30% Nimmer

Die Blümchen und der Gnom mit ihnen sind verschwunden. Kein Licht, da ist nichts, einfach gar nichts. Auch nicht als ich etwas in die Hocke gehe, die Arme vor mir ausgestreckt und so sportlich wie selten in meinem Leben. Diese korrekte Körperhaltung, viel mehr um alle Äste von mir fernzuhalten, die mich schon wieder ins Gesicht schlagen könnten. Wie das brennt. Die Augen tränen mir, was auch an der aufkommenden Müdigkeit und Erschöpfung liegt. Wenn man so lange durchs Dunkel läuft verliert man zwar jegliches Gefühl für die Zeit, aber es war eindeutig lang, wirklich lang.
Ich laufe gebückt weiter, eine Hand schützend vor mein Gesicht gelegt, eine ausgestreckt und verfluche die Wolken, welche jegliches Mondlicht zurück halten. So kann ich nicht einmal richtige Schemen in der Dunkelheit erkennen, noch... .
Klatsch. Ich komme nicht einmal zum Schreien, so plötzlich ist da kein Boden mehr unter mir, gerade als die Bäume lichter werden. Und weswegen sie lichter werden begreife ich spätestens, als sich das Wasser nass über meinem Kopf schließt. Mein Schrei verlässt in Blasen meinen Mund, ich reiße die Augen auf und sehe nichts als Schwärze um mich herum. Hastig tauche ich auf, versuche ans Ufer zu schwimmen, mich irgendwie zu orientieren. Alleine der Gedanke in diesem schwarzen Loch noch eine Sekunde länger zu sein lässt mich beinahe panisch werden. Jeder der in Nimmerland aufgewachsen ist oder zumindest eine Zeit lang überlebt hat, weiß, dass man niemals, wirklich niemals, darauf vertrauen sollte, dass in einem Teich oder einer Pfütze nichts auf einen lauern könnte.
Und dann scheinen mir zwei Blumen den Weg. Direkt am Ufer steht der Gnom, die Mundwinkel nach oben verzogen, was wie ein Grinsen aussieht, auch wenn man diesen Wesen keine wirkliche Mimik zuschreiben kann. Sein Lachen war ja auch nur am Geräusch erkennbar. Und gerade als ich fluchend und ausspuckend bei ihm ankomme, immerhin ist das kein Salzwasser. Aber daraus trinken würde ich nun auch nicht mehr, nachdem ich da drin war. Wirklich nicht und das soll nicht meine Minderwertigkeitskomplexe spiegeln. Aber ich bin einfach schmutzig. War schmutzig, bis ich in das Wasser geklatscht bin. Immerhin fühlt es sich nicht schlammig an.
Links und rechts stemme ich mich am Ufer ab, schiebe meinen Oberkörper langsam aus dem Wasser und spüre bereits, wie meine Arme heftig anfangen zu zittern. Bevor ich es mit der Körpermitte hinaus schaffe rutsche ich auf dem schlammigen Untergrund ab, knalle mit dem Kinn auf den Boden und rutsche zurück ins Wasser.
Erneut geht es in das ewige, stille Nichts. Dunkelheit, mein Herz wummert, der ganze Körper scheint zu vibrieren. Nur das Geräusch der Blasen. Dass ich wohl etwas weggetreten bin merke ich daran, dass mir der Sauerstoff ausgegangen ist. Meine Lunge verkrampft sich ganz plötzlich, ich schrecke auf, will nach oben und würde wohl einen Schrei entlassen, hätte ich noch irgendetwas das diesen Schrei formen könnte, als mich etwas am Bein berührt. Es steigen nicht einmal Blasen auf, ich trete nach dem Ding, breche durch die Wasseroberfläche und doch verändert sich mein Sichtfeld nicht. Keuchend ziehe ich die Luft in meine Lunge und versuche gleichzeitig völlig außer mir ans Ufer zu kommen. Es könnte auch ein Fisch sein, ein kleiner, der einem gar nichts tut oder ein kleiner mit riesigen Zähnen. Es könnte auch ein großer sein, der einem nichts tut oder doch. Oder ein Krokodil oder ein Wal oder ein Wurm oder... und wieder stemme ich mich hoch, als etwas eindeutig meinen Knöchel festhält. Mittlerweile ist auch wieder genug Luft in meiner Lunge um zu schreien, was ich nicht für möglich gehalten hätte, da ich der Ansicht bin kurz vorm Ersticken zu stehen.
