Auf den Spuren von Erwin
Nach Ciris Verabschiedung packten Geralt und Alastor die Zelte zusammen, während sich Ava und Karya den Rest zusammen sammelten und verstauten. Und dank Alastors fleißigen Forschungen gab es allerhand einzupacken.
Ava vergrub den Rest des Glumaaren-Leichnams tief in der Erde, sodass andere Monster nicht mehr an ihn herankamen. Anschließend ließ sie eine dicke Schicht mit Moos und Farn auf der aufgeschütteten Erde wachsen.
Als alles an den Pferden befestigt war, ritten sie los. Langsam genug, damit Alastor die Fährte des Glumaarenopfers aufnehmen konnte. Geralt überließ diesen Job ihm. Inzwischen hatte er selbst mitbekommen, wie viel besser Alastor bei der Spurensuche war als er.
Dabei war Geralt selbst kein schlechter Spürhund.
Sie ritten einige Stunden, stiegen ab, suchten am Boden nach Spuren oder sprachen mit Pflanzen, stiegen wieder auf die Pferde und ritten weiter.
Einige Male waren Karya und Avamiel dabei eingeschlafen. Spurensuche konnte quälend langwierig sein. Vor allem, da Alastor jeder Spur genauestens folgte, Proben entnahm und weiter forschte, ehe sie eine Stelle verlassen konnten.
Doch seine Arbeit lohnte sich. Alastor konnte rasch erschließen, dass es sich um einen Mann gehandelt hatte, den der Glumaar verschlungen hatte. Tatsächlich schien er auf der Durchreise gewesen zu sein.
Nicht weit unwegs eines Waldes konnten sie seine restlichen Leichenteile finden.
Viel war nicht mehr übrig. Der Glumaar hatte den Unterleib des Mannes komplett verspeist. Der Darm war herausgezerrt und angebissen. Die hinterbliebenen Organe sahen auch nicht besser aus. Allerdings lag das nicht am Glumaar. Ava und Geralt erkannte eine Leberzirrhose.
Dennoch wollten Ava und Karya ihn die letzte Ehre erweisen und gruben den Mann ein tiefes Grab, verabschiedeten sich und beteten für seine Seele, während Geralt und Alastor weitere Spuren suchten. An dem Leiche fanden sie einen Brief, in dem man ihn bat, sich zu seiner sterbenden Mutter aufzumachen, die einige Meilen weiter vor dem Dorf lag. Ob der Brief echt war oder nicht, würden Ava und ihre Truppe früh genug herausbekommen. Sie hatten zumindest eine heiße Spur.
Dank Avas Windmagie und die Fähigkeiten mit Pflanzen zu reden, wussten sie bald, aus welcher Richtung der Fremde kam.
Nachdem die Sonne bereits beim Untergehen war und sich der Himmel in sein schönstes Gewand aus rosaroten Tönen begeben hatte, fanden sie endlich das kleine Dorf, aus dem der Mann gekommen sein musste.
Alles wirkte friedlich. Wenn auch deutlich heruntergekommener als andere Dörfer in Toussaint. Nichts an den Häusern oder den Bewohnern wirkte befremdlich. Alles war normal.
Alastor brachte die Gruppe zielsicher an das Haus, das dem Mann gehört haben musste. Oder vielmehr zur Hütte. Ein Haus konnte man die kleine Bude, die aus Lehm, Stroh und Holz bestand, freilich nicht nennen. Das Türschloss des alten Hauses war schnell durch den halben Hexer geknackt.
„Herzlich willkommen!" schnurrte dieser und öffnete die Tür für die Gruppe. Der Eingang des Hauses lag frei.
Ein faulig staubiger Geruch schwang aus der geöffneten Tür heraus. Avas Magen rebellierte beim Duft des dahinfaulenden Hauses. Sie konnte die Holzwürmer, die Maden und den Geruch einiger toter Mäuse bereits bis vor die Tür riechen. Verfaultes Obst und Fleisch zogen ihre Komponenten in das stinkende Odeur des Hauses. Sie hielt sich die geballte Faust vor die Nase und krümmte sich leicht. „Bei den Göttern, das stinkt ja schlimmer als jedes Schlammbad von Dorn!"
Karya schien es ganz ähnlich zu gehen. Auch wenn sie selbst mit sich kämpfen musste, nicht die Gesichtszüge bei dem Gestank zu verlieren, tätschelte sie trostspendend die Schulter der Elfe. „Vielleicht hat der Glumaar ihn deswegen so gut verschlungen!"
