Joaquin
Die letzten Strahlen des schwindenden Tages brachen durch die Wand aus Nebel und verwandelten den Wald in ein Lichterspiel aus Rotorange und Violett. Ein warmer Wind blies und streichelte Marie mit dem Sprühregen. Wenn sie früher im Wald spazieren ging, hätte sie dies alles sicher verzaubert. Doch nicht heute. Marie hatte Angst. Aber nicht eine Sorte Angst, die ein fünfzehnjähriges Mädchen sonst vielleicht hätte: Angst vor der bevorstehenden Klassenarbeit, Angst vor dem Date mit einem Jungen, den sie süß fand oder Angst, allein auf eine Party zu gehen, wo einen kaum jemand kannte. Solche Ängste hätte Marie, wenn sie einen klaren Gedanken hätte fassen können, nun sicherlich als albern und kindisch bezeichnet. Jetzt wusste sie, was Angst eigentlich war.
Die Luft, die sie atmete, roch herrlich sauber und frisch, doch sie drang zu heftig in ihre Lungen, als dass Marie es genießen konnte. Sie rannte. Ihre neuen weißen Turnschuhe platschten im schnellen Takt durch Matsch und Pfützen. Das Wasser hatte keine Schwierigkeiten, einen Weg hineinzufinden und ihre Füße genauso aufzuweichen wie den Waldboden.
Wenigstens bin ich nicht allein.
Plötzlich platschte es. Marie wagte es, ihren Lauf zu unterbrechen, fuhr herum und erkannte erleichtert, dass es bloß Hannah war, als sie bäuchlings in eine Pfütze gefallen war. Marie lief zu ihrer Freundin zurück, um ihr aufzuhelfen. Lea erreichte sie aber schneller und zog Hannah wieder auf die Beine.
„Los, weiter!", zischte Lea keuchend. „Nicht stehenbleiben!"
In Hannahs Gesicht klebten rotbrauner Matsch und die nackte Panik, als sie sich wieder in Bewegung setzte, und auch Lea sah kaum besser aus. Beim Anblick ihrer Freundinnen zog sich Maries Magen zusammen. Sie rannten weiter.
Ein weiteres Geräusch, ein Brüllen, das durch den ganzen Wald hallte, hätte nun Marie beinahe stürzen lassen, als sie wie im Rausch ihre Schritte zu eilig gesetzt hatte. Ihr Herz raste, als sich die Angst wie die Hand eines Riesen um ihre Kehle legte. Der Schrecken, zu dem das Brüllen gehörte, war ihnen auf den Fersen. Und obwohl es so klang, als wäre er weit entfernt, erschien er Marie noch viel zu nah
Wo sind bloß die anderen? Ob sie es geschafft haben? Oder sind sie alle schon längst tot?
***
Anna-Luisas Gitarre verstummte. Niemand wagte es, zu sprechen. Eine gespenstische Stille herrschte, und wie gebannt starrten sie alle aus dem Fenster. Marie saß auf der falschen Seite des Busses und konnte kaum etwas erkennen. Doch so, wie sich die Mitschüler verhielten, die ihr gegenüber saßen, musste dort draußen etwas sein, das spannend und fürchterlich zugleich war. Durch die beschlagene Scheibe konnte Marie nur einen kurzen Blick erhaschen. Alles, was sie erkennen konnte, waren ein langer, struppiger Schwanz mit heller Spitze.
Sekunden vergingen wie Minuten. Zwei weitere Tiere waren aufgetaucht und das Trio befand sich nun offenbar in der Nähe der Araukarie, dort wo sie den toten Busfahrer begraben hatten. Marie sah, wie die Schüler weiter vorne sich plötzlich abwandten. Auch wenn sie es selbst nicht erkennen konnte, musste etwas Grässliches gerade vor sich gehen, denn Vanessa presste die Hände vors Gesicht, so als würde sie sich gleich übergeben, und als Marie den entsetzten Blick von Michael sah, wurde ihr angst und bange.