Da hält mich etwas am Fuß fest und ich Kreische am Spieß, trete blind um mich. Der Gnom läuft im Kreis, die Blumen flattern hinter ihm im Wind, was ich sogar irgendwie lustig finde. Fände, würde mich da nichts festhalten. Ein Ruck, ich halte mich an allem fest, was ich irgendwie erreichen kann und nicht nachgibt. Wieder ziehe ich mich ein Stück heraus, über den schlammigen Boden. Ein weiterer Ruck, ich habe mich gerade etwas hochgestemmt und den gleichen Fehler wie zuvor begangen.
Du Idiot, schießt es mir durch den Kopf, als ich wieder unter Wasser bin und mein Kinn sich taub vom Rest meines Körpers zu lösen scheint. Elender Idiot. Kaum dass ich mich von dem stechenden Schmerz erholt habe, wieder etwas orientieren kann, fange ich an völlig panisch um mich zu treten. Nur ist da nichts mehr. Der Druck auf meinen Ohren gefällt mir dafür recht wenig. Zwei große Armzüge, ich kann die Wasseroberfläche nicht ausmachen, sie nicht spüren und der Druck scheint mein Zwerchfell zerreißen zu wollen. Ich muss tief unten sein. Wieder entkommen mir Blasen, kribbeln auf meiner überreizten Haut und ich fange panisch an in irgendeine Richtung zu schwimmen. Ich weiß nicht einmal ob das nach oben ist, aber es kommt mir vor, als würde es immer heller werden.
Das wird es auch tatsächlich, verschwommen vor mir erkenne ich etwas das leuchtet. Ein kühles, bläuliches Licht und darin ein dunkler, länglicher Schatten mit einer enormen Flosse. Und dann bewegte es sich, schnell, sogar sehr schnell und ich lege eine Vollbremsung rein, was unter Wasser schwierig ist, um dann panisch zurück zu schwimmen.
Und wie ich wieder um mich trete, als es mir näher kommt und immer größer wird. Der Fisch ist mindestens so groß wie ich oder größer. Kommt mir größer vor. Und dann schießt es an mir vorbei, nicht mich quasi mit und ich werde herum gewirbelt im Wasser. Mir wird schwindelig, die Luft geht mir aus und wieder verkrampft sich meine Lunge. Und dann sehe ich das Wesen wieder vor mir, wie es Schleifen zieht, eine lange Kurve, als würde es mich umkreisen und ich hänge völlig starr da.
Wenn es mich frisst ersticke ich immerhin nicht. Das ist doch der grausamere Tod, zumindest kommt es mir so vor, als sich meine Lunge immer mehr verkrampft und selbst mein Brustkorb sich stockend mitbewegt. Es tut weh.
Ich unternehmen einen letzten Versuch nach oben zu kommen, sehe den letzten Blasen zu, wie sie meinen Mund verlassen und in dem fahlen Licht des Geschöpfes sehe ich, dass ich tatsächlich nicht kopfüber bin. Ein paar kümmerliche Armbewegungen, ich komme nach oben, sehe aus dem Augenwinkel wie mir der Fisch folgt, näher kommt und ich die Zähne weiter zusammen beiße. Ein Brennen erfüllt meinen ganzen Körper, er verkrampft sich und immer öfter wird es dunkel. Ich fange an das Bewusstsein zu verlieren. Meine Hals, reflexartig öffne ich den Mund, versuche Luft zu holen, wo es nur Wasser geht und schlucke dieses haufenweise. Mein Körper krampft wieder, dieses Mal wie ein Husten, aber es kommt immer noch mehr Wasser nach.
Als ich die Augen wieder öffne, meine Lider flatternd nach oben gehen, realisiere ich, dass ich nicht mehr schwimme. Ich schwebe im Nichts, aber da ist dieses Licht, das mich blendet und einfach nicht zur Ruhe kommen lässt. Mir fallen die Augen zu oder sie müssen zugegangen sein, da sie plötzlich ein Stück aufgehen, als ich etwas an meinem Gesicht spüre. Ich kann nichts erkennen, meine Lider heben sich nicht weit genug, es ist nur ein Lichtschimmer, direkt vor mir. Man soll ja bekanntlich nicht ins Licht am Ende des Tunnels gehen, aber mir ist so danach, es sieht aber auch so schön aus.
Etwas berührt mich, erst zaghaft, streicht mir über die Wangen und dann spüre ich einen Kuss. Es muss ein Kuss sein und ich versuche mich zu entziehen. Als dann aber der erste Sauerstoff in meinen Mund gelangt halte ich inne, lasse den eisernen Griff zu und sauge die Luft in mich.
