Doppeltes Unglück

Geralt hatte sich einige Meter weit entfernt auf einem Felsen niedergelassen und hielt das helle Gesicht in die Sonne.

Eigentlich versuchten Hexer die Sonne zu meiden.

Ihre Pupillen waren lichtempfindlich und vertrugen es eigentlich nicht, vom Sonnenlicht geblendet zu werden.

Aber hin und wieder, wenn auch nur sehr selten, gerade mit geschlossenen Augen, legte sich der Hexer auch gerne zur Sonne und ließ sich wärmen.

So saß er lange auf dem kleinen Felsen neben einem Baumhaus und genoss die wenigen Strahlen der Sonne, die sich durch das Dickicht der Bäume trauten und sein Gesicht wärmten.

So lange, dass er sich irgendwann selbst wunderte, wann Ava eigentlich gegangen war. Sicherlich brauchte sie Zeit für sich und ihren Vater. Aber so lange? Oder kam es ihm nur lange vor?

„Geralt?" hörte er eine männliche Stimme direkt neben sich, die den Hexer nun endgültig aus den Grübeleien brachte.

Er öffnete die Augen und vor ihm stand niemand geringeres als Wynthaer Tinmoén selbst vor ihm. Avas Vater. Kein Jahr gealtert.

Das dunkelbraune Haar trug er immer noch weit über die Schulter lang. Das Gesicht wie aus Stein gemeißelt. Eben. Feingliedrig. Elegant und stolz. Auf dem Kopf das Geweih. Mächtiger als Avas.

Seine dunklen Augen waren voller Verwunderung.

Geralts dagegen gerieten in Panik. Er schnellte nach oben und blickte zu dem Kugelhaus hinüber, in dem Ava sein sollte. Mit ihrem Vater.

Er sprang auf. „Wo ist Ava?" wollte er von ihrem Vater wissen.

Dieser jedoch verengte die Brauen. „Ava ist hier?" Die Verwunderung in seiner Stimme ließ Geralt schlagartig loslaufen.

Er blieb ruhig. Auch dank seines verlangsamten Herzschlages. Vor allem war es jedoch sein Verstand, der ihn ruhig hielt. Was auch immer er im Haus entdecken würde, er würde mit nervösen Handlungen alles schlimmer machen.

Geralt betrat das Haus und sah eine Blutlache zu seinen Füßen. Sie war nicht allzu groß, doch reichte sie aus, um von einer tödlichen Wunde auszugehen. Die wenigen Holzmöbel standen schief. Die Vasen und Gläser waren durch einen Kampf zu Boden geworfen. Genau dort fand er auch ihre Kette mit dem Hirschanhänger. Zerstört. Von ihrem Hals abgerissen, zu Boden geworfen und mit dem Fuß zertreten. Ein schwerer Fuß. Eindeutig ein Mann, wie Geralt feststellen musste. Behutsam nahm er den verbogenen Rest der Kette auf und steckte es sich in die Tasche seiner Hose.

Er wusste, was von dieser Kette für Ava abhing. Er musste einen Weg finden, sie wieder herzustellen.

Der Hexer nahm einen tiefen Atemzug. Er roch Ava. Und eine weitere Person darin.

Wieso hatte er von dem Kampf nichts gehört? Welche Magie war hier am Werk gewesen?

„Mein Jagdmesser fehlt!" stellte Wynthaer Tinmoén schlagartig fest.

Geralt wirbelte um seine Achse herum zu Avas Vater. Dieser hatte den Blick zum Hexer angehoben. Sein Atem ging schneller. „Nur die wenigsten wissen, wo es liegt. Ava wusste es."

Das beruhigte den Hexer ungemein. Ava war hervorragend im Umgang mit Schwert und Dolch ausgebildet. Zumindest damals auf Kaer Morhen.

Geralts Augen untersuchten den Boden.

Es war schwer, Avas Schritte zu finden. Sie war einfach viel zu leicht, um Tapsen zu hinterlassen. Doch es war für einen geübten Hexer nicht unmöglich. Vor allem nicht, wenn ihr Duft in der Luft hing.

Der Hexer konnte ihre Spur aufnehmen und folgte ihr nach draußen. Er lief aus dem Dorf hinaus in den Wald hinein. Hier dauerte es nicht lange, bis ihre Witterung immer stärker wurde. Genau wie der Duft des Blutes.

Als Geralt Ava endlich fand, stand sie vor einem uralten großen Baum.

Ihr Atem rasselte. Das konnte er selbst mit mehreren Metern Abstand hören.

Vor ihr lag ein Leichnam. Ein großer schwerer Leichnam. In ihrer Hand hielt sie das Jagdmesser fest umklammert.

