Kapitel 4
Ich schlug, immer noch müde, die Augen auf und seufzte. Der Platz neben mir im Bett war kalt. Marius war bereits auf der Arbeit. Sein Wecker weckte mich schon lange nicht mehr, und selbst wenn, vergaß ich es im Halbschlaf sofort wieder.
Langsam quälte ich mich aus dem Bett und zog mir ein T-Shirt und eine Jogginghose über, dazu ein Paar pinke Kuschelsocken.
In meiner alltäglichen „Uniform" schlurfte ich die wenigen Schritte zu meinem Schreibtisch, wo mein Arbeitslaptop bereits seit gestern Abend aufgebaut war.
Während der Laptop hochfuhr, überlegte ich, ob ich mir erst einen Kaffee machen sollte. Doch ehe ich mich entschied, loggte ich mich blitzschnell ein und öffnete mein Mail-Programm. Schließlich konnte ich beides kombinieren. Vorsichtig nahm ich den Laptop vom Tisch und machte mich auf den Weg zur Kaffeemaschine, während ich die erste Mail las.
Die Weihnachtsfeier würde dieses Jahr in einem italienischen Restaurant stattfinden, damit es auch viele vegetarische und vegane Optionen gäbe. Davor war ein Besuch auf dem Weihnachtsmarkt geplant – auf Kosten des Hauses.
Ich überflog das Datum und überlegte, ob ich dafür wirklich ein Wochenende mit Marius opfern wollte. Nach kurzem Nachdenken klickte ich trotzdem auf „Teilnehmen".
Es war ohnehin immer ich, die die Zugfahrten auf sich nahm, nie umgekehrt. Die Besuche blieben fast immer an mir hängen. Marius kam höchstens zwei Mal im Jahr zu mir und meinen Eltern, während ich fast jede Woche zu ihm fuhr.
Dass ich noch zu Hause wohnte, machte die Situation nicht einfacher. Die Wohnungslage und mein Gehalt ließen ein eigenes Apartment wenig sinnvoll erscheinen, also sparte ich mein Geld und genoss das Privileg von gutem, hausgemachtem Essen. Aber manchmal fühlte ich mich dadurch erst recht eingesperrt. Zweisamkeit mit Marius gab es bei mir zu Hause kaum, und die wöchentlichen Fahrten zu ihm gingen mir mehr und mehr auf die Nerven.
Während die Kaffeemaschine langsam vor sich hin brummte und der Duft von frisch gebrühtem Kaffee die kleine Küche erfüllte, stellte ich den Laptop auf die zu enge Arbeitsfläche und klickte mich durch meine Projekte.
Zum Glück war alles Wichtige in Ordnung. Die Software meines Lieblingskunden lief einwandfrei: keine Bugs, keine Serverausfälle, keine Beschwerden. Auch an meinem Code hatte niemand herumgepfuscht.
Erleichtert klickte ich mich weiter zu den anderen Projekten und entdeckte prompt einige Fehler. Es sah so aus, als hätte ich doch mehr zu tun, als ich gehofft hatte.
Mit meinem frisch gebrühten Kaffee in der Hand, einem Schuss Milch aus dem Kühlschrank, schnappte ich mir den Laptop und machte es mir wieder an meinem Schreibtisch bequem.
Die nächsten vier Stunden hackte ich konzentriert auf meinem Laptop herum, um die aufgetretenen Probleme zu lösen. Stück für Stück beseitigte ich die Bugs – wie mit einer elektrischen Fliegenklatsche. Als ich die maximale Stundenzahl meiner Arbeitswoche erreicht hatte, lehnte ich mich erleichtert zurück.
Die Probleme waren gelöst, und ich hatte mir eine Pause mehr als verdient.
Ich schlug den Laptop zu nachdem ich mich abgemeldet hatte und öffnete meinen eigenen Laptop.
Ich überlegte nicht lange und öffnete MPP und las den Chat durch.
"MPP du hattest mir nicht die Mail generiert, du hast diese nicht generiert." schrieb ich und runzelte die Stirn. Normal sollten solche Fehler Passiert.
MPP antwortete nach einer kurzen Pause: „Das ist ungewöhnlich. Die Erinnerungsfunktion sollte zuverlässig arbeiten. Lass mich die Logs prüfen."
Ich beobachtete die blinkenden Punkte im Chatfenster, die signalisierten, dass MPP „nachdachte". Es war fast komisch, wie menschlich diese kleinen Animationen wirkten, obwohl ich genau wusste, dass es nur ein Timer war, der mir die Illusion gab, MPP würde wirklich in Echtzeit arbeiten.