„Bei dem Gestank hätte ihn nicht mal ein Wasserweib angefasst."
Geralt schmunzelte bei Avas Vergleich. Doch auch ihm tat die Elfin leid. Er wusste wie empfindlich ihre Nase sein konnte. „Ihr beiden könntet euch ja draußen nach unserem Mann umhören. Laut dem Brief hier hieß er Erwin. Vielleicht weiß jemand mehr über ihn."
Ava war nicht allzu amüsiert von der Idee, doch sie nickte. „Bei dem Gestank gehe ich davon aus, dass er weder Frau noch Kinder hatte."
„Womöglich." bestätigte Karya und kramte zugleich in einer Seitentasche an ihrem Pferd nach etwas. Rasch schien sie gefunden zu haben, nach was sie gesucht hatte. Eine kleine goldene Spange, die sie sich sogleich in ihr Haar schob. Ein weiteres Artefakt, dass ihr dabei half, eine bessere menschliche Form anzunehmen.
Kaum steckte die Spange, wurde aus ihrem dunkelgrünen Haar ein rot-braunes. Ihre Haut nahm einen menschlichen Ton an und die spitzen Ohren wurden rundlicher.
Ava dagegen versteckte nur die Spitzen ihrer Ohren in ihrer Frisur.
Elfen waren in solch ländlichen Gegend nicht immer willkommen. Vor allem nicht, wenn sich weiterhin das Vorurteil hielt, dass Elfen besser und reicher lebten als Menschen vom Land. Ava hatte solche Diskussionen längst aufgegeben.
„Kommt nachher wieder hierher zurück und berichtet uns, was ihr herausgefunden habt." sagte Alastor und war bereits im Begriff, in das Haus zu gehen.
Ava jedoch war schneller. „Kannst du knicken! Ich werde keinen Fuß in diese stinkende Hölle setzen." Sie zeigte auf eine kleine Kneipe, die sich am Eingang des Dorfes befand. „Wir treffen uns dort. Und nehme uns eins oder zwei Zimmer. Ich habe genug in meinem Leben durchgestanden, um nicht mehr in so übel-riechenden Häusern zu übernachten."
Der halbe Hexer seufzte tief und ließ die Schultern sinken. Ava hatte wenig Ansprüche. Sie brauchte kein gehobenes Essen. Sie konnte auch bequem auf dem Boden schlafen. Sie war es gewohnt, zu zelten und auch einige Tage ohne Nahrung auszukommen.
Doch es gab inzwischen auch Grenzen für sie. Hygiene war für sie das A und O. Sie roch immer frisch und legte Wert darauf, ein ordentliches Erscheinungsbild abzuliefern. Dazu gehörte jeden Tag ein Hauch von Makeup, eine ordentliche Frisur, frischer Atem und ein gutriechendes Parfüm. Wobei sie in wichtigen Missionen selbstverständlich darauf verzichtete, um so wenig wie möglich in ihrer Umgebung aufzufallen.
Ava war nur bedingt eitel. Aber die wenigen Ansprüche, die sie an sich, ihr gegenüber und an ihre Umgebung hatte, setzte sie auch mit unnachgiebiger Kraft durch.
Alastor war in dieser Hinsicht nicht viel anders als sie. Auch er achtete auf sein Erscheinungsbild, gute Pflege und einen immer passend gekleideten (teuren) Kleidungsstil. Allerdings hatte er so gut wie keine Ansprüche an seine Übernachtungsmöglichkeit. Doch da er Ava wie sonst keinen anderen in der Gruppe schätzte, nahm er ein Gästezimmer immer gern in Kauf.
„Meinetwegen." säuselte er und ging durch die Tür.
Geralt warf seiner Elfe noch einen kurzen aufmunternden Blick zu, bevor auch er eintrat und Karya und Ava alleine ließ.
Seufzend sah sich Ava um. Es war kaum jemand auf den Straßen. Das Dorf war klein. Vielleicht lebten nur knappe fünfzig Mann hier. Wobei die meisten wahrscheinlich Kinder waren. „Also, wo fangen wir an?" fragte sie ihre Freundin.
Nur in wenigen Häusern brannte Licht. Selbst in der Gaststätte schien nicht allzu viel los zu sein. Nur zwei angeleinte Pferde standen davor und tranken aus den Tränken.