Ein Krachen. Ein Platschen. Und dann ein grausiges Schnaufen ließen die Köpfe ihrer Mitschüler herumfahren. Marie sah etwas, was sie dazu brachte, an ihrem Verstand zu zweifeln. Ein Dinosaurier stapfte am Bus vorbei und gesellte sich zu den drei kleineren Tieren. Marie stockte der Atem bei seinem Anblick. Es war ein riesiges Biest mit einem langgestreckten, sicher mehr als acht Meter langem Körper und einem gewaltigen Maul mit dolchartigen Zähnen, das es nun aufriss, um ein eigenartiges Geräusch auszustoßen, wobei es seine dolchartig gekrümmten Zähne zeigte. Es klang fast wie ein Bellen, nur viel heiserer und rauer, und es hallte derart laut durch den Regen, dass Maries Armhaare sich aufstellten. Wie gebannt folgten ihre Augen dem riesigen Tier, bis es ebenfalls an der Busfront angekommen war. Was es dort tat, konnte sie nicht sehen. Aber hören! Die Dinosaurier stapften durch den Schlamm, grollten, zischten und fauchten.
Was geht hier nur vor sich? Dinosaurier? Wo sind wir hier?
Marie zuckte zusammen, als sie plötzlich am Arm gepackt wurde und fuhr herum. Es war aber bloß Hannah, die so aussah, als würde sie gleich vor Angst sterben. Sie zitterte, Tränen liefen ihr die Wange hinab. Marie wagte kaum, sich zu bewegen, nur vorsichtig den Arm um ihre Freundin zu legen, die ihr Gesicht nun in ihrer Brust vergrub. Marie schloss die Augen für einen Moment.
Wenn sie uns nicht sehen, gehen sie vielleicht wieder weg. Bitte, bitte, bitte mach, dass sie wieder weggehen!
Draußen hörte Marie es erneut krachen. Dann platschte irgendetwas so laut in den Schlamm, dass es klang, als wäre ein ganzer Baum umgestürzt. Als Marie ihre Augen wieder aufriss, packte sie vor Angst so fest in Hannahs Schulter, dass ihre Freundin sich von ihr losriss. Was dort gerade aus dem Nebel gekommen war, schien kein Tier mehr zu sein, sondern ein Monster aus einem furchtbaren Albtraum. Und es war nicht allein! Gleich zwei weitere Ungeheuer, die noch einmal um die Hälfte länger als der Dinosaurier von eben waren, folgten der Spur ihrer Vorgänger. Der größere der beiden, war fast so lang war wie der ganze Reisebus. Seinen Kopf konnte Marie gar nicht komplett erkennen, weil er das Busdach um einiges überragte. Das Monster streifte mit seiner Schwanzspitze das Heck und brachte den Bus zum Erzittern. Marie presste die Hand auf ihren Mund, um nicht zu schreien und um ihr Schluchzen zu ersticken.
Wir dürfen keinen Mucks machen. Uns auf keinen Fall bewegen. Sonst sind wir sowas von tot.
Marie kauerte sich hinter die Rückenlehne ihres Vordersitzes. Sie spürte, wie ihre Nase lief, doch sie traute sich nicht, sie hochzuziehen. Der Schnodder tropfte auf den Boden vor ihren Füßen, was Marie enorm peinlich gewesen wäre, wenn es jemand mitbekommen hätte. Die Zeit zog sich wie ein gedehnter Kaugummi und Marie kam es wie eine Ewigkeit vor, bis sie ein Geräusch hörte.
Im Bus bewegte sich etwas. Marie sah plötzlich Cord und Tim, wie sie auf dem Boden des Mittelganges krochen.
Diese Idioten werden uns noch verraten!
„Was macht ihr?", fragte Marie so leise und mit so wenigen Worten wie möglich, denn selbst nur zu flüstern erschien ihr als eine viel zu gefährliche Torheit.
„Herr Arnold sagt, wir sollen nach hinten kriechen und uns dann im Maisfeld verstecken", flüsterte Cord. Offenbar zu laut, wie Tim fand, denn er versetzte seinem Kumpel dafür einen unsanften Stoß.
Noch ehe Marie imstande war, zu entscheiden, was sie selbst von dieser Idee halten sollte, wurde sie von Hannah angeschoben und gedrängt, sich zwischen Tim und Lea, die hinter Cord krochen, einzureihen. Auf allen Vieren folgte sie nun den beiden Jungs, dem klaffenden Ende des Busses entgegen.
Was, wenn noch mehr von diesen Monstern kommen? Und was, wenn sie uns entdecken und uns hinterherjagen?