„Hier ist das Problem", schrieb MPP schließlich. „Die Mail wurde vorbereitet, aber ich habe die Erinnerung an dich nicht ausgelöst. Es tut mir leid, Eva. Das lag an einer Priorisierung des wöchentlichen Wartungsplans, die ich gestern Abend durchgeführt habe. Ich hätte deine Aufgabe höher einstufen müssen."
Ich seufzte. „Und jetzt?" tippte ich zurück.
„Die Mail ist bereits fertig. Soll ich sie jetzt senden?"
Einen Moment lang starrte ich auf den Bildschirm. Es wäre so einfach, es MPP einfach erledigen zu lassen. Nussbaum würde eine präzise, höflich formulierte Nachricht erhalten, die ihn an seine unprofessionelle Haltung erinnerte – und das ohne die emotionale Aufladung, die ich in meinen Worten niemals hätte vermeiden können.
Aber war es das, was ich wollte?
„Zeig mir die Mail", schrieb ich zurück.
MPP öffnete ein neues Fenster, und der Text der Nachricht erschien:
Betreff: Anliegen zu einer Situation in der Vorlesung von Prof. Nussbaum
Sehr geehrter Herr Professor Frick,
ich hoffe, diese Nachricht erreicht Sie wohlbehalten. Ich wende mich an Sie, um eine Situation anzusprechen, die sich heute Vormittag in der Vorlesung von Herrn Professor Nussbaum ereignet hat und die ich für unangemessen halte.
Während der Vorlesung wurde ich von Herrn Professor Nussbaum vor der gesamten Gruppe angesprochen, nachdem ich einen Moment aus dem Fenster geschaut hatte. Seine Bemerkungen und die nachfolgende Konfrontation empfand ich als persönlich herabwürdigend und nicht im Einklang mit einem respektvollen Umgangston, der im akademischen Kontext selbstverständlich sein sollte.
Mir ist bewusst, dass Konzentration und Beteiligung in einem Kurs wichtig sind, und ich nehme meine Studien sehr ernst. Dennoch erwarte ich, wie sicher alle Studierenden, dass Meinungen oder Verhaltensweisen, die möglicherweise nicht in das individuelle Bild eines Dozenten passen, nicht Anlass zu öffentlicher Bloßstellung werden.
Ich hoffe, dass es möglich ist, diese Thematik in einem angemessenen Rahmen anzusprechen, um sicherzustellen, dass Studierende in einem unterstützenden und respektvollen Umfeld lernen können.
Vielen Dank für Ihre Zeit und Ihre Unterstützung. Ich stehe Ihnen gern für ein Gespräch oder weitere Klärungen zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Eva Wilm
Ich las die Zeilen mehrmals durch. Sie waren nüchtern, höflich und dennoch ein Schlag ins Gesicht für jemanden wie Nussbaum.
„Gut formuliert", schrieb ich zurück. „Aber wenn du es sendest, wird er wissen, dass es von mir kommt."
„Das ist korrekt", antwortete MPP. „Aber vielleicht ist das nicht schlimm. Oder möchtest du es umformulieren?"
Ich überlegte. Die Mail war perfekt. Trotzdem fühlte ich, wie die Unsicherheit in mir aufstieg. Ich hatte es Nussbaum in der Vorlesung schon deutlich gezeigt, dass ich mich nicht unterkriegen ließ. Würde eine weitere Konfrontation wirklich etwas bringen?
„Warte", schrieb ich schließlich. „Ich will noch etwas hinzufügen."
MPP fügte sofort ein Bearbeitungsfeld hinzu, und ich begann zu tippen:
... Fragen zur Fairness und Professionalität Ihrer Lehrmethoden aufkommen, ihrer Dozenten.
Ich möchte betonen, dass ich stets bereit bin, über diese Situation in einem persönlichen Gespräch zu sprechen, falls Sie dies für nötig erachten. Kommunikation ist der Schlüssel, um Missverständnisse zu vermeiden.
Mit freundlichen Grüßen
Eva Wilm
Ich überprüfte den Text noch einmal, atmete tief durch und schrieb: „Okay. Jetzt kannst du es senden."
„Bist du sicher?" fragte MPP.
Ich hielt inne. War ich sicher? Schließlich nickte ich, fast automatisch. „Ja. Schick es ab."
„Verstanden. Mail wurde gesendet."
Ein eigenartiges Gefühl durchzog mich, als die Nachricht übermittelt wurde. Es war keine Angst, sondern etwas anderes eine Mischung aus Erleichterung und Anspannung.
„Danke, MPP", schrieb ich.
„Immer gern. Und falls du dich entspannen möchtest – soll ich dir eine Playlist empfehlen?"
Ich lächelte schwach. MPP wusste genau, wie er die Stimmung auflockern konnte. „Später vielleicht", schrieb ich zurück und klappte den Laptop zu.
Jetzt gab es kein Zurück mehr. Die Karten waren auf dem Tisch.
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