Kapitel 3
„Endstation, wir bitten alle Fahrgäste auszusteigen", tönte eine computergenerierte Stimme aus den Lautsprechern.
Langsam richtete ich mich von meinem Sitz auf. Es würde ohnehin noch ein paar Minuten dauern, bis der Zug wirklich zum Stehen kam. Mit einem Seufzen steckte ich mein Handy in die Jackentasche und ging zur Tür. Die lange Fahrt hatte mich träge gemacht, und meine Beine fühlten sich schwer an, fast wie aus Blei.
Draußen zog die Landschaft vorbei – ein verwischtes Gemälde im letzten Licht des Tages. Die Farben verblassten, und die Dämmerung verschluckte allmählich die Konturen. Der Zug wurde langsamer, und vor den Fenstern tauchten die ersten verschwommenen Lichter der Stadt auf. Sie funkelten wie kleine Sterne, verschwommen durch das Glas und die Dunkelheit.
Ungeduldig wippte ich von einem Fuß auf den anderen, während ich auf den Knopf an der Tür starrte. Als er endlich von Rot auf Grün sprang, drückte ich ihn und schob mich durch die sich öffnende Tür. Die kalte Abendluft schlug mir entgegen, scharf und beißend, und ich zog instinktiv meine Jacke fester um mich.
Ich stieg die Treppe vom Bahnsteig hinunter und steuerte auf die Radstation zu. Obwohl es erst kurz nach 19 Uhr war, lag die Dunkelheit schwer über der Stadt. Der frühe Winterabend machte mich unruhig, und ich warf immer wieder Blicke über die Schulter.
Vor der Radstation stand eine große Gestalt, halb verborgen im Schatten des Eingangs. Mein Herz begann schneller zu schlagen, und ich beschleunigte meine Schritte. Als ich näher kam, erkannte ich die Umrisse von zwei Fahrrädern, die die Gestalt hielt.
„Hallo", sagte Marius und wandte sich zu mir.
Mit beiden Fahrrädern in der Hand trat er ins Licht einer Laterne, und ich atmete erleichtert auf. Sein verschmitztes Lächeln durchbrach die Dunkelheit wie ein alter Freund, den ich schon ewig kannte.
„Hi", sagte ich und nahm mein Fahrrad aus seiner Hand. „Ich hoffe, du musstest nicht zu lange warten."
„Für dich warte ich immer gern." Er grinste, und seine hellblauen Augen funkelten im schwachen Licht.
Unter der dunkelblauen Kapuze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte, lugten blonde Haare hervor, zerzaust vom Wind. Marius beugte sich leicht zu mir hinunter und drückte mir einen Kuss auf die Lippen. Sein Bart kitzelte dabei, und ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.
Als er sich zurücklehnte, fiel mein Blick wieder in seine Augen. Ich hatte nie verstanden, wie jemand sagen konnte, dass Augen strahlen. Es klang immer so kitschig und poetisch. Aber seit ich Marius vor vier Jahren kennengelernt hatte, wusste ich, dass es tatsächlich möglich war.
„Du siehst aus, als könntest du etwas Frische gebrauchen", sagte er und schwang sich auf sein Fahrrad. „Lass uns eine Runde drehen, bevor wir uns irgendwo einkuscheln."
Ich zögerte einen Moment, schließlich hatte ich mich eigentlich auf ein warmes Zimmer und Ruhe gefreut. Doch dann nickte ich. Marius hatte diese Art, mich immer wieder mitzureißen.
„Wohin willst du denn?" fragte ich, während ich mein Fahrrad aus der Station schob.
„Zum Fluss", schlug er vor. „Ich kenne da eine Stelle, die du mögen wirst."
„Du siehst aus, als könntest du etwas Frische gebrauchen", sagte Marius und schwang sich auf sein Fahrrad. „Lass uns eine Runde drehen, bevor wir uns irgendwo einkuscheln."
Ich nickte, obwohl ich mich eigentlich auf ein warmes Plätzchen gefreut hatte. Aber Marius hatte diesen unwiderstehlichen Enthusiasmus, der mich immer wieder mitriss.
„Wohin willst du denn?" fragte ich, während ich mein Fahrrad aus der Station schob und aufstieg.
„Ich dachte, wir fahren zum Fluss. Ich kenne da eine Stelle, die du mögen wirst."