Es löst sich von mir, ich reiße die Augen auf, versuche die Arme auszustrecken, es zu fassen zu bekommen. Mir ist gerade knutschen Luft eingeflößt worden und das Wasser anscheinend abgesaugt. Wie auch immer. Darüber will ich nicht weiter nachdenken, bin aber auch nicht in der Lage mich großartig zu bewegen. Mein Körper scheint noch schlaff, sich damit abgefunden zu haben einfach so zu sterben, dafür wird mein Verstand langsam wieder wacher.
Eine Schwanzflosse sehe ich noch, aber auch diese schiebt sich aus meinem Gesichtsfeld und es bleibt nur noch dieser blaue, unheimliche Schimmer. Wie in Zeitlupe schwebt es von oben hinab, das perfekte Gesicht und die langen, bläulichen Haare. Sie sieht mich aus diesen leuchtenden Augen an und ich zucke zurück, was im Wasser sicherlich affig aussieht, da ich mich einfach gar nicht vom Fleck bewege. Eine Meerjungfrau. Selbst bei mir ist das angekommen und als mich diese wieder küsst, ist mir das alles nur noch... unangenehmer. Luft. Ja. Gut.
Aber das ist mir doch etwas viel Nähe, außerdem müsste sie mir ja gar keinen Sauerstoff geben, wenn sie mich nicht nach unten gezogen hätte. Warum auch immer sie das getan hat. Und dann fallen mir all die Horrorgeschichten und der Seemannsgarn wieder ein. Meerjungfrauen. Wunderschöne, perfekte Geschöpfe, man verfällt ihnen, folgt ihnen selbst ins Wasser und dann ziehen sie einen in die Tiefe und fressen sich an dir satt. Mir wird recht unbehaglich, ich weiß nicht, ob ich mich rühren soll und fühle mich wirklich wesentlich besser nach dieser erneuten Ladung Sauerstoff.
Das Wesen schwebt vor mir, die langen, bläulichen Haare schweben um sie herum, als wären sie selbst auch lebendig und dann öffnet das Wesen die vollen Lippen. Die Zähne beunruhigen mich enorm, eine spitze, alles zerfleischende Reihe, aber es folgt das wohl schönste, dass ich jemals gehört habe. Gesang, man kann es beinahe nicht so nennen. Es klingt, als würde es vom Himmel kommen, zerreißt mein Herz und würde mir wohl Tränen in die Augen treiben, wenn ich nicht schon von Wasser umgeben wäre. Die Sprache verstehe ich nicht, kann mir nichts daraus erschließen und sehe die Frau einfach nur an. Ihr Leib glänzt, die Haut ist milchig, bläulich und unterhalb ihres Bauchnabels beginnen sporadisch Schuppen ihren Körper zu bedecken. Sie funkeln und Glitzern, das Licht scheint von ihnen noch stärker auszugehen und werden nach unten hin immer dichter, bis sie in eine große Flosse übergehen. Und dann fällt mein Blick auf die langen Ohren, falls man das so nennen kann. Sie selbst bewegen sich, heben und senken sich, bis mir klar wird, dass das Loch, dieses dunkle, kleine Loch das Ohr ist und diese langen, sich hebenden Hautlappen Kiemen darstellen. Durch diese atmet sie unter Wasser.
Fasziniert und auch etwas angeekelt starre ich diese an, zucke zusammen, als sie sich mir wieder nähert und erneut meinem Gesicht nahe kommt. Ihre Lippen auf meinen, ich atme erleichtert ein und nehme mir fest vor, dass das eindeutig das letzte Mal war. Vielleicht hält sie mich auch für einen Mann, da wäre sie nicht die Erste. Unangenehm berührt beobachte ich, wie sie etwas zurück schwimmt und dann plötzlich lächelt. Sie singt wieder etwas, aber ich kann es nicht hören, es geht im Wasser einfach unter. Und dann schwimmt sie nach oben, ich folge reflexartig, ohne groß darüber nachzudenken. Je höher wir kommen, desto heller wird es und was ich erst für Sonnenlicht gehalten habe, entpuppt sich schnell als... als... . Der See leuchtet. Nicht das Wasser selbst, sondern die Pflanzen, die uns umgeben. Ihr Licht ist grünlicher, aber tatsächlich, sie leuchten. Als wäre meine Anwesenheit einfach so angenommen worden.
