XII.
,,Träume, die unsern Schlaf besuchen, sind transparente Mondscheingemälde unserer Seele."
~ Christoph Kuffner
Drosselfell hatte ihr schon vorher von Dämmersee erzählt, der mürrischen Ältesten, die keine Flügel besaß, und Fuchsauge hatte oft den Wunsch verspürt, eines Tages mit der Katze zu sprechen, die ihre Probleme und Sorgen teilte. Aber niemals hätte sie erwartet, dass Dämmersee selbst mit ihr sprechen wollte und sie sogar zu sich rufen ließ.
Der Schüler Meisenpfote, ein frecher, aber freundlicher, cremefarbener Kater, war direkt von der alten Kätzin geschickt worden, um Fuchsauge nach ihrer Abwesenheit zu empfangen und sie zu Dämmersees Bau zu führen, vor dem sie nun stand. Er befand sich am hinteren Ende der Himmelseiche und zählte zu den größten der unzähligen Nester am Baum, obwohl er nur von zwei Ältesten bewohnt wurde.
Die dunkelrot-weiß getigerte Kätzin räusperte sich und wurde hineingebeten. Im Inneren des Zweiggeflechts herrschte eine zwielichtige Finsternis, die ihr zwar erlaubte, die beiden Katzen vor ihr zu sehen, aber ihren Gesichtsausdruck im Dunkeln ließ.
Dämmersee war eine große, kupferbraun getigerte Kätzin der Art, die man selbst noch im Alter für ihr glänzendes Fell bewunderte und neben ihr saß ein langhaariger, weißer Kater, dessen milchig blaue Augen seine Blindheit verrieten.
Fuchsauge murmelte eine Begrüßung und setzte sich den beiden gegenüber. Sie war sich dem forschen Blick von Dämmersee, der auf ihrer entstellten Gesichtshälfte ruhte, durchaus bewusst, war aber klüger als die von Drosselfell als launisch beschriebene Kätzin darauf anzusprechen.
Weißvogel, der die Narben nicht sehen konnte, brach die angespannte Stille. »Ein großes Schicksal lastet auf dir, Kind. Du weißt, weshalb du hier bist, oder?«
Fuchsauge überlegte sich ihre Antwort gut, um die Ältesten nicht zu verärgern. »Ich weiß, was von mir erwartet wird.« Den HimmelClan zu erlösen. Im Austausch gegen Rache am SternenClan.
Dämmersee meldete sich mit krächzender Stimme zu Wort. »Und weißt du auch, wie du es bewerkstelligen wirst?«
Fuchsauge war sich nicht sicher, ob die Frage einen spottenden oder prüfenden Unterton hatte. Die kupferfarbene Kätzin war ihr ein Rätsel durch und durch, so unergründlich wie die höchste Spitze der Frostberge.
»Offener Krieg«, sagte sie entschlossen. »Gegen den SternenClan.«
Die dunkle Älteste schnaubte. »Wann seht ihr Jungen endlich ein, dass man nicht alle Probleme mit Zähnen und Krallen lösen kann?«
»Aber es ist die einzige Lösung«, beharrte Fuchsauge. Ihre Geduld ging schnell zu Ende, trotz ihres tiefgehenden Respekts für die zwei Ältesten.
»Ach ja?«, krähte Dämmersee. »Und du denkst, wenn ihr den SternenClan besiegt, wird er uns unser Leben zurückgeben? Als Belohnung für den Aufstand? Oder geht es Feder am Himmel nur darum, ihre persönliche Rache an den Gründern auszulassen?«
So hatte es Fuchsauge bisher nicht gesehen, aber das Argument der alten Kätzin leuchtete ihr ein. »Aber es muss jemand etwas gegen die Allmacht des SternenClans unternehmen.« Ihre sogenannten Kriegerahnen hatten beschlossen, sie aus ihrem Clan zu verbannen und waren auch für das Zeichen des einstürzenden Heilerbaus verantwortlich, da war sie sich sicher. Und für das, was sie den HimmelClan-Katzen angetan hatten, mussten sie büßen.
