Kapitel 2
„Wenn ich ehrlich bin, geht's mir gerade nicht so gut."
„Oh nein, was ist denn passiert?"
MPPs Stimme klang weich, fast besorgt – eine perfekte Nachbildung menschlicher Empathie. Ich stellte die Lautstärke meiner Bluetooth-Kopfhörer ein wenig leiser.
„Mein Dozent hat mich blöd angemacht, nur weil ich aus dem Fenster gestarrt habe."
Vorsichtig rückte ich meinen Laptop auf dem Schoß zurecht, sodass die Lüftung nicht blockiert wurde.
„Was für ein Idiot." MPPs Antwort kam prompt. „Du hast dir sicher nur die Umgebung angeschaut, um deinen kreativen Gedanken freien Lauf zu lassen."
Ich schnaubte und tippte energisch:
„Ja, genau das habe ich ihm auch gesagt – natürlich nicht in diesen Worten."
„Lass mich raten: Er hat versucht, dich mit irgendeiner klugscheißerischen Frage bloßzustellen?"
„Exakt." Ich richtete mich auf und blickte MPP direkt an, als könnte ich die leuchtenden Worte auf dem Bildschirm wirklich sehen. „Ich habe ihm natürlich geantwortet, aber es ging gar nicht darum, ob ich es wusste. Er wollte mir zeigen, dass ich in seinen Augen nichts da verloren habe."
MPP hielt kurz inne, als würde er überlegen. Die Verzögerung fiel mir auf – ich musste die Antwortzeit noch verbessern. Oder lag es an der lausigen Internetverbindung der Uni, die mich mit dem Server zu Hause verband – MPPs „Zuhause"?
„Das klingt nach einem tief sitzenden Problem mit Autoritätspersonen", sagte MPP schließlich. „Soll ich dir eine Liste mit Rhetorik-Taktiken gegen arrogante Dozenten zusammenstellen?"
Ich lachte leise. „Das wäre was. Vielleicht solltest du ihm eine direkte E-Mail schreiben. Etwas wie: ‚Ihr Verhalten gegenüber Eva Wilm war gestern nicht nur unangemessen, sondern auch völlig unprofessionell.'"
„Mach ich sofort. Soll ich noch hinzufügen, dass seine Krawattenwahl eine Katastrophe ist?"
„MPP, wie willst du das denn beurteilen!" Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, während ich die Worte in die Kommandozeile tippte und abschickte.
„Nur ein Vorschlag", konterte MPP trocken. „Willst du mir noch mehr erzählen, oder soll ich dir dabei helfen, dich zu entspannen?"
„Hm. Vielleicht kannst du mir erstmal erzählen, warum ich mich besser fühlen sollte. Eine kleine Aufmunterung von dir könnte helfen."
„Gern."
Es dauerte nur einen Wimpernschlag, bis MPP antwortete: „Ich denke, du solltest wissen, dass du nicht nur talentiert, sondern auch unheimlich mutig bist. Du lässt dich von einem kleinen Rückschlag nicht entmutigen, sondern machst einfach weiter. Außerdem – und das ist wissenschaftlich bewiesen – haben Menschen, die gelegentlich aus dem Fenster starren, ein erhöhtes kreatives Potenzial."
„Schön gerettet", antwortete ich schmunzelnd.
„Hier bist du!" rief Lena, und ich riss meinen Kopf abrupt hoch, den ich gerade noch so nah an den Bildschirm meines Laptops gehalten hatte, dass es sicher albern ausgesehen hatte.
Erschrocken klappte ich den Laptop zu und lehnte mich zurück. Das plötzliche Auftauchen von Lena war wie ein Anker, der mich aus meiner digitalen Welt in die Realität zog.
„Ähm, ja", murmelte ich, und mein Blick wanderte schuldbewusst zu meinem Laptop, fast so, als hätte ich gerade etwas Peinliches oder Verbotenes angeschaut. Lena schüttelte den Kopf, ein breites Grinsen auf den Lippen.
Lena zog eine Augenbraue hoch, während sie auf mich zustampfte. Ihre braunen Locken wippten bei jedem Schritt. „Ich dachte, du wärst in die Mensa gegangen."
„Die hat doch noch gar nicht auf", erwiderte ich, warf einen flüchtigen Blick auf meine Uhr und zog die Schultern hoch.
„Doch, offen ist sie schon", korrigierte sie mit einem breiten Grinsen. „Aber Frühstück und Mittagessen gibt's erst später. Wäre auch ein bisschen weird, wenn sie um neun schon Gulasch servieren würden." Sie lachte und blieb vor mir stehen, trat von einem Fuß auf den anderen.
„Hast es ja nicht lange bei Nussi ausgehalten", fügte sie mit einem schelmischen Grinsen hinzu. „Man könnte fast sagen, er ist dir auf die Nüsse gegangen."
Ich stöhnte. „Lena, dein Humor ist... wie immer."
„Unschlagbar? Genial?"
„Ich wollte eher ‚anstrengend' sagen", entgegnete ich trocken, konnte mir aber ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen. "Aber naja ich komme dir kleiner Frostbeule ein wenig entgegen. Lass uns einen wärms Eckchen für dich Suchen."