Das Messer samt ihrem Arm waren mit Blut besiedelt. Genau wie ihr Gesicht.

Ava konnte nicht töten. Nicht aus Rache, Begierde, Neid, Wahnsinn, aus Lust, Heimtücke, Habgier, Hass, Neid, einer Verdeckungsabsicht oder einem anderen niederen Beweggrund. Aber sie konnte töten, wenn es um ihr Leben oder das eines anderen ging oder wenn jemand Qualen litt.

Jemand wollte sie töten. Sie hatte nicht gezögert. Doch Geralt tat es. Avas haselnussbraune Augen richteten sich langsam auf den Hexer und ihren Vater.

Geralt sah wie sie ihre Lippen öffnete. Keuchte. Wie ihr Atem schneller wurde.

Das Wesen zu ihren Füßen musste höchstwahrscheinlich ein Doppler gewesen sein. Die Angst, erneut auf einen zu treffen, der sie töten wollte, stand breit in ihren Augen geschrieben.

Der Hexer verlangsamte sein Tempo. Hielt die Hand nach oben. Als Zeichen des Friedens und auch um, Avas Vater zum Stehen zu bringen.

„Ich bin es, Ava." sagte der Hexer mit ruhiger Stimme und lief ganz langsam weiter.

Die Elfin sagte nichts. Ihr Atem wurde immer schneller. Der Griff um das Messer immer fester.

Aber ihre Augenfarbe war normal. Noch.

„Ava, leg das Messer weg. Ich tu dir nichts!" beschwichtigte er sie ein weiteres Mal.

Wenn sie wegrennen würde und sich im passenden Moment in einen Busch oder Baum verwandeln würde, könnte Geralt sie kaum erkennen - und gewiss würde er sich nicht die Blöße geben, alle Pflanzen zu kitzeln und zu liebkosen.

Er musste sich beeilen.

Es waren noch knappe fünf Meter zwischen ihnen. Der Hexer konnte aus dem Leichnam einen Mann erkennen, den Ava mit wenigen präzisen Stichen getötet hatte. Doch der Doppler war nicht untätig gewesen. Geralt konnte an Avas Hals und auch an ihrer Stirn blutende Wunden erkennen. Ihre Lederhose war am Oberschenkel gerissen und ebenfalls mit Blut getränkt. Ob es ihr eigenes oder das des Dopplers war, konnte der Hexer aus dieser Entfernung weder riechen noch erkennen.

Langsam ließ Geralt die Finger seiner erhobenen Hand zum Axii-Zeichen bewegen.

Ava blieb stehen und beobachtete den Hexer.

„Beruhig dich, Ava. Wir tun dir nichts. Du bist in Sicherheit. Dir wird nichts passieren. Wir beide sind keine Doppler. Bleib stehen und lass das Messer fallen."

Avas angespannte Haltung lockerte sich. Ihr Blick wurde weicher. Müder.

Das Messer fiel zu Boden und landete im weichen Moos.

Sie war kampfunfähig, aber das ließ den Hexer nicht dazu verleiten, einfach so auf sie loszustürmen.

Ava hatte in all den Jahren auf Kaer Morhen gelernt gegen eine Vielzahl von Zaubern und Magie zu kämpfen. Sie könnte durchaus in der Lage sein, dem Axii-Zeichen zu trotzen.

Ganz langsam lief Geralt auf sie zu. Sah zu ihren Händen. Sah ihren Körper entlang. Zumindest sah er auf den ersten Blick keinen versteckten Dolch. Aber das hieß bei Ava nichts. Sie war blitzschnell. Dolche an ihren Körper zu verstecken, gehörte zur Grundausbildung.

Geralt blieb vor Ava stehen. Er war ihr nahe. Näher als vielleicht gut für ihn wäre. Zumindest in dieser Situation.

„Was ist passiert?" fragte er und streckte eine Hand nach Avamiel aus. Sein Vertrauensbeweis.

Sanft legte er den Handteller an ihre Wange und streichelte mit den Daumen über ihre Haut. Geralt war nicht sonderlich religiös. Glaubte weder an die Götter der Anderlinge noch an den Gott der Menschen.

Doch gerade schickte er eine stumme Botschaft gen Himmel und betete dafür, dass die Emanation in diesem Moment funktionierte.

Aber es schien zu klappen. Ava schloss die Augen und lehnte sich gegen die Hand des Hexers. Ein leises zufriedenes Schnurren drang aus ihrer Kehle.