Keuchend breche ich durch die Wasseroberfläche, schnappe nach Luft und sehe mich fasziniert um, mir das Wasser aus dem Augen reiben. Von oben scheint reflektiert und spiegelt sich das Licht, bricht sich in den Wellen und wirkt seltsam lebendig. Am Ufer selbst sind die Grashalme, die bis hinab ins Wasser reichen, ebenfalls nun in grünes Licht gehüllt. Dazwischen tun sich Blüten auf, recken langsam die Hälse nach oben und ihre Blätter öffnen sich. Rot, gelb und weiß leuchtet es um mich herum und lediglich mein Keuchen scheint diese Idylle völlig zu zerstören. Ich drehe mich um mich selbst, versuche das alles in mich aufzusaugen, zu begreifen und bewundere Tatsächlich auch diese Schönheit.
Dann lässt mich das Rascheln, die plötzliche Bewegung im Gras zusammen zucken. Die Meerjungfrau habe ich beinahe vergessen, als sich der erste Wicht zum Wasser schiebt. Er hat einen so für diese Art bekannten Spitzhut auf, eine lange, knollige Nase, große, runde Ohren und der Bart geht hinab bis zu den Füßen. Er überragt den Gnom um eine Handbreite, mustert diesen und zieht dann an einem Blatt, sodass sich dieses ihm entgegen beugt und Wasser in seinen Mund tröpfelt. Weitere Wesen folgen, solche die ausgestorben sein sollten, auch welche die ich noch nie gesehen habe.
Als wäre dieses Wasserloch ihre neue Heimat, der letzte Notanker. Neben mir ist ein Plätschern zu hören, ich fahre herum und sehe in die Augen der Meerjungfrau. Sie ist bis zur Nase aufgetaucht und mustert mich. Es ist die Gleiche, keine andere und ich frage mich, wie sie hier gelandet ist. Es scheint ein Teich, vielleicht hat er ein Loch, aber eigentlich ist die Meerjungfrauenbucht Salzwasser. Ob ihr der Unterschied etwas ausmacht? Sie kann hier doch nicht selbstständig gelandet sein?
Zumindest stelle ich mir das schwierig vor und genieße diesen Abstand, welchen sie zu mir hält. Immerhin hat sie mich noch nicht aufgeschlitzt und angefressen, außerdem hab ich jetzt keinen Durst mehr. Da kann man beinahe vergessen, dass man vor wenigen Minuten beinahe ertrunken wäre und von dem Wesen gerettet wurde, dass einem das ganze eingebrockt hat.
Langsam, wirklich langsam bewege ich mich zurück zum Ufer, lasse dabei die Meerjungfrau nicht aus den Augen und überlege, ob sie mich wieder runter zieht, wenn ich versuche rauszukommen. Aber sie wirkt recht friedlich, bis auf diese Zähne und die große Schwanzflosse beunruhigt sie mich ja auch nicht. Sie selbst schenkt mir recht viel Aufmerksamkeit, zieht ihre Bahnen, kommt mal näher und entfernt sich wieder ein Stück. Schließlich ist sie nahe am Ufer angekommen, legt die Arme darauf ab und ich beobachte, wie sie die Hand nach dem Gnom ausstreckt. Eben dieser zuckt nicht einmal zusammen, hebt die Blumen ihr entgegen, nun beide in einer Hand und zeigt immer wieder zu mir. Die Meerjungfrau stupst ihm mit dem Finger auf die Nase, hat den Mund wieder geöffnet, doch statt einem Singen folgen rasselnde Laute. Der Zauber scheint über dem Wasser verflogen zu sein, zumindest der von ihrer Stimme.
Jetzt wird mir auch klar woher er die glühenden Blumen hat, ich habe bis dato keine dieser Blumen irgendwo gesehen, außer eben an diesem See. Schwerfällig halte ich mich am Ufer fest, mir tut alles weh, wirklich alles und ich bin mir sicher, dass ich einfach so im Wasser einschlafen würde. Langsam nur hebe ich den Kopf, sehe vor mir in die Dunkelheit und direkt in das Gesicht eines Spink. Und diese Geschöpfe kann ich noch weniger leiden als Meerjungfrauen und Gnome.
Das hat auch einen ganz einfach Grund. Der Spink sitzt völlig starr da, sieht wie der Gnom aus wie aus Stein gemeißelt, die Schnauze, Hörner und langen Zähne lassen ihn dabei einer Miniaturbestie ähneln. Das mit dem starrsitzen haben die auch wirklich drauf, sodass jeder einfach annimmt, dass es sich dabei um eine Statue oder eben einen Wasserspeier handelt. Und dann, wenn man an nichts Böses denkt, spucken sie einem ins Gesicht.