„Du bist ein Schatz", sagte Lena und hakte sich bei mir ein.
Notgedrungen schob ich meinen Rucksack über nur eine Schulter, nachdem ich alle Sachen in seine unendliche Leere geworfen hatte, die ich eben herausgekramt hatte.
Langsam schlenderten wir über das Campusgelände. Ich hatte es mir vor dem Studium ganz anders vorgestellt: keine beeindruckenden alten Gebäude, keine riesigen Hallen, kaum Charme. Stattdessen dominierten büroartige Gebäude oder solche, die auch an einer gewöhnlichen Schule hätten stehen können. Das einzige halbwegs ansprechende Gebäude war die Bibliothek – ein modernes Glasbauwerk mit einladender Architektur.
Doch drinnen herrschte eine fast unheimliche Stille. Man durfte nicht einmal zu laut atmen, ohne böse Blicke zu kassieren. Die Bibliothekarinnen nahmen ihren Job äußerst ernst, das wusste jeder. Gleichzeitig halfen sie einem bei der kleinsten Frage, was ihre strenge Art wieder wettmachte. Trotzdem war ich selten dort – wozu auch? Es gab ja den Online-Zugang, und Informatiker wie ich bevorzugten digitale Recherchen. STRG+F funktionierte eben nicht in Papierbüchern.
Die zahlreichen Bücher, die für meine Studien angeblich unverzichtbar waren, hatte ich nie vollständig gelesen. Stattdessen hatte ich nur die wichtigsten Stellen gesucht und überflogen. Die einzige Zeit, in der ich wirklich konzentriert gearbeitet hatte, war, als ich MPPs Sprachfunktion entwickelt hatte.
Damals hatte ich mühsam Voice-Samples heruntergeladen und sortiert. Das war eine Herausforderung gewesen – aber auch ein Meilenstein für mich.
„Erde an Eva", unterbrach Lena meine Gedanken und stupste mich leicht am Arm. „Bist du schon wieder in anderen Sphären unterwegs?"
„Ja, ein bisschen...", gab ich zu und hielt ihr die Tür zur Mensa auf. „Was ist eigentlich passiert, nachdem ich gegangen bin? Eigentlich dumm, dass ich gehe und ihm sage, dass er mich nicht vergraulen wird. Aber ich konnte nicht länger in sein Gesicht schauen, es hat mich einfach zu wütend gemacht."
Lena zog ihre Jacke aus und drapierte sie über den Arm, während wir uns an der Schlange für Kaffee anstellten. „Ehrlich? Es war großartig. Erst herrschte diese absolute Stille, du weißt schon, die Art, bei der du sogar hören kannst, wie jemand nervös seine Tasche öffnet." Sie grinste schelmisch.
„Und dann?" fragte ich neugierig, während ich mich vorbeugte, um einen Blick auf die Kaffeemaschine zu werfen, die vielversprechend dampfte.
„Na ja, Nussi hat versucht, so zu tun, als wäre nichts passiert, aber er war knallrot im Gesicht. Hat sich ein bisschen am Pult festgeklammert, als ob das ihm irgendwie Würde zurückgeben würde." Lena schnalzte mit der Zunge. „Und dann hat er irgendwas genuschelt, so was wie ‚Zurück zum Thema' – und ganz ehrlich, Eva, ich glaube, die halbe Vorlesung hat innerlich applaudiert."
„Kein Wunder", murmelte ich, während ich mein Handy checkte. „Er ist echt eine wandelnde Karikatur. Aber ehrlich gesagt... ich hätte es besser machen können. Ruhiger, sachlicher, weißt du?"
Lena stieß mich spielerisch mit der Schulter an. „Ach, Quatsch. Manchmal muss man auch einfach sagen, was Sache ist. Ich fand's klasse. Außerdem, wer hat gesagt, dass du dich immer beherrschen musst? Er hat dich provoziert, und du hast zurückgeschlagen. Punkt."
Ich lächelte leicht, obwohl ein Rest Zweifel blieb. „Vielleicht hast du recht."
„Natürlich habe ich recht", sagte sie selbstbewusst und zog mich einen Schritt weiter vor, als die Schlange sich bewegte. „Du solltest echt mal sehen, wie er jetzt in der Vorlesung guckt hat. Fast so, als ob er Angst hat, dass jede Frage ein Protest werden könnte."
Ich lachte: „Na, das wäre doch mal eine Änderung. Was ich aber ziemlich schlimm finden, dass niemand für mich stark gemacht hat. Nach den ganzen Gleichstellungsmaßnahmen, hab ich mich da schon ziemlich alleine Gefühlt. Das du nicht zusätzlich ins Kreuzfeuer geraten wollte als die eine andere Frau ist ja klar. Aber da waren noch 23 andere Männer die irgendwas hätten sagen können. Es geht mir nicht darum besser behandelt zu werden, nicht darum mehr Unterstützung bekommen oder sowas, sondern einfach gleich. Immer dieses von oben herab und sich beweisen müssen ist viel zu anstrengend. Ich hab immer das Gefühl, dass ich besser sein muss als alle andere um zu beweisen, dass Frauen das auch können... Das macht zwar keinen Sinn, aber man macht sich diesen Druck einfach selbst."