Karya zeigte auf das Haus gleich neben dem von Erwin. Es war noch kleiner als das des toten Mannes. Doch es verfügte über einen Zaun, hinter dem man eine fressende dunkelgraue alte Ziege, kleine bunte Bauklötze und einige leere Flaschen Rum sehen konnte.
Das Haus war aus dunklem verzerrten Holz gebaut. Genau wie das von Erwin und kaum typisch für den sonst so bunten Baustil von Toussaint. Inzwischen war in dieser Region alles aus Zement und Stein gebaut und mit bunten Farben bemalt. Beauclair war von all dieser malerischen Schönheit wohl die Perle des ganzen. Nirgendwo gefiel es Ava besser als dort.
Das Dorf hier war ein trostloser Fleck dazu. Ava hatte Ewigkeiten keine Holzhäuser mehr gesehen. Diese waren sonst nur typisch für die Gegend rund um Velen.
„Lass uns dort mal klopfen!" Ava folgte der Dryade einverstanden.
Karya übernahm die Führung und klopfte an der alten modrigen Tür an.
„Wenn ich das nächste Mal mit Anarietta beim Tee verabredet bin, werde ich sie zu diesem Dorf befragen. Ich kann überhaupt nicht verstehen, wieso hier alles so hinterwäldlerisch ist. Irgendwas stimmt doch hier nicht."
Karya zuckte nur mit den Schultern. „Womöglich geht Anna Henriettas Grenze nicht bis hierhin. Vielleicht lebt das Dorf unabhängig und unter keiner Herrschaft."
Ava entfuhr ein humorloses Lachen. „Wirklich? Es soll noch Flecken auf der Landkarte geben, die keinem Herrscher gehören? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen."
„Um Verlassene kümmert sich nie jemand gern, Ava." erklärte Karya mit sanfter Stimme und drehte sich kurz zu ihrer Freundin herum. „Es braucht jemand großes und starkes um das Potenzial von Ausgestoßenen zu sehen. Jemand, der bereit ist, Opfer zu bringen. So wie du es bei uns allen getan hast."
Da tauchte wieder dieser tumorgroße Kloß in Avas Hals auf. Sie spürte wie sich heiße Tränen in ihren Augen bildeten. Sacht senkte sie den Kopf und rang sich ein halbes Lächeln ab. Sie hatte in all den Jahren alles für ihre Freunde gegeben. Ohne an sich zu denken. So viele Jahrzehnte lang.
Sanft legte ihr Karya eine Hand auf die Schulter. Doch ehe sie etwas sagen konnte, wurde vor ihnen die Tür aufgerissen.
Der Geruch, der aus dem Inneren des Hauses auf Ava traf, roch kaum besser als das Odeur von Erwins Haus.
Mottenkugeln. Vergammeltes Fleisch. Schweiß. Schwüle Hitze der Feuerstelle im Haus.
Karya schien zu ahnen, dass Ava mit sich kämpfte und übernahm die Führung des Gesprächs. Sie lächelte heiter auf und ließ ihren erlernten Toussaint-Alzent deutlich in ihrer Stimme aufklingen.
Vor ihnen stand ein Mann. Nur knapp etwas größer als Ava selbst. Doch hatte mindest das dreifache ihres Körpergewichtes. Sein Kopf war kahl. Die Haare schlecht auf dem Kopf und am Mund abrasiert. Eindeutig besaß er nur eine stumpfe Klinge.
An seinem Leib trug er eine abgewetzte Hose. Sein Oberkörper, der von Schinken und Bier eindeutig geformt war, stellte er mit Zufriedenheit zur Schau. „Was?" brummte er zwischen seinen vergilbten und abgebrochenen Zähnen hindurch.
Eindeutig gehörte dieser Ort nicht zu Anna Henriettas Reich. Sie legte viel Wert auf die Gesundheit ihres Volkes. Es gab Mediziner und Bader, die den Menschen halfen.
Dieses männliche Exemplar vor Avas Nase stank bereits so sehr nach Eiter und Alkohol, dass ihre empfindlichen Nase am liebsten von alleine von ihrem Gesicht gesprungen wäre. Nur mit Müh und Not konnte sie sich ein Lächeln abringen, ohne würgen zu müssen. Das Haus von Erwin wäre vielleicht doch eine besserer Wahl gewesen.