Bevor ich zurück weichen oder untertauchen kann trifft mich ein Schwall Spucke. Angeekelt sehe ich das Wesen an, wische mir über das Gesicht und ziehe mich ein Stück am Ufer entlang. Einfach weg von dem elenden Spink, der gackernde Laute von sich gibt, wie ein Huhn. So einfach zufrieden zu stellen. Ich putze mir das Gesicht, bin immerhin so fit, dass ich es schaffe mich aus dem Wasser ans Land zu ziehen. Sofort ist der Gnom neben mir, gibt diese Laute von sich, die er eben von sich gibt und wuselt vor meinem Gesicht herum. Die Blumen fliegen ihm hinterher, wippen bei jedem Schritt und mir fallen immer Öfter die Augen zu. Ich will sterben.
Nein, ich will nicht sterben.
Ich will einfach nur schlafen.
Für immer.
Das wäre nett.

~

Taumelnd trifft mein Körper auf den Stamm, der Tag neigt sich dem Ende hin, die Sonne steht bereits tief und die Wolkenfront hat sich immer mehr genähert. Der Wind hat zugenommen und die Kälte schlägt mir wie eine Wand direkt ins Gesicht, schneidet in meine Haut. Kurz sehe ich mich orientierungslos um, weiß nicht genau wo ich bin und realisiere, dass ich sehr abwesend gewesen sein muss. Vor wenigen Augenblicken war doch noch Mittag und plötzlich ist es Nachmittag. Es muss so um die fünf Uhr sein, um diese Jahreszeit verschwindet die Sonne sehr früh. Wo sind die letzten drei bis vier Stunden hin verschwunden?
Fröstelnd ziehe ich den Mantel noch etwas enger um mich und tue die letzten Schritte aus dem dichten Wald hinaus. Vor mir erstreckt sich eine lange Ebene, überzogen von ergrautem Gras, direkt vor mir, hinter der Wolkenwand nur zu erahnen, ein riesiger Berg. Er wirkt unglaublich nahe, aber muss viele Meilen entfernt sein. Müde blinzle ich, mein Magen rumort, die Übelkeit hält an, ich brauche etwas zu essen. Weit ab von der Straße aber irgendjemanden zu finden ist doch eine Wunschvorstellung. Den Pfad habe ich lange wieder verlassen, er ist irgendwann in die falsche Richtung abgebogen, zumindest nehme ich das an. Dass es tatsächlich eine falsche Richtung gibt.
Meine Füße brennen und pochen bei jedem weiteren Schritt, ich zögere, sehe mich um, zurück zum Wald und denke kurz darüber nach, ob es so schlau ist mich auf der offenen Ebene der Kälte auszusetzen. Völlig schutzlos, nur wenige Bäume ragen verstreut auf. Der nächste Waldabschnitt ist nur verschwommen zu erkennen und trotzdem überwinde ich mich, gehe weiter. Es ist dumm, es ist ziemlich sicher falsch, aber es fühlt sich richtig an. Hart reißt der Wind an mir, bläht den Mantel auf, fährt unter meine Kleidung und innerhalb kürzester Zeit ist auch der Rest Wärme einfach aus mir verschwunden. Es bleibt die eisige Kälte, den Blick gerade aus, welcher ab und zu hinauf zu der verhangenen Spitze des Bergs wandert. Weiß schimmert diese, ist aber ansonsten meist völlig von den Wolken verhangen.
Der Boden ist hart unter meinen Füßen, es muss hier schon in der Nacht zuvor sehr kalt gewesen sein und er fängt gerade wieder an zu gefrieren. So unnachgiebig ist der Weg durch das unebene Gelände sehr schwer. Ich knicke oft ab, trete in Löcher, rutsche und merke, dass der Wald, das Gelände dahinter und vor allem der Berg einfach nicht näher kommen. Die Distanz muss riesig sein, rechts und links von mir Ebene, Landschaft. Keine Zivilisation ist zu erkennen, auch wenn ich mir sicher bin, dass es in Tälern und Nischen, gebückt zwischen Bäumen, sicherlich Dörfer oder einzelne Häuser gibt. Ich kann sie nur nicht sehen.
Die Ruhe, welche mich zuvor erfasst hatte und mich taub und blind für alles gemacht hat, ist beinahe verschwunden. Seit ich den Berg gesehen habe ist da dieser Drang, am liebsten würde ich rennen, reiße mich aber zusammen. Er ist viel zu weit entfernt. Ein heißeres Lachen, ich zucke zusammen, realisiere, dass ich dieses schon länger höre und kann es doch nicht zuordnen. Und dann wird mir klar dass ich das selbst bin. Ich lache mich aus und die absurde Idee, dass dieser kalte, tote Fels die Antwort sein könnte. Welche Antwort, ich weiß ja noch nicht einmal die Frage.