„Der Doppler hat sich für meinen Vater ausgegeben." fing die Elfe an zu erzählen. „Ich hab's noch rechtzeitig gemerkt und konnte das schlimmste verhindern. Er war nicht meinetwegen hier. Oder wegen meines Vaters. Er war vom Überfall noch da und hatte sich hier versteckt. Es war Zufall, dass er mich mit dem Geweih gesehen hat und dachte, er würde sich so nebenbei, mit meiner Geiselnahme, einen ordentlichen Gewinn auf dem Schwarzmarkt abstauben. Leider war er nicht allzu bewandert im Kämpfen. Und ich war eher an Vaters Jagdmesser als er."

„Deine Kette ist zerstört." brummte Geralt in seiner dunklen Stimme.

Ava nickte traurig und hob den Blick zum Hexer an. „Das konnte ich nicht aufhalten."

Ein Schatten drang sich an Geralt vorbei und nahm neben ihm Platz. Wynthaers Gesicht war tief besorgt. „Avamiel. Kind. Geht es dir gut?"

„Vater!" Avas Stimme schnellte nach oben.

Geralt konnte gerade noch rechtzeitig die Hand von ihrer Wange nehmen, ehe die Elfin in die Arme ihres Vaters stürmte.

Das Vater-Tochter-Duo versank in einer bittersüßen Umarmung. Der Elf presste seine Tochter fest an sich, verbarg den Kopf an ihrer Schulter.

Geralt hatte Avas Vater zuvor noch nie so emotional erlebt. Er war stets konzentriert. Ernst. Nachdenklich. Ihn jetzt so überglücklich vereint mit seiner Tochter zu sehen, freute Geralt beinahe schon.

Nur langsam löste sich Wynthaer von Ava, um sie besser ansehen zu können. Beide Hände legten sich in ihr Gesicht. Streichelten ihre Wange, fuhren vorsichtig über die Wunde an ihrer Stirn und wischten ihr auch die ersten Blutspuren von der Haut. „Geht es dir gut? Hat er dich schwer verletzt?"

Sanft lächelte Ava und schlang erneut die Arme um die Mitte ihres Vaters. Tränen bildeten sich in ihren schönen Augen. „Mir gehts gut, Vater. Es tut alleine schon so unendlich gut, dich wiederzusehen."

Wynthaer lächelte wehmütig und zog seine Tochter in eine weitere liebevolle Umarmung. „Das tut es, Ava. Das tut es."

Geralt gab der kleinen Familie etwas Zeit für ihr Wiedersehen, ehe er sich langsam zu dem Doppler aufmachte und ihn untersuchte.

Das Wesen zu seinen Füßen war ein Bilderbucheintrag für einen Doppler. Zwar konnten diese Wesen sich im Prinzip in jedes Wesen verwandeln, was in etwa das selbe Gewicht wie sie selbst hatten, aber in ihrer natürlichen Form waren Doppler oder Wandler, wie man sie auch nannte, alles andere als ansehnliche Gestalten.

Oftmals erinnerte ihr Aussehen an eine Puppe, die aus Schlamm geformt schien. Ihre Hände sind lang, genau wie ihre Zunge, die ihnen oftmals aus dem Mund hängt. Ihre Augen sind trüb. Oftmals gelb wie bei diesem Doppler zu Geralts Füßen.

Seine Ohren sind herabhängend und groß.

Die Kopf ist kahl und scheint nicht einmal so, als wären je Haare dort gewachsen.

Doppler gehören zu den vernunftbegabten Wesen. Sie handeln wie ein Mensch. Konnten jede Sprache lernen, die sie hörten. Außerdem, und das war das interessante an diesem Doppler, waren sie, genau wie Avas Spezies, nicht zum Töten geschaffen. Sie selbst sahen keinen Sinn im Töten.

Dieser hier schien Ava nicht töten zu wollen. Wahrscheinlich auch beim Überfall auf die Dryaden hatte er nie vorgehabt, jemanden das Leben zu nehmen.

Es schien ihm lediglich um Geld zu gehen. Ava zu verkaufen.

Aber nach den Verletzungen, die er Ava zugefügt hatte und auch nach ihrer Aussage, dass er durchaus nach dem Jagdmesser greifen wollte, um ihr Schmerzen zuzufügen, stimmte etwas nicht mit diesem Doppler.

Ausnahmen gab es immer. Aber war das ein Zufall? Gerade in der jetzigen Zeit?

Geralt sah sich den Leichnam weiter an. Ava hatte ihn mit wenigen präzisen Stichen getötet. Sie hatte ihn nicht leiden lassen. Hatte sich nur verteidigt. Nichts an seinem Tod war grausam gewesen. Der Stich in die Halsschlagader und den Magen hatten für einen schnellen Tod gesorgt.