Karya lächelte freundlich. „Ich wünsche Ihnen einen schönen guten Abend!" begrüßte sie den Mann in ihrer wohlklingend Stimme ganz freundlich. Der Mann allerdings ließ nur einen deftigen Wind aus seinem Darm entweichen. Schwefel. Ava war kurz davor, den Rest ihres letzten Essens wieder aus sich heraus zu bringen.
„Meine Freundin und ich sind auf der Suche nach unserem Bekannten Erwin. Er muss gleich nebenan von ihnen wohnen."
Der Mann hob die linke Seite seiner Oberlippe an. „Ja und?"
Karya ließ die Wimpern überfreundlich klimpern. „Nun, er ist nicht da. Wissen Sie vielleicht, wo er hingegangen ist?"
„Nein!" grunzte der Mann zurück. „Ich bin doch nicht das Überwachungskomitee! Mir doch egal, was der Säufer macht!"
„Säufer? Wir wussten gar nicht, dass er getrunken hat." Ava übernahm nun die Führung des Gespräches.
Der Mann richtete seinen Blick auf sie. Und schien von ihrem Anblick deutlich angesprochen zu sein. Wieder grunzte er. Dieses Mal nur deutlich williger. „Klar! Gesoffen wie ein Loch hat der Typ. Links ne Bulle, rechts ne Bulle! Aber wenn ich gewusst hätte, dass er so reizende Bekanntschaften hat, wäre ich auch mal mit zum Saufen gekommen, statt die Scheiße meiner Bälger wegzuwischen."
Ava schloss für einen Moment die Augen und zählte von sieben an Rückwärts.
Heute war wirklich nicht ihr Tag. Ihre Nerven waren vom vielen Reiten dünn gestrickt und die Gerüche und der Typ vor ihr, gaben ihr gerade den Rest.
Ermittlungen fielen ihr sonst eigentlich wesentlich leichter. Nur heute wollte sie sich am liebsten unter der Bettdecke verschanzen.
Als sie das Gefühl hatte, wieder Herr ihrer Nerven zu sein, lächelte sie. „Selbstverständlich!" Rasch wandte sie sich an Karya. „Ich bin nur ganz kurz weg. Nur für eine Sekunde. Kommst du bis dahin mit dem Mann alleine zurecht?"
Karya konnte sich kaum ein Grinsen auf den Lippen verkneifen. Wenn die Dryade wirklich wollte, wäre der Mann innerhalb von Sekunden tot. Er würde es wahrscheinlich gar nicht mitbekommen. „Natürlich."
Auf den fragenden Blick des Mannes, lächelte Ava nur lasziv, drehte sich auf den Absätzen ihrer Stiefel um und ging zurück zu Erwins Haus.
Sie spürte, wie der Mann ihren Weg noch verfolgte, doch Karya konnte bald schon seine Aufmerksamkeit auf sich lenken, sodass Ava in das Haus von Erwin verschwinden konnte.
„Geralt?" rief sie hinein. Groß war die Holzhütte nicht, doch war es bereits dunkel genug, damit sie sich schlecht orientieren konnte.
Sie fand die beiden Hexer an der Feuerstelle der Hütte hockend. „Geralt, ich brauch deine Hilfe!"
Der Hexer drehte den Kopf zu der Elfin herum und sah sie mit einem studierenden Blick an. Wirst du nicht selbst damit fertig? Konnte sie in seinen Augen lesen.
Ava seufzte schwer und verdrehte die Augen. „Ich brauch dein Axii-Zeichen. Wir haben jemanden, der mehr weiß, aber bei den Göttern, ich bin heute wirklich nicht bereit, auf einen ewig langen Flirt, um aus einem vollgesoffenen Typen irgendwelche Infos herauszubekommen."
Geralt zog fragend die Brauen in die Höhe und stand auf. „Was weiß er?"
„Mehr. Als wir die Tür von diesem Haus aufgemacht haben, hat es nach allem gerochen. Aber nicht nach Alkohol. Sein Nachbar meinte aber, Erwin wäre ein Trinker gewesen. Was ich ihm auch glaube, angesichts der halb verfallenen Leber, die wir bei Erwins Leiche gefunden haben." erklärte Ava und wollte noch weiter sprechen, doch Geralt unterbrach sie nachdenkend.
„Du glaubst, das Mittel ist im Alkohol, oder?" fragte er sie.