Es wird immer dunkler und dunkler, bis ich schließlich nichts mehr sehe. Der Mond hält sich hinter den Wolken versteckt, lässt diese kalt und fahl leuchten. Der erste Schnee peitscht mir entgegen, meine Lippen zittern wie verrückt, werden immer trockener und das verzweifelte darüber Lecken macht sie nur noch wunder. Mein Kinn schmerzt, als hätte ich es mir mehrfach angeschlagen. Da ist eine Lücke. Nicht eine halbe Stunde, wie zuvor oder dass ich vom Rausch weggetreten war. Einfach ein Blackout, ich weiß von mehreren Stunden nicht mehr, was ich gemacht habe. Wieder lache ich höhnisch, stapfe weiter und schüttle den Kopf.
„Du bist armselig", höre ich mich selbst, knicke mit dem Fuß ab, verliere das Gleichgewicht und schlage hart auf den Boden.
Mir presst es die Luft aus der Lunge, ich atme aus und versuche gleichzeitig einzuatmen. Röchle, verschlucke mich und huste. Mir wird übel und irgendwie schaffe ich es mich auf den Rücken zu wälzen. Zitternd schaffe ich es Übelkeit und Schmerzen zu verdrängen, endlich wieder zu atmen. Mein Brustkorb tut weh, zieht und verkrampft sich, aber nach einiger Zeit wird es besser. Mittlerweile ist es stockdunkel, meine Glieder sind eiskalt und ich bin versucht einfach so liegen zu bleiben.
Schlussendlich stemme ich mich hoch, weiß, dass ich so erfriere. Vielleicht ist das etwas übertrieben, aber riskieren werde ich es nicht. Ich bin vielleicht verrückt, aber nicht lebensmüde. Die Welt dreht sich, ich spüre dass mein Kreislauf voll am Spinnen ist und schaffe es gerade so auf den Beinen zu bleiben. Dann geht es weiter, wesentlich langsamer als zuvor, auf jeden Schritt achtend und den zunehmenden Schneefall ignorierend. Meine Füße sind völlig taub, die dünnen Schuhe sind nicht unbedingt ideal für diese Wanderung, aber ich hatte auch nicht damit gerechnet, dass ich so etwas tun würde. Wer denkt das schon? Wer nimmt schon an, wenn er gewöhnlich wie immer aufsteht, dass sie plötzlich das eigene Leben völlig ändert? Das kalkuliert doch keiner ein, wenn er sich morgens anzieht. Aber alleine Jims Gesichtsausdruck war das ganze schon wert.
Amüsiert lache ich auf. Meine Stimme wird vom Wind mitgerissen. Was tue ich hier eigentlich? Ich stolpere weiter, der plötzliche Enthusiasmus hat etwas geholfen, aber jeder Schritt wird schwerer und schwerer. Ich taumle, rutsche wieder ab und falle auf meine Knie, die sofort protestierend schmerzen und ich wegen des plötzlichen, stechenden Schmerzes aufschreie.
Und mein leerer Magen scheint mich zu töten. Mein ganzer Körper.
Ein Knattern und Brummen dringt an mein Ohr, orientierungslos sehe ich mich um, schreibe die Geräuschquelle erst meiner Übermüdung zu, aber sie wird immer lauter. Und dann biegt um einen kleinen Hügel ein Auto. Die Scheinwerfer blenden mich, stechen in den Augen und ich will die Hand heben, sie davor abschirmen. Aber als einziges bekomme ich es hin die Schulter zu zucken, mehr regt sich da nicht. Der Wagen hält auf mich zu, der Motor stottert und es dringt irgendein alter Bluessong bis zu mir.
Er nähert sich und nähert sich, die Scheinwerfer erhellen immer mehr die Umgebung und langsam wird mir bewusst, dass er wirklich direkt auf mich zuhält. Ja und dann sehe ich nach unten und realisiere, wieso der Sturz ebenso dermaßen wehgetan hat. Ich bin auf eine Straße gekracht, muss wohl bei der Erhöhung am Rand abgerutscht sein. Obwohl sie an vielen Stellen Löcher hat und wirklich schäbig aussieht, ist der Asphalt nicht weniger hart als neuer und tot nicht weniger weh.