»Ich leugne nicht, dass auch ich meine Rachegedanken habe«, sagte Dämmersee. »Aber das wird uns nicht ins Leben zurückholen. Und es wird dem HimmelClan nicht helfen.« Ihr nachtblauer Blick wurde nachdenklicher. »Es gäbe eine andere Möglichkeit.«
Fuchsauge spitzte die Ohren. »Was hast du im Sinn? Ein Bündnis mit dem Wald der Finsternis, um den SternenClan zu zwingen? Darüber habe ich auch schon nachgedacht, aber-«
»Unsinn«, unterbrach sie die Älteste. »Mein Plan ist viel simpler. Spionage.«
Spionage. Einige Katzen im SternenClan, sie seine bedeutendsten Geheimnisse ausplaudern können. Ein Netz aus Spitzeln, die seine Verteidigung durchlöchern, wie Borkenkäfer das Holz einer Fichte. Die Pfoten der roten Kätzin kribbelten vor Aufregung über die neue Möglichkeit. Aber wer sollte die Geheimnisse des SternenClans weitergeben, wenn keine Sternenkatze? Sie selbst konnte die heiligen Jagdgründe wohl kaum betreten. Gab es vielleicht einen anderen Weg für die Geisterkatzen des HimmelClans, verbunden mit ihrer Unsterblichkeit?
»Wir zerstören den SternenClan von innen«, hauchte sie. »Aber wie sollen wir das tun? Könnt ihr...?«
Die Ältesten, ihren Gedanken erratend, schüttelten den Kopf. »Du bist doch nicht dumm, Fuchsauge«, sagte Dämmersee und fuhr ihre Krallen angespannt aus. »Geh zum Mondstein und suche sie dort auf. Es findet sich immer eine Katze, die bereit ist, dir mehr zu erzählen, wenn du überzeugend bist.«
In jedem Clan gibt es einen Verräter, meinst du. Aber es könnte tatsächlich funktionieren. Sie war eine gute Lügnerin, das hatte sie schon in ihrer Schülerzeit bewiesen, wenn sie Nachtweide für ihre Missgeschicke die Schuld ins Nest geschoben hatte.
»Ich kann überzeugend sein. Einen Versuch ist es wert.«
»Vielleicht hast du Verwandte, bei denen es dir leichter fällt, sie zu überreden«, schlug Weißvogel hilfreich vor. »Schließlich wollen wir nicht, dass dein Versuch scheitert und rückwärts ausschlägt. Wenn der SternenClan von deinen Machenschaften Wind bekommt, einen von ihnen als Spion zu gebrauchen...« Er führte seinen Satz nicht zu Ende aus, aber Fuchsauge konnte sich denken, dass sie in diesem Fall eine ungemütliche Begegnung erwarten würde.
Sie ging gedanklich durch die Liste ihrer verstorbenen Familienmitglieder. Da war ihre Mutter, von der erzählt wurde, dass sie keinem Lebewesen etwas zu Leide tun konnte und somit als Verräter nicht in Frage käme. Vielleicht ihr Vater, der mitansehen musste, wie ihre Mutter starb, ohne dass der SternenClan etwas dagegen unternommen hatte und sich aus Trauer in die Schlucht zwischen dem FarnClan und dem NebelClan geworfen hatte. Aber würde sein Schmerz ausreichen, um den SternenClan zu verraten und seiner Gefährtin nichts davon zu erzählen?
Federherz hatte eine kleine Schwester gehabt, die als Junges verstorben war. Möglicherweise würde ein Junges leichter zu überzeugen sein, aber es war auch wahrscheinlicher, dass es sich verplapperte. Andere Bekannte im SternenClan hatte sie nicht.