Die Elfin nickte sacht. „Es würde Sinn ergeben. Bestien greifen doch am liebsten immer die Schwachen und Lahmsten einer Gruppe an. Da ist der Erfolg höher. Alkohol geht schnell ins Blut. Und der Typ dort an der Tür stinkt so bestialisch nach Rum, dass er uns gewiss helfen wird."
Geralt nickte nachdenklich. Sein Blick ging zu Alastor, der noch an der Feuerstelle hockte und selbst in Gedanken versunken war. „Was ist deine Meinung? Gibt es Hinweise auf Alkohol im Glut des Glumaaren?"
Der halbe Hexer erhob sich langsam und mahlte mit dem Kiefer. „Nein. So gründlich konnte ich danach nicht suchen. Ich werde heute Nacht die Proben der Leiche obduzieren. Aber Avas Gedanken ergeben Sinn. Wenn ein Alloholiker verschwindet, interessiert es nicht gleich jemanden, wenn derjenige verschwunden oder gar tot ist. Außerdem würden solche Treffpunkte wie Wirtshäuser und Gaststätten die Substanz weiter verbreiten. Gerade bei Leuten auf der Durchreise. Die vermisst lange auch keiner mehr, wenn sie nicht ankommen."
„Wenn das stimmt, müssen wir bei uns dringend eine Prüfung vornehmen."
Alastor nickte auf Avas Vorschlag hin sofort. „Ich sehe, was ich hier noch machen kann. Ihr beiden redet mit dem Mann. Anschließend treffen wir uns in der Gaststätte und besorgen weitere Proben."
Ava nickte. Auch wenn sie sich inzwischen fragte, wo Alastor all seine Reagenzgläser mit Proben verstaute.
„Zeig mir den Weg." wies Geralt an und folgte der Elfin nach draußen.
Draußen angekommen stand die Dryade immer noch an der Tür, grinste freundlich und versuchte den Nachbarn in ein Gespräch zu verwickeln.
Als der Mann Geralt erspähte, riss der die Augen auf.
Das weiße Haar, der muskulöse Körper und der leicht grimmige Gesichtausdruck, verschafften bereits Geralts Vorstellung, ohne etwas zu sagen.
„Der weiße Wolf!" fluchte der Mann und wollte die Tür zuschlagen. Doch Karya war schneller, packte die Tür mit der einen Hand und den Kragen des Mannes mit der anderen. Sie war zwar nicht so stark, um ihn festzuhalten, doch der Schock, der Geralts Anblick auslöste, wurzelte ihn ohnehin an Ort und Stelle fest.
Geralt kam gleich zur Sache, verbog die Finger zum Axii-Zeichen und sprach mit deutlicher Stimme auf. „Was weißt du über deinen Nachbarn? Seit wann ist er nicht mehr da? Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?"
Für Ava war diese Art der Magie immer wieder erstaunlich. Geralt konnte einfach so nun die Gedanken des Mannes beeinflussen. Manchmal fragte sie sich unfreiwillig, ob er jemals auch überlegt hatte, es bei einer Person anzuwenden, die er liebte. Zu seinem Vorteil. Sie war davon überzeugt, dass der Hexer niemals jemanden seinen Willen aufzwängen würde, es dient fast immer nur wirklich wichtigen Sachen. Und dennoch bot gerade dieses Zeichen so viele Möglichkeiten.
„Ich habe ihn das letzte Mal gestern Vormittag gesehen. Er war kurz bei uns gewesen und hatte sich verabschiedet. Seine Mutter hatte ihm geschrieben. Ihr ginge es sehr schlecht. Sie würde bald sterben und sie bat ihn in das nächste benachbarte Dorf zu sich zu kommen."
Geralt verzog die Augen zu zwei gefährlichen Schlitzen zusammen. „Lag dem Brief etwas bei? Eine Ampulle oder etwas ähnliches?"
„Nein. Nur der Brief."
„Und der kam von seiner Mutter? Hat seine Mutter wirklich im benachtbarten Ort gewohnt? War sie alt? Krank? War es ihre Handschrift gewesen, mit der der Brief geschrieben war?" Geralts Stimme kläffte beinahe schon.
Was machte ihn so sauer? Lag es an Avas Bitte, ihr zu helfen, weil sie sonst mit ihrem Charm und Flirtversuchen hätte handeln müssen?
Sie hoffte doch nicht. Ihr Charm und ihre Flirterei hatten schon so manche Mission gerettet. Allerdings auch deutlich Probleme beschert. Ein Axii-Zeichen war wesentlich effizienter als Flirten.