Es glich einem Wunder, dass er sie mit diesen Verletzungen noch über diese weite Strecke verfolgt hatte. War ihm das Geld so wichtig?

Ganz sicher nicht.

Geralt richtete sich auf und sah zu seiner Geliebten und deren Vater. „Wie hat er mit dir gekämpft?"

Avas Blick wirkte besorgt. Sie verstand Geralt Gedanken sofort.

„Er war nicht schlecht. Nicht gut genug, um es lange mit mir auszunehmen, aber er hatte keine Angst vor mir und meinen Fähigkeiten gehabt."

Nein. Er hatte keine Angst vorm Sterben gehabt.

Der Hexer nickte dem Elf zu. „Könnt ihr diesen Doppler irgendwo hinbringen lassen, wo ich ihn obduzieren kann?"

Wynthaer nickte langsam. Den Blick auf den Toten Doppler gerichtet. „Natürlich, Geralt. Sagt ihr mir, was ihr vermutet, was mit diesem Wesen los war?"

„Ja." krächzte der Hexer. „Auf dem Weg erklären wir dir alles."

*

Geralt sorgte selbst dafür, dass Avas Wunden versorgt wurden. Etwas, gegen das die Elfe zwar anfangs protestierte, doch sich schnell zufrieden gab, als Geralts Magie an ihrem Körper prickelte.

Dafür nahm sich der Hexer auch etwas länger Zeit und gönnte seiner Elfe die zarten Liebkosungen. Auch wenn er immer noch versuchte, das Ganze möglichst anständig zu halten. Wynthaer war der einzige Vater einer Frau, die Geralt je hatte. Sein einziger Schwiegervater.

Auch wenn ihm die Meinung anderer oftmals egal war, sah es bei Wynthaer anders aus. Oder zumindest überwiegend. Geralt kannte ihn, seit er ein kleiner Junge war. Er hatte ihm vieles beigebracht. Respekt und Anstand zu wahren, war Geralt wichtig.

Der Elf saß neben ihnen auf einer Bank, die gleich am Tisch stand, auf dem Ava platziert war und lauschte der Geschichte von ihrer Wiedervereinigung und auch über die Fälle mit den Monstern.

„Ihr meint, sie gehen jetzt auch schon auf Doppler los? Es gibt nicht mehr viele ihrer Art nach dem die Priester einen Exorzismus an diesen Wesen vornahmen."

Geralt nickte und schmierte dabei dicke cremefarbene Salbe auf die Wunde an Avas Stirn. „Womöglich von den Leuten, die den Überfall auf den Brokilon Wald angeordnet haben. Womöglich setzen bestimmte Leute das Mittel gezielt bei Anderlingen und Monstern ein. Wir sollten schnellstmöglich eure Wasserquellen prüfen. Notfalls haben wir ein Gegenmittel zur Neutralisierung dabei."

Wynthaer nickte ernst. „Ich werde es prüfen lassen. Wenn das stimmt, was ihr sagt, könnte der Überfall auf den Brokilon-Wald doch von langer Hand geplant gewesen sein. Es gibt genügend Könige und Fürsten, die sich beide Hände für abschlagen lassen würden, nur damit sie Herr dieser Wälder werden. Wenn sie dazu noch uns Element-Elfen als Trophäe bekommen, wüsste ich keinen Grund, der gegen Eure Vermutung sprechen würde."

Der Blick von Avas Vater huschte zu ihr. Besorgnis stand ihm tief ins Gesicht geschrieben. „Es wäre mir lieber, wenn du eine Weile hier bleiben würdest, Kind."

Die Elfin seufzte tief, schenkte ihrem Vater jedoch ein sanftes Lächeln. „So gern ich das würde, aber meine Gruppe braucht uns, Vater. Das, was hier passiert, passiert gerade überall im Land. Wir müssen schlimmeres verhindern."

„Das mag sein. Aber ohne deinen Anhänger wärst du leichte Beute für diese Wilden da draußen." begann Wynthaer mit ernster Stimme zu sprechen. „Ich vertraue auf deine Fähigkeiten und deine Magie, Avamiel, und auch Geralt, der an deiner Seite wacht. Aber versteh meine Sorge, Kind!"

Geralt sah der Elfin an, dass sie es tat. Sie wusste selbst um das große Opfer ihrer Mutter, nur um zu helfen. Sie hatte ihre gesamte Verwandtschaft verloren. Niemand wusste mehr recht, wie viele Element-Elfen es wirklich noch gab. Jede kleinste Hoffnung die es gab, musste beschützt werden.