Ganz hinten stießen Cord und Tim auf Mike und Kevin, die offenbar nicht verstanden, was nun Ansage war und stur auf ihren Plätzen blieben. Erst als Marie ihr Getuschel unterbrach, indem sie bloß eine wilde Geste nach draußen machte und auf das Maisfeld deutete, schienen die beiden zu verstehen. Mike nickte, richtete sich vorsichtig auf und bewegte sich langsam auf die Kante zu, an der er sich hinabließ. Es platschte kaum, als Mike den Boden erreichte. Kevin folgte ihm, dann Cord, dann war Marie an der Reihe. Mike und die beiden Jungs standen unten im Regen, und als Marie an der Kante herabkletterte, fühlte sie plötzlich Hände an ihrer Hüfte.
„Lass los, Süße, ich hab dich", raunte Mike ihr leise zu. Marie fühlte plötzlich so etwas wie Geborgenheit, als sie sich fallen ließ und in Mikes starken Armen aufgefangen wurde. Am Boden angekommen, wusste sie nicht so recht, was sie tun und denken sollte. Den Impuls, ihrem Ex um den Hals zu fallen, konnte sie aber unterdrücken, sodass er sie los ließ und nun Lea und Hannah dabei half, aus dem Bus zu kommen. Als nächstes tauchte der Kopf von Max am Ende des verschwundenen Hecks auf, doch er erhielt von Mike keine Hilfe beim Aussteigen.
„Los, zum Feld!", kommandierte Mike flüsternd und kehrte Max den Rücken. Marie sah auf und konnte erkennen, dass Max ganz grün im Gesicht war. Sie befürchtete, dass der Junge sich gleich wieder übergeben würde. [...] Marie wandte den Blick von Max ab und folgte den anderen in den Nebel. Als sie das Maisfeld erreichte waren ihre Schuhe schon völlig durchnässt, und da an den hohen grünen Halmen das Wasser nur so tropfte, verwandelte sich auch ihre pinke Fleecejacke bald in einen triefenden Lumpen.
Mike und Cord gingen voran und schoben sachte und vorsichtig die Pflanzen beiseite, um keinen Lärm zu machen. Die anderen folgten. Der Mais stand bald so dicht, dass Marie den Bus nicht mehr erkennen konnte, als sie sich umsah. Mike ließ sich auf dem Boden nieder und Marie kauerte sich neben ihn. Dann spürte sie, wie nasse Finger ihren Arm und dann Hand ergriffen.
„Es wird alles gut, Marie. Wir schaffen das, hörst du?"
Mikes Stimme klang so sanft und liebevoll. Ungeheuer froh, dass er da war, sie sah ihm tief in die Augen, wollte etwas sagen. Mike legte den Finger auf ihre Lippen:
„Shhhh... Ich passe auf dich auf, Süße." Marie wollte ihm glauben. Sie legte den Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. Eine wohlige Wärme legte sich um ihr wild schlagendes Herz.
Mike ist ein Poser, er kann ein richtiges Arschloch sein, aber...
Ein schrilles, ohrenbetäubendes Brüllen, das fast wie das hochgetunte Krächzen eines Vogels klang, unterbrach ihren Gedanken. Dann hörte sie Schreie. Schreie von Menschen; Ein gewaltiges Rumsen, das Splittern von Glas, das Knirschen von sich verbiegendem Metall. Und dazwischen dieses fürchterliche Grollen, Zischen und Fauchen. Marie stockte das Blut in den Adern. Sie klammerte sich an Mike fest, der seinen Arm um sie legte. Wie gebannt schauten sie beide in die Richtung, aus der die schrecklichen Geräusche kamen.
Eines dieser Geräusche kam näher. Ein Trappeln. Und es war bald viel zu nahe! Das Maisfeld war nicht mehr sicher. Mike löste die Umarmung, sprang auf und schrie nur zwei Worte:
„WEG HIER!"
Er sprintete los. Marie nicht. Ihre Beine wollten ihr nicht gehorchen. Mikes Hand riss sie dennoch mit sich. Sie musste laufen. Ob sie konnte, wollte oder nicht. Keine Sekunde zu früh. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie die Maispflanzen auseinanderstoben. Hannah schrie. Marie sah sie nicht. Sie spürte, dass Mikes Hand ihrem Griff entglitt. Dann fiel sie, doch Mike blieb nicht stehen. Ihr Rufen blieb ungehört, erstickte doch der Sturz mit einem Mund voll Erde ihren Schrei.