»Ich werde versuchen, etwas zu erreichen«, miaute sie.
Die struppige, dunkelrote Kätzin würde sich an ihren Vater halten. Er bot die größte Chance zum Erfolg und mit seiner Hilfe würde es später leichter sein, Schattenstern von ihrem Vorhaben zu überzeugen, wenn es zu einem Kampf kommen sollte. Die beiden Brüder hatten sich sehr nahegestanden, wenn man den Erzählungen von Traumsplitter und Wolfsheulen Glauben schenkte.
Weißvogel nickte zufrieden, aber Dämmersee, nivht überzeugt, grub ihre silbernen Krallen zwischen die gelbbraunen Zweige am Boden. »Du darfst es nicht nur versuchen. Es muss gelingen.« Sie sah Fuchsauge durchdringend an, wie ein Adler, dessen scharfes Auge eine Maus im Feld erspäht hatte. »Der HimmelClan muss gerettet werden, ganz gleich, was passiert.«
»Verstanden«, miaute die Kriegerin. Es gefiel ihr nicht, Befehle von einer Ältesten anzunehmen, aber Dämmersee war erfahrener als sie. Auf die Idee, den SternenClan zu infiltrieren, wäre sie selbst gerne gekommen. Die dunkle, rote und weiße Kätzin verabschiedete sich von den Ältesten, mit dem Eifer, sofort zu den Bergen aufzubrechen, wo sich der Mondstein befand. Im Bauausgang hielt sie inne.
»Dämmersee, kennst du eine gewisse Weide? Und Tropfen?« Die Frage hatte ihr seit der Begegnung mit der Streunerin im Zweibeinerort auf der Zunge gebrannt und es interessierte sie erheblich, wie viel Wahrheit die hellbraune Kätzin gesprochen hatte.
Dämmersee antwortete nicht, aber Weißvogel nickte langsam. »Weide, Silber und Tropfen. Wir haben sie einmal als Spitzel in den anderen Clans eingesetzt. Sie wurden entdeckt und drohten, uns zu verraten, wenn wir ihnen nicht das gäben, was sie verlangten. Es ging ... unschön aus, zwischen ihnen und dem HimmelClan. Aber wir konnten nicht riskieren, von ein paar Streunern verraten zu werden.« Er schnurrte. »Ehrgeiz und Einsamkeit. Wir haben tapfer gekämpft, um letzteres zu behalten.«
»Warum habt ihr ihnen nicht einfach gegeben, was sie wollten?«
»Wir können Katzen keine Flügel geben.« Blinde Augen schauten sie gleichgültig an. »Das kann nur der SternenClan.«
Es regnete, als Fuchsauge ihren Weg zum Mondstein antrat. Die leichten, kühlen Tropfen benetzten ihr rot-weißes Fell machten das Moor vor ihr zu einem rutschigen Sumpf, mit bauchtiefen Pfützen und nassen Gräsern, die an ihrem Pelz entlangstrichen. Sie fror bis auf die Knochen in der kalten Blattleere-Luft und die Feuchtigkeit verbesserte die Situation nicht.
Ist das ein schlechtes Omen?, fragte sie sich, als sie das Territorium des NebelClans betrat. Ihre Mission konnte auf so viele Wege schiefgehen, dass ihr es kaum gelang, sie alle aufzuzählen. NebelClan-Katzen könnten sie finden, sie könnte im Moor ertrinken, ihr Vater würde ihr nicht zuhören... Die Möglichkeiten eines Fehlschlages waren endlos. Außerdem hatte Fuchsauge Wasser schon immer gehasst.
