Du bist noch hier

Meine Tante ist im April an Krebs gestorben und ja,
ich hätte mir auch gewünscht,
es wäre einer dieser Scherze gewesen,
die man in diesem Monat eben so macht.

Es ist Weihnachten
und wir sitzen auf diesem alten Sofa,
welches mich an Verwesung erinnert.
Meine Großmutter hat extra für dich
dieses bescheuert aufwendige Gericht gekocht,
ist stundenlang dafür in der
Küche gestanden,
um dich uns ein wenig näher zu bringen.
Dabei wissen wir es doch alle genau:
du bist nicht hier,
wirst es nie mehr sein
und wir alle haben nur zu sehr Angst,
dies laut auszusprechen.

Wir sitzen auf der Bank und ich zünde mit eine Zigarette an,
eine von denen,
die du auch immer geraucht hast.
Deine Schwester setzt sich zu mir und verraucht statt vertrockneten Tabak nur Worte in die Luft.
Sie erzählt mir, wie ähnlich wir uns doch sahen,
du und ich.
Ich stehe auf
und behaupte,
neue Zigaretten kaufen zu müssen
und doch wissen wir beide,
dass ich mich am liebsten im Viertel verlaufen will,
um mir Zeit zu erkaufen.

Ein,
Aus,
Ich weiß nicht genau, wie lange
ich nun schon weg bin,
als ich den kleinen Hügel erblicke
und mich auf den kalten Boden setze.
Du hättest es hier bestimmt geliebt,
man sieht so schön die Lichter der Stadt.
Weißt du,
als ich klein war,
da wollte ich immer so sein wie du.
Du mit deinen bunten Haaren,
deinen ausgefallenen Ideen,
deinen Enthusiasmus und
deinen Kind in dir.
Du warst immer den Marienkäfern nachgejagt
und wenn sich einer davon auf dein Handgelenk zur Ruhe setzte,
hattest du immer so warm gelächelt,
dass du mich damit angesteckt hast.
„Weißt du", hattest du mir damals erklärt,
„Marienkäfer können überall hin, indem
sie einfach nur ihre kleinen Flügel aufspannen
und drauflosfliegen."
Ich habe damals nie verstanden,
warum du ausgerechnet diese kleinen Dinger mit Freiheit verbandst,
habe immer nur genickt und dabei
meinen Kakao getrunken.

Deine bunten Haare fielen dir eines Tages aus
und als ich auf deine kahle Kopfhaut starrte,
habe ich zum ersten Mal
dem Tod in die Augen gesehen.
Du begannst,
dich zu verkriechen,
wurdest immer dünner und
kamst auch nicht mehr im Sommer zu
mir auf die Terrasse,
trotzdem stellte ich zur Sicherheit immer
zwei Tassen bereit.
Du hast immer noch so schön gelacht,
als wir irgendwann nur noch in der Küche hockten
und du statt Kakao ein großes Glas Wasser in der Hand hielst,
um damit deine Tabletten hinunterzuspülen.
Oder damals,
als wir diesen großen Marmorkuchen buken und ich deinen Anteil auch essen musste.

Es war Montag, als wir ins Krankenhaus fuhren
und ich weiß noch genau,
wie ich eine halbe Stunde vorher in der Schule saß und diese blöde Geschichte über einen Kochlöffel namens Schubert schrieb.
Ich weiß auch noch genau, wie ich aus dem Klassenzimmer stürmte
und deine noch warme Hand im Krankenhaus hielt.
Und als du langsam kälter wurdest,
verstand ich es plötzlich.

Du verbandst Marienkäfer nicht nur mit Freiheit, sondern auch mit Leichtigkeit.
Sie waren so leicht, dass sie sich selbst
zum Schweben bringen konnten und sich somit von ganz allein in einen Zustand vollkommener Ekstase bringen konnten.
Ich hätte noch gerne ein letztes Mal mit dir den Sommer auf der Terrasse verbracht,
doch nun sitze ich hier allein auf dem Stuhl und statt mit dir zu reden,
schreibe ich diesen blöden Text,
so,
als könnte er dich wieder zurückbringen.

Als ich aufblicke, sehe ich den kleinen Marienkäfer auf meinem Unterarm und kann garnicht anders, als zu lächeln und zu beobachten,
wie er wunderschön grausam in den Sonnenuntergang fliegt.

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