Die Musik wird lauter, die Lichter fallen wieder einmal kurz aus und ich reiße die Augen auf. Oh verdammt. Der Lichtkegel ist nicht gerade groß und dadurch, dass die Lichter des Öfteren den Geist aufgeben, ist das nicht unbedingt minder gefährlich für mich. Ich stütze mich ab, versuche hochzukommen, schaffe es aber nicht. Das Auto nähert sich immer noch gemütlich, fährt in ein Schlagloch und quietscht wie verrückt. Ich nehme etwas Schwung, komme aber nicht wirklich hoch und gehe wieder auf die Knie.
Meine Glieder fühlen sich taub an, als könnte ich sie nicht richtig bewegen. Als hätte man sie mir abgenommen oder sie wären ein Fremdkörper, den ich nicht beherrschen kann. Wieder hole ich Schwung, der Wagen ist nur noch wenige Meter entfernt und dann schaffe ich es, rolle zur Seite an den Straßenrand und das Auto fährt an mir vorbei. Keuchend bleibe ich auf dem Rücken liegen, sehe hoch zu Himmel und wie sich alles um mich herum rot verfärbt. Die Bremsen quietschen laut, ich will deswegen zusammen zucken, schaffe es aber nicht. Diese Kälte, es ist so entsetzlich kalt.
Schnee rieselt mir ins Gesicht, auf den nackten Hals und ich kann meinem Atem zusehen, wie er in Wölkchen den Mund verlässt. Eine Autotür wird zugeschlagen, schnelle Schritte und dann schiebt sich ein dunkler Schatten über mich.
Eine Frau, die Haare sind weiß und zu einem groben Dutt zusammen gefasst. Einige Strähnen haben sich gelöst und hängen hinab. Fasziniert strecke ich die Finger danach aus, hebe die Hand ein Stück, nach welcher sie greift. „Geht es Ihnen gut? Ist alles in Ordnung? Was tun Sie denn hier?", redet sie auf mich ein. Ihre Stimme klingt alt, gebraucht, ist etwas heißer und rau. Sie klingt nach einem langen Leben, vielem Lachen, herzlich und warm. Dafür ist die Berührung ihrer Hand heiß, wirklich heiß. Ich zucke zusammen, realisiere, dass sie mich hochzieht und es tatsächlich hinbekommt, mich zu stützen, sodass ich stehen bleibe.
Sie ist kleiner als ich, das ist nicht weiter schwer, da die meisten Frauen kleiner sind als ich. Vielleicht bin ich auch einfach sehr groß für eine Frau. „Junger Mann, können Sie mich hören? Hallo? Sie sind eiskalt", spricht sie weiter und wir tun ein paar Schritte, immer den roten Lichtern entgegen. Ich kann meine Füße kaum bewegen, sie hängen einfach an mir hinab und meine Zehen kann ich auch nicht bewegen.
Woher sie die Kraft nimmt... aber ich bin auch recht leicht und nach den zwei Tagen ohne wirklich etwas zu Essen wohl noch ein Stück leichter. Am Auto angekommen werde ich gegen dieses gelehnt und sehe ihr zu, wie sie die Tür aufmacht. Ich schätze sie auf Ende 50, ihr Gesicht hat tiefe Falten, die Klamotten sind altmodisch, aber irgendwie auch wieder nicht. Eine ausgeblichene Jeans, dicke Winterjacke, Schal und Lederstiefel, so sind die Leute hier in der Gegend schon vor über 30 Jahren rumgelaufen. Kurz treffen sich unsere Blicke, ich bin so abwesend, dass ich nicht einmal etwas erwidern kann, als sie mich scharf ansieht. Sie scheint abzuwägen wie gefährlich ich bin, was ich nicht bin, würde ich einfach einmal so dreist behaupten. Aber sie hält mich auch für einen Mann, was die ganze Situation wahrscheinlich nicht besser macht.
Dann löst sie sich aus ihrer Starre, gerade als ich denke, dass ich einfach so zur Seite wegrutsche, umfalle, wie ein Stein. Sie legt sich meinen Arm um die Schulter, stemmt mich etwas hoch und zieht mich hin zur Fahrertür. Die Wärme im Auto kommt mir bereits entgegen und brennt auf meiner Haut, so wie jede Berührung von ihr. Irgendwie schafft sie es mich in den Wagen zu verschaffen, ohne dass ich mir den Kopf anschlage und hebt meine Füße hinein, da ich diese nicht mehr anheben kann.