Der Mann schüttelte ahnungslos den Kopf. „Das weiß ich nicht. Dass er eine Mutter hatte, ja. Auch, dass sie nicht hier lebte. Sie muss auch alt gewesen sein. Um die fünfzig. Ich glaube auch nicht, dass etwas im Brief beilag."
Geralt mahlte unzufrieden mit dem Kiefer. „Hast du sonst noch etwas anderes in der vergangen Zeit in eurem Dorf bemerkt? Sind viele Trinker verschwunden? Gab es vermehrt Todesfälle? Sind Monster in der Nähe aufgetaucht oder vielleicht fremde Personen? Hat sich die Gaststätte verändert? Gab es einen Personalwechsel?"
Der Mann starrte vor sich hin. Nachdenkend.
„Red schon!" drängte Geralt mit zusammengebissenen Zähnen.
Für Ava war dieses Verhalten von Geralt alles andere als typisch. Sie beschloss einzugreifen. Sanft legte die Elfe dem Hexer eine Hand auf den Rücken.
Fast zeitgleich hörte er auf mit seinen Kiefer zu knirschen. Sein finsterer Gesichtsausdruck blieb dagegen.
„Monster? Nicht in unserer Nähe. Ich habe gehört, dass einige Wanderer, welche fernab des Dorfes entdeckt hätten. Aber soweit weg, dass es nicht unser Problem ist." begann der Mann zu erzählen. „Die Dame aus dem Wirtshaus hat Erwin und mir erzählt, dass sie den braunen Schnaps von einem neuen Liefererin bekommen würde. Der gleiche Preis, aber wesentlich mehr Inhalt. Und auch besser. Der schmeckt besser. Intensiver. Sie lässt uns mehr dafür zahlen. Aber es ist seinen Preis wirklich wert! Es können sich nicht alle leisten hier im Dorf. Nicht auf Dauer.
Und verschwunden? Na ja. Eins, zwei Leute werden schon vermisst. Aber die verschwinden gerne mal. Ich hätte mir darum keine Gedanken gemacht. Lutz und Armin, zum Beispiel, streifen gerne mal für ein paar Tage draußen herum."
„Haben die auch in der Gaststätte getrunken? Diesen braunen Schnaps?"
Der Mann zuckte mit den Achseln. „Wahrscheinlich. Die würden ihr letztes Hemd für einen anständigen Schnaps geben."
Geralt richtete seinen verstimmten Blick zu Ava herab. Da haben wir's.
Ava nickte sacht.
„Was hat sie über die neue Lieferin erzählt? Wie sah sie aus?" fragte Geralt als Nächstes.
„Weiß ich nicht. Da müsstet ihr selbst schon Vesa fragen."
Avas erster Verdacht hatte sich also bestätigt. Die Menschen hier schwebten alle in Gefahr. Ein Dorf, um das sich niemand kümmerte. Mit den perfekten Lockmitteln und Ködern. Es war perfekt gewählt.
„Wir müssen uns dieses Gasthaus ansehen und mit dieser Vesa sprechen. Wer weiß, wer schon alles von dem Zeug getrunken hat."
Geralt nickte auf Karyas Worte hin. Dann richtete sich sein Blick erneut auf den Mann. „Sag allen, dass sie sich von diesem Schnaps fernhalten sollen. Es gibt Tote dadurch. Trinkt Wasser. Verlasst die Häuser nur bei wichtigen Bedarf und schützt die Kinder. Wir reden mit Vesa. Und sollte ein Monster hier auftauchen, mit Schaum vor den Mund, verlasst die Häuser nicht mehr! Bleibt drin. Verriegelt alles. Besorgt euch alle einen guten Vorrat. Diese Monster sind anders als alle anderen. Gebt Obacht."
Mit diesen Worten löste Geralt den Zauber von dem Mann.
Die drei Freunde ließen den verwirrten Mann zurück und gingen Alastor abholen.
Geralt brachte ihn auf den neusten Stand. Gemeinsam beschlossen sie, zur Gaststätte zu gehen. Sie ließen die Pferde etwas abseits der Behausung stehen und banden sie fest. Ava holte zwei weitere Artefakte in Form einer einfachen Lederkette und einer weiteren silbernen Haarspange hervor.
