mit den Augen. »Jetzt weiß ich endlich, wie ich Geld sparen kann.«

Lässig mustert sich mich von oben bis unten. »Ja, kann man machen«, brummt sie, nur, um dann mit einem riesigen Lächeln ihre strahlenden Zähne zu entblößen.

»Du bist unmöglich, aber ich mag dich. Verrückt und gestört machen insgesamt bescheuert.«

»Ne.«

»Was denn sonst?«

»Wahnsinnig übergeschnappt?«, überlegt sie laut. »Ich habe einmal auf einer Party so einen Junkie getroffen, der mir so komische Dinge erzählt hat ... Oh Gott, ich hoffe, er taucht heute nicht auf magische Weise auf. Hast du gewusst, dass Drogen in den Niederlanden –«

Ich reiße auf ihre Worte hin meine braunen Augen auf, was sie abrupt zum Schweigen bringt. Von einem Moment auf den anderen wirble ich schnell herum, um nachzusehen, ob meine Mom noch am Fenster hockt. Gott sei Dank tut sie es nicht, denn wäre dies der Fall und hätte sie das eben gehört, wäre das mit heute Abend mit einem fetten roten Stift durchgestrichen worden. Scheiße.

Ich brauche wirklich das Gefühl, wieder frei zu sein. So dringend. Melanie legt plötzlich eine Hand um meine Schulter und läuft mit mir bis zu ihrem Auto. »Natürlich sind auf Kaylees Party keine Junkies oder so eingeladen«, verspricht sie mir. Ihre Stimme klingt dabei jedoch alles andere als überzeugend. Sie kommen einfach gerne uneingeladen auf die Partys, scheinen ihre unausgesprochenen Worte um uns herum zu schwirren wie kleine Teilchen in der Luft.

Letztendlich ist sie nicht diejenigen, die Einfluss darauf hat, wer auf die Party kommt und wer nicht.

Was ich schon jetzt feststellen kann, ist, dass Mel ganz anders ist als meine ehemaligen Freunde aus New York. Sie sind alle so ruhig gewesen, hatten nicht einmal ihre eigene Meinung und mochten einen Menschen nie wirklich aufrichtig von Herzen. Dabei war nicht anders zu erwarten, bei Kindern, die reicher waren als manche es sich zu träumen wagen. Ich bereue es deshalb, je auf eine Privatschule gegangen zu sein. Jetzt muss ich lernen, im Umgang mit echten, wirklich lebenden Menschen, nicht sofort in Panik zu verfallen.

Das würde alles zerstören.

Die perfekte Maske, die mir vom Schicksal praktisch mit Gewalt in die Hände aufgezwungen worden ist. Damit ich überlebe.

»Ich weiß«, erwidere ich. Sie öffnet das Auto, drückt mich einmal eng und ziemlich unerwartet an sich und schlüpft dann hinters Steuer. Daraufhin kurbelt sie das Fenster herunter und verabschiedet sich von mir, ehe sie aus der Einfahrt biegt und mir noch einmal hinterherruft, ich solle mir etwas Schönes anziehen, weil sie endlich etwas Konkurrenz gebrauchen könnte.

Mit einem breiten Lächeln im Gesicht mache ich mich auf den Weg zurück ins Haus.

Ich kann die wachsenden Glücksgefühle kaum aufhalten, die sich um mein Herz herumschleichen.

Denn der Gedanke, soeben jemanden gefunden zu haben, der mich einfach so, ohne irgendwelche Hintergedanken aufrichtig mögen könnte, ist überaus überwältigend. Berauschender ist aber die Hoffnung, dass ich mit diesem Neuanfang mein altes Leben, die Vergangenheit und den Schmerz endlich zurücklassen könnte.

Für immer. 

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top