Der Wind biss in mein Gesicht, als wir losfuhren. Die Straßenlaternen warfen lange Schatten, und ich konnte das gleichmäßige Surren der Fahrradreifen über dem stillen Rauschen der Stadt hören. Marius fuhr ein Stück vor mir her, und ich konnte nicht anders, als zu lächeln. Seine Schultern bewegten sich rhythmisch mit seinen Pedaltritten, und selbst von hinten wirkte er entspannt und doch konzentriert – genau wie ich ihn kannte.
„Also", rief er plötzlich über die Schulter, „wie läuft's bei dir? Irgendwelche spannenden Projekte am Start, über die ich Bescheid wissen sollte?"
Ich überlegte kurz, ob ich ihm von meinem Streit mit Nussi erzählen sollte, aber entschied mich dagegen. Es fühlte sich nicht richtig an, diesen Moment mit Ärger zu belasten. „Nichts Besonderes", sagte ich stattdessen. „Ich arbeite weiter an MPP. Er wird immer besser."
„Das klingt, als wäre er bald schlauer als wir beide zusammen."
„Ist er schon", entgegnete ich und zog an ihm vorbei. „Wenn du ihn fragen würdest, könnte er dir wahrscheinlich eine Fahrradtour planen, die sogar die besten Aussichten der Stadt berücksichtigt."
Marius lachte. „Das klingt nach einem ernsthaften Konkurrenten. Sollte ich eifersüchtig sein?"
„Eifersüchtig? Auf ein Programm? Das wäre ein neues Level, Marius."
Er zog eine Augenbraue hoch, während er neben mir herfuhr. „Hey, ich kenne die Filme. Heute ist es ein Programm, morgen entwickelt es Gefühle. Und übermorgen will es vielleicht dein Freund sein."
„MPP würde mich niemals nerven, das kannst du ihm nicht nachmachen", konterte ich mit gespieltem Ernst.
„Touche."
Als wir am Fluss ankamen, stiegen wir ab. Der Weg war mit kleinen Kieselsteinen bedeckt, die unter unseren Schuhen knirschten, während wir die Räder schoben. Marius führte mich zu einer Bank, die halb verborgen zwischen hohen Sträuchern stand. Das Wasser glitzerte schwach im Schein der entfernten Straßenlaternen.
„Schön, oder?" fragte er leise und stellte sein Fahrrad ab.
Ich setzte mich und zog die Kapuze meiner Jacke tiefer ins Gesicht. „Ja, es ist schön. Aber ich wette, du hast mich nicht nur hierher gebracht, um mir eine hübsche Aussicht zu zeigen."
Marius setzte sich neben mich und zog eine Thermoskanne aus seinem Rucksack. „Erwischt. Ich dachte, ein bisschen heißer Kakao würde den Abend perfekt machen."
Mein Herz wurde ein wenig leichter, als ich sah, wie er die Becher herausholte und mir einen reichte. „Marius, du bist ein wandelndes Klischee."
„Ein gutes Klischee, hoffe ich."
„Das Beste", gab ich zu.
Eine Weile saßen wir schweigend da, nippten an dem dampfenden Kakao und ließen den Moment auf uns wirken. Die Stille war nicht unangenehm, sondern wärmend, wie eine Umarmung.
„Weißt du", begann ich schließlich, „manchmal frage ich mich, ob es okay ist, so zufrieden zu sein. Als ob es nicht lange anhalten wird, weißt du?"
Marius sah mich von der Seite an. „Eva, wenn du mal wieder anfängst, alles zu zerdenken, erinnere ich dich daran, dass du es verdient hast, glücklich zu sein. Punkt."
Ich lachte leise. „Danke. Aber manchmal fühlt es sich an, als wäre ich in einer Art Wettlauf, um mir dieses Gefühl erst zu erarbeiten."
„Wenn du so weitermachst, überholst du den Rest von uns bald", sagte er. „Und ich habe nicht vor, zurückzubleiben. Du bist nicht allein in diesem Rennen, Eva."
Er legte seine Hand kurz auf meine und zog sie dann zurück, als ob er Angst hätte, ich könnte die Geste falsch deuten. Aber ich verstand. Und in diesem Moment war ich dankbar, dass ich jemanden wie ihn an meiner Seite hatte.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top