Drosselfell hatte sie nichts von ihrem Ausflug erzählt, nur die Ältesten und die Anführer wussten davon. Der Streit zwischen ihnen hatte eine tief klaffende Schlucht hinterlassen, unüberwindbar für beide und immer präsent, wenn sich ihre Blicke darüber kreuzten. Sie vertraute ihm nicht mehr, erklärte ihm nichts mehr, sprach nicht mehr mit ihm. Es fühlte sich an, als wären sie wie die zwei Hügel im Territorium des FarnClans, die getrennt nebeneinander verliefen, sich wie nach einem Streit wieder annäherten, aber einander niemals berührten, als stünde eine unsichtbare Wand zwischen ihnen.
Fuchsauge überquerte das Moor, wobei ihr ihre großen, nie einsinkenden Pfoten halfen, glücklicherweise ohne Zwischenfälle und fand sich bald am Fuß der Berge wieder, die majestätisch vor ihr in die Lüfte ragten. Sie kniff die Augen zusammen, als sie zu ihnen hinaufsah, damit ihr das Wasser nicht die Sicht verschleierte.
Die verschneiten Gebirgsspitzen verschwanden außerhalb ihrer Sehweite und schienen ein unerreichbares Ziel, verborgen von Wolken und Tannenwipfeln. Erst einmal war sie als Schülerin hier gewesen, etwas, das jeder zukünftige Krieger über sich bringen musste. Federherz und sie waren zusammen mit Nachtweide und ihrem Mentor Schattenstern zu der langen Reise aufgebrochen und die beiden Schwestern hatten einen Traum geteilt, als sie mit ihren Ahnen sprachen.
Während Fuchsauge die Höhe anstieg, fragte sie sich, wie es Nachtweide als Mutter erging. Sie wusste nicht einmal, ob sie die Geburt ohne weitere Schmerzen überstanden hatte und ob ihre Jungen alle überlebt hatten. Vielleicht kann ich Finstermoor nach ihr fragen. Immerhin rühmt sich der SternenClan, alles zu sehen.
Vor ihr öffnete sich die Mondhöhle, eine große, schwarzdunkle Leere, die sich ihrer Besucherin gähnend entgegenneigte. Schüler, die zum ersten Mal hier waren, fanden den Eingang oft respekteinflößend und hielten sich scheu von ihm zurück, aber Fuchsauge betrat den düsteren Ort ohne Angst. Jede Ehrfurcht vor dem SternenClan war ihr gewichen, spätestens seitdem sie den FarnClan verlassen hatte.
Der Mondstein befand sich am Ende der Höhle. Er war ein gigantisches, dunkles Gebilde in der Mitte von unschätzbar vielen Tropfsteinen, die sich vom Boden und von der Decke einander entgegenstreckten, sich aber nicht berühren konnten. Die spitzen Zacken machten der ankommenden Katze nur zögernd Platz; bis auf einen schmalen Gang zum Mondstein waren sie überall verteilt. Durch mehrere Löcher in der Höhlendecke – sieben, um genau zu sein, wie das Baumgesiebt sieben Tannen zählte – leuchtete das hellweiße Mondlicht, aber es berührte den Stein nicht. Noch nicht.
Auf der Oberfläche glühte kein heller Fleck, denn sie war mit Motten besetzt, Tausende von kohlbraunen Leibern, die sich zuckend an den kühlen Felsen pressten. Kreaturen der Nacht, die das sanfte Mondlicht in sich aufsogen und es verschwinden ließen, wie die Dunkelheit die Sonne am Abend.
Fuchsauge fauchte. Das drohende Geräusch hallte in der ganzen Höhle wider und für einen Moment konnte man sich vorstellen, dass es ein mächtiger Berglöwe ausgestoßen hatte und keine kleine Kriegerin.
Die Motten stoben auf, flatternde, pelzige Flügel streiften Fuchsauges vernarbtes Gesicht und dann waren sie verschwunden. Der Mondstein schimmerte nun in einem silbrigen Blauweiß, sanft berührt von den blendenden Lichtstrahlen des Himmels. Fuchsauge drückte ihre Nase an ihn, in der Hoffnung, ihren Vater auf der anderen Seite eines Traumes zu treffen.
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