Trotzdem konnte Ava nicht eingesperrt werden. Auch nicht, wenn ihr Anhänger defekt war.

„Kann er repariert werden? Der Anhänger?" wollte Geralt daher wissen und legte die Schale mit der Salbe auf den Tisch zurück. Als seine Hände frei waren, griff der Hexer in seine Hosentasche und holte die verbogene Hirschkette heraus, um sie Wynthaer zu geben.

Dieser studierte den Anhänger gründlich. „Der Verschleierungszauber ist noch fühlbar. Nur die äußeren Beschädigungen sorgen dafür, dass der Zauber keine Wirkung mehr hat."

Geralts verschränkte die Arme vor der Brust. „Kennst du jemanden, der sie reparieren kann? Einen Zwerg oder einen Schmied deines Vertrauens?"

Wynthaer gab einen langen nachdenklichen Laut von sich, während seine Finger den kleinen Hirsch immer noch genauer untersuchten. Wynthaer selbst hatte in seiner Jugend, so hatte er Geralt einst vor langer Zeit erzählt, viel mit Schmiederei und dem Forschen nach Magie zu tun gehabt. Damals, als er Avas Mutter noch nicht kannte und seine Familie noch hatte. Doch mit dem Ausrotten der Elfen, war Wynthaer mitsamt seiner Frau und Ava ständig auf der Flucht gewesen. Er verlernte Dinge. Lernte andere dafür umso besser. Doch eine gewisse Kenntnis schien er immer noch zu haben. Zum Reparieren eines so hochkomplexen Artefakts reichte es aber gewiss nicht mehr.

„Hier im Brokilon-Wald gibt es tatsächlich Zwerge, die so etwas bearbeiten könnten. Es würde deutlich schneller gehen, als Ava eine neue Kette zu besorgen." murmelte der Elf nachdenklich.

Das verstand Geralt.

Solche magischen Anhänger wie sie Ava und ihr Vater trugen, waren nicht irgendwo auf dem Schwarzmarkt gekauft. Sie musste einzeln hergestellt werden. Von jemanden der Zeit, Material und Vertrauenswürdigkeit hatte.

Der Zauber war nicht einfach. Er musste jede Sekunde in Avas Leben standhalten. Er durfte nicht ablaufen oder einfach so verschwinden. Noch dazu musste er das Geweih nicht nur optisch unsichtbar erscheinen lassen, man durfte es auch nicht fühlen. Solche Zauber waren komplex und konnten nicht einfach so von einer Zauberin gesprochen werden. Jedenfalls nicht unentgeltlich.

Ava lehnte sich ein Stück vor. Für sie war jede Sekunde rar gesäht. So sehr sie auch ihren Vater vermisst hatte, so wichtig waren ihr auch ihre Freunde und die Mission. „Wie lange wird es dauern?"

Wynthaer hob langsam den Blick an. Seine linke Braue hob sich dabei an. „Aus meiner Sicht ist viel Sorgfalt gefordert. Zwei bis drei Tage wird es sicherlich dauern."

Das schien Ava eindeutig zu lang zu sein. Doch was blieb ihr übrig? Ohne ihre Kette weiterleben? Das Leben war so schon schwierig genug für sie. Für sie und ihre selbsterwählte Familie. Sie konnte nicht einfach der Welt zeigen, wer sie war. Auch wenn sie und Geralt sich das vielleicht wünschten.

Aber die Welt, in der sie lebten, war grausam und von Hass getränkt. Mord und Totschlag gehörten hier zur Tagesordnung. Gerade in Gegenden wie Velen. Die Welt war kein kunterbunter Ort wie sie es früher in den Märchenbüchern gelesen hatten. Die Realität war eine andere.

Wie viele ihrer Art mussten bereits sterben? Genau wie so viele andere Anderlinge und Zauberer.

Sie war keine laute Stimme. Das würde sie nie sein. Ava war ein Schatten, der im Dunkeln kämpfte. Leise. Unauffällig.

Geralt wollte ihr helfen. Seiner liebsten Freundin. Seiner Geliebten. Die Frau, die ihn von Anfang an kannte.

Er war kein Mann vieler Wörter, großer Reden oder bedeutungsvollen Gesten. Aber das, was er Ava geben konnte, um ihr zu zeigen, dass er für sie da war, gab er ihr bedingungslos.

„Dann lasst die Kette schnellstmöglich reparieren. Ava und ich kümmern uns in der Zeit um das Wasser hier." Einen kurzen Blick warf er seiner Elfe zu, die ihn erstaunt betrachtete. „Damit wir auch was zutun haben, während wir warten."

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