Es rettete ihr das Leben. Nicht einmal zwei Meter entfernt stieß ein vogelähnlicher Fuß in den Boden. Drei scharfe Klauen ließen die Erde nach oben spritzen. Marie wagte nicht zu atmen. Die Kreatur rannte so schnell, dass ihre Augen ihr nicht folgen konnten. Aber sie war unbemerkt geblieben und das Getrappel entfernte sich in die gleiche Richtung, in die Mike einfach weitergelaufen war, ohne sich noch einmal nach ihr umzusehen. Maries Herz, das schneller schlug, als dass sie es aushielt, war gebrochen.
Unter Maries Tränen verschwamm das Maisfeld zu einem matten schwarzgrün. Die furchtbaren Geräusche schienen bald überall um sie herum zu sein, doch es war ihr plötzlich alles egal. Selbst, dass sie jetzt sterben würde. Wieder rannte jemand an ihr vorbei. Vielmehr sprang über sie hinweg. Marie sah nicht auf.
„Marie! Steh auf! Um Himmels Willen, steh auf! Wir müssen hier weg!"
Jemand packte sie am Arm. „Lass mich! Ich will nicht..."
„Du stehst jetzt auf, verdammt!", zischte Lea. „Los jetzt, das ist unsere einzige Chance!"
Lea und Hannah, die neben ihr stand, zerrten Marie auf die Beine, und sie kam wieder zu Sinnen. Sie wischte sich den Schlamm und die Tränen aus dem Gesicht, versuchte ihren Herzschlag zu beruhigen und wieder gleichmäßig zu atmen. So leise und so schnell es ging, setzten sich die drei Mädchen in Bewegung, raus aus dem vermaledeiten Maisfeld. Als sie die letzten nassen Halme hinter sich ließen und sich vorsichtig hinauswagten, sahen sie sich um. Die Schreie waren inzwischen verstummt. Außer dem monotonen Rauschen des Regens war nichts zu hören. Keine Schreie. Und auch kein Brüllen von Bestien. Und niemand war zu sehen.
„Wo sind die anderen? Wo sind sie hin?", flüsterte Marie, doch sie bekam keine Antwort. Plötzlich sah sie einen Schatten. Dann noch einen. Die schwarzgrauen Silhouetten gehörten zu Menschen, vielleicht waren es Tim und Cord. Sie rannten vom gegenüberliegenden Rand des Feldes auf den Waldrand zu. Von den Ungeheuern fehlte jede Spur.
„Los, hinterher!", flüsterte Lea und begann zu rennen. Bis zum Waldrand war es nicht weit. Vielleicht zweihundert Meter. Marie setzte ihr nach und hatte sie bald wieder ein- und sogar überholt, doch sie achtete darauf, nicht zu weit vorauszulaufen. Die beiden Silhouetten der Jungs waren inzwischen in der grauen Wand aus Regen und Nebel verschwunden.
Gleich geschafft!
Kurz bevor sie die Bäume erreichten, spürte Marie, dass etwas nicht stimmte. Ein intensiver Gestank von Blut und Verwesung raubte Marie den Atem, also sie aus dem Augenwinkel erkannte, dass sie in eine Falle lief. Hannah schrie. Eines der beiden Monster schrie zurück. Und obwohl Hannah schriller schreien konnte als ein Fingernagel auf einer Schiefertafel, gewann der Dinosaurier das Kreischduell. Marie packte Hannah an der Schulter, riss sie herum und zwang sie, in die andere Richtung zu fliehen. Lea war bereits vorausgelaufen, doch Hannah und Marie holten sie ein, noch bevor sie den Waldrand auf der anderen Seite erreichte. Mit einem fürchterlichen Getöse setzten die Dinosaurier ihnen nach. Die Bäume rasten links und rechts an Marie vorbei, das dornige Gestrüpp am Waldboden zerriss ihre Jeans und ihre Haut gleichermaßen, die tief hängenden Zweige peitschten in ihr Gesicht.
***
Als die Dunkelheit hereinbrach, wurde es schließlich zu gefährlich, um zu rennen. Die beiden Ungeheuer waren nicht mehr zu riechen und zu hören. Sie hatten sie abgehängt. Obwohl sie darüber erleichtert hätte sein müssen, füllten sich ihre Augen wieder mit Tränen. So viele Gründe zum Weinen.
In dieser schrecklichen Wildnis gestrandet. Mike hat mich im Stich gelassen. Alle anderen sind weg, vielleicht sogar tot – außer Hannah und Lea. Und mir.
Maries ganze Welt war stürzte ein. Alle ihre Hoffnungen, alle ihre Träume erschienen ihr so fern und surreal. Sie konnte nichts tun, als immer