Sie mustert mich noch einmal, beugt sich dabei leicht vor und schnallt mich tatsächlich an. Ein Klaps auf die kalte Wange, ich spüre es nicht einmal, merke nur, dass sich mein Kopf etwas bewegt. „Wach bleiben", weist sie mich an, wirft die Tür zu und umrundet das Fahrzeug.
Der Motor röhrt und gluckst, als sie ihn erneut startet, sofort fängt die Heizung an wie wild warme Luft auszustoßen und sie dreht diese sogar noch etwas höher. Ihre besorgten Blicke registriere ich, merke, dass mein Körper nach einiger Zeit wieder etwas wärmer wird, aber dadurch werden auch die Schmerzen nur noch deutlicher. Und meine Hände und Füße tun grässlich weh. Wir habe kein weiteres Wort miteinander gewechselt, ich habe ohnehin noch nichts zu ihr gesagt, sondern starre einfach nur gerade aus durch die Scheibe.
Auch mein Magen macht sich wieder bemerkbar, knurrt und gluckst vor sich hin. Ich zucke zusammen, als sie sich plötzlich bewegt, vorbeugt und das Handschuhfach an meinen Füßen aufmacht. Nach wie vor kann ich diese nicht wirklich bewegen und lasse es zu, dass sie diese etwas zur Seite schieben. Sie holt eine Thermoskanne heraus und legt mir diese auf den Schoß. „Da ist noch warmer Tee drin. Wie lange waren Sie denn da draußen? Haben Sie sich verlaufen?", fragt sie und ich öffne die Lippen, versuche etwas heraus zu bekommen. Aber es kommt nichts. Ich lege meine Hände auf die Thermoskanne, spüre aber nicht wirklich etwas, noch kann ich richtig zugreifen, um den Deckel abzudrehen. Immer wieder rutsche ich ab, habe einfach keine Kraft dazu.
Sie bemerkt das, nimmt mir wieder die Kanne ab, klemmt sie zwischen die Beine und öffnet diese ohne große Mühe mit einer Hand. „Können sie das halten?", gibt sie mir den Becher in die Hand, welchen ich tatsächlich mit einiger Mühe und beiden Händen gerade halte, als sie diesen bis zur Hälfte befüllt. Das Getränk dampft nicht einmal, aber als ich den ersten, vorsichtigen Schluck nehme verbrennt es mir die Zunge. Mein Mund scheint in Flammen zu stehen und ich Schlucke hastig, was nicht die beste Idee ist. Mein Magen brennt, mir wird unglaublich heiß und zittern hechle ich, bis es sich beruhigt. Vor dem nächsten Schluck puste ich darüber, nippe vorsichtiger und es wird besser und besser. Meine Lippen sind so aufgesprungen, dass sie jede Feuchtigkeit quasi aufsaugen.
„Danke", krächze ich und bekomme einen eigentümlichen Seitenblick. „Sie sind ja eine Frau", stellt sie fest und ich nicke schwerfällig. Ein Schlagloch und der wenige Tee, welcher noch in dem Becher war, läuft mir über die Hände und scheint mir die Haut zu verbrennen. Ich komme nicht einmal wirklich dazu diese abzutrocknen, da wir ganz plötzlich langsamer werden. Das Auto biegt nach rechts ab, fährt um eine kleine Baumgruppe herum und dann taucht ein kleines, aber heimelig wirkendes Häuschen auf. Es brennen keine Lichter, aber etwas Rauch steigt aus dem Kamin auf.
Wieder schlägt Autotür, kaum dass die Motorengeräusche verstorben sind. Schritte auf Kies, meine Tür wird geöffnet und sie hilft mir aus dem Wagen und das Stück bis zur Tür. Das Laufen funktioniert nicht besser als zuvor, ich kann meine Zehen auch immer noch nicht bewegen. „Ich lasse Ihnen ein heißes Bad ein, sie sind völlig unterkühlt. Hätte ich sie nicht gefunden...", beginnt sie, lässt aber den Rest des Satzes offen, kaum dass ich auf einem Stuhl in der kleinen, aus warmem Holz bestehenden Küche abgesetzt worden bin. Ja, dann wäre ich wahrscheinlich tot.
Die große Wanduhr direkt über der Küchenzeile zeigt ein Uhr in der Früh und dann wird das Ticken von dem Rauschen des Wassers gedämpft. Und doch bleibt es trotzdem beständig in meinem Ohr, Tick Tock Tick Tock Tick Tock. Die Küche verschwimmt, die Augenlider werden schwerer und ich sitze zusammen gesunken in der Küche, registriere, dass mir einfach nicht warm werden will. Nur kurz etwas die Augen ausruhen, nur kurz.


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top