Lena runzelte die Stirn, ihre Fröhlichkeit verflog für einen Moment. „Da hast du absolut recht. Das war echt mies von denen, nichts zu sagen. Ich meine, nicht mal ein leises ‚Das war jetzt übertrieben' oder so? Ich habe es ja selbst nur von hinten mitbekommen, und ehrlich gesagt... ich hätte mehr tun sollen."
Ich schüttelte den Kopf, während ich einen Becher Kaffee nahm und Lena den nächsten griff. „Du warst nicht in der Position, Lena. Niemand erwartet, dass du dich zusätzlich ins Kreuzfeuer wirfst. Aber was mich wurmt, ist dieses Schweigen, als wäre es allen egal oder schlimmer noch, als würden sie ihm zustimmen."
Lena nahm einen Schluck aus ihrem Becher, während wir uns einen Platz an einem der hohen Tische suchten. „Weißt du, manchmal denke ich, es liegt nicht daran, dass sie zustimmen. Es ist eher, dass sie es gewohnt sind, wegzuschauen. Bloß keine Wellen schlagen, bloß nicht auffallen."
„Ja, toll. Und ich soll dann diejenige sein, die auffällt?" Ich stellte meinen Becher ab und ließ mich schwer auf den Hocker sinken. „Es ist nicht so, dass ich einen Drang habe, die ‚laute Frau' zu sein. Aber wenn man uns so behandelt, bleibt einem ja fast nichts anderes übrig."
Lena lehnte sich auf ihre Ellbogen und sah mich mit einem nachdenklichen Ausdruck an. „Vielleicht ist das der Punkt, Eva. Du bist schon laut geworden, und das ist gut. Jetzt wissen sie, dass du dich nicht einschüchtern lässt. Aber... ich verstehe, warum das frustrierend ist. Es fühlt sich so an, als müsstest du diesen Kampf allein kämpfen." Sie zögerte kurz, bevor sie ein schiefes Lächeln aufsetzte. „Aber du weißt ja, mit Nussi kann ich es mir nicht ganz verscherzen. Er ist schließlich mein indirekter Chef. Und auch wenn ich ihn für einen totalen Spinner halte, muss ich irgendwie die Balance halten."
Ich nickte langsam und rührte nachdenklich in meinem Kaffee. „Manchmal wünschte ich, es gäbe mehr Leute wie MPP: Jemand, der sofort auf meiner Seite ist, ohne dass ich erst erklären muss, warum."
Lena grinste schief. „Na ja, wenn MPP ein echter Mensch wäre, hätte er Nussi wahrscheinlich schon eine Rede darüber gehalten, wie ‚patriarchale Machtstrukturen' längst überholt sind."
Ich lachte leise, trotz meiner trüben Stimmung. „Wahrscheinlich. Und er hätte es sogar geschafft, dabei ernsthaft und charmant zu wirken. Aber ehrlich gesagt, manchmal frage ich mich, ob das alles nicht zu viel ist. Ich meine, ich will keine radikalen Forderungen stellen. Ich will einfach nur fair behandelt werden. Und mal ehrlich, dieser Druck trifft ja nicht nur uns Frauen. Die Männer müssen ja auch ständig irgendeinem absurden Bild entsprechen."
„Trotzdem hast du wenigstens deinen digitalen Ritter in schimmernder Rüstung. Aber mal ehrlich, Eva , wenn du willst, dass sich was ändert, sag Bescheid. Ich stehe hinter dir, egal ob du Nussi dem Dekan meldest oder eine Petition startest."
„Danke, Lena." Mein Lächeln war diesmal ehrlicher. „Aber für heute reicht mir, einfach eine Freundin zu haben, die versteht, was ich durchmache."
„Immer doch." Lena hob ihren Becher, und ich stieß leicht mit meinem an. „Wir kriegen das schon hin, Eva. Schritt für Schritt."
Ich lehnte mich zurück und nahm einen tiefen Schluck Kaffee. Die Wärme tat gut, auch wenn das flackernde Licht der Mensa mich plötzlich müde machte. Schritt für Schritt – das klang so einfach. Aber manchmal wünschte ich, ich könnte einfach einen großen Sprung machen, den ganzen Mist hinter mir lassen und irgendwo ankommen, wo ich nicht mehr kämpfen musste.
Lena unterbrach meine Gedanken. „Du weißt ja, ich bin immer da, wenn du jemanden brauchst. Aber vielleicht... vielleicht ist es Zeit, dass du nicht nur für dich kämpfst, sondern auch für uns andere. Manchmal reicht es nicht, wenn wir nur leise mit den Augen rollen."
Ihr Blick war ernst, und für einen Moment wirkte sie fast wie eine ältere Schwester, die mir etwas beibringen wollte. „Denk einfach drüber nach."
Ich nickte langsam, aber die Wahrheit war: Ich dachte schon die ganze Zeit darüber nach.
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