Sie wollte Alastor die Kette reichen, doch der winkte mit einem finsteren Grinsen ab. „Vergiss es. Du hast jetzt einen Freund, der die Rolle besser spielen kann als ich."
Ava seufzte. Doch insgeheim spürte sie auch einen leichten Hauch der Freude in sich aufkommen. Sie reichte die Lederkette an den ahnungslosen Geralt weiter.
„Wir spielen jetzt die ahnungslosen Ermittler. Wenn diese Vesa etwas weiß, bekommen wir es heraus." erklärte sie rasch und drehte sich zu ihren beiden Freunden herum. „Geralt und ich werden uns mit Vesa unterhalten und sie ablenken. Ihr beiden durchsucht die Speise- und Getränkekammer und untersucht alles. Bleibt nicht nur beim Schnaps stehen. Ich will von allem, was diese Vesa an ihre Kunden weitergibt eine Analyse haben."
Alastor nickte ernst. „Das stellt kein Problem dar."
Etwas anderes hätte sie von ihm auch nicht erwartet. „Wenn ihr rausgefunden habt, was diese Quelle ist, will ich, dass ihr sie austauscht. Oder neutralisiert. Was auch immer einfacher für euch ist."
Karya kratzte sich unsicher am Hinterkopf. „Wir haben noch zwei Flaschen Zwergenschnaps mit. Den könnten wir verdünnen. Das wird zwar ihren Ruf ruinieren, aber immerhin retten wir damit Leben und Lebern."
„So sieht es aus!" pflichtete Ava ihr bei. „Wir werden uns ein Zimmer reservieren. Wenn wir nach dem Gespräch zum Zimmer hochkommen, werde ich euch noch ein zweites besorgen."
Alastor lachte auf und deutete auf die Etage des Hauses, die über der Schenke lag und wohl die Gästezimmer darstellten. „Brauchst du nicht. Karya und ich können die Hauswände auch so hochklettern. Uns steht kein Glas im Weg."
Irritierte drehte sich die Elfin herum. Tatsächlich, dachte sie. Dieses Dorf war so hinterwäldlerisch, dass es nur über verschließbare außenangebrachte Fensterläden verfügte.
Er konnte Schlösser knacken, die ihnen die Schatzkammern der reichsten Könige öffnete. Da schienen die alten Fensterläden wohl seine geringste Sorge zu sein.
„Und wie hast du dir vorstellt, in die Gaststätte zu gehen, ohne selbst den Alkohol zu trinken?" fragte nun Geralt.
Ava grinste frech, nahm die Haarspange und setzte sie sich ins Haar. Es war ein weiterer Verschleierungszauber. Kaum war die Spange angelegt, verschwanden ihre Elfenohren. Stattdessen wurden sie rund. Genau wie ihr Bauch, der deutlich machte, dass sie bereits im fortgeschrittenen Stadium einer Schwangerschaft war. Ihr Haar wurde kurz und blond. Die Augen glänzten blau auf.
Sie sah den Hexer schwer schlucken, während er ihren angeschwollenen Bauch ansah. Lächelnd lief sie auf ihn zu, nahm ihn die Kette aus den Händen, um sie ihn um den Hals zu legen.
Wieder wirkte die Magie. Die Narben in Geralts Gesicht verschwanden. Seine Pupillen wurden wieder rund. Die Iris färbte sich tiefblau.
Seine schwarze Rüstung war nun plötzlich nur noch eine Kombination von einer alten abgetragenen schwarzen Tunika, einer schwarzen einfachen Hose und schwarzen dreckigen Stiefeln.
Sein Haar behielt die Länge, doch wurde es Schokobraun.
Ava grinste zufrieden. „Sehr schön." schnurrte sie zufrieden.
„Du hast was vergessen!" Zart stupste sie die Dryade an und legte ihr zwei goldene Ringe in die Hand.
Ava steckte sich sogleich den kleineren an den Ringfinger. Den anderen schob sie Geralt auf den Finger. Dieser wirkte immer noch verstört. Sein Blick wollte sich gar nicht mehr von Avas Bauch lösen.
„Alles gut?" fragte Ava kichernd und stemmte die Arme in die Hüfte.
Nur schwer löste Geralt den Blick von ihrem Bauch und sah der Elfin in die Augen. „Ja. ... Denk schon."
„Na sehr schön!" flötete Ava und drehte sich in Richtung der Gaststätte um. „Dann können wir ja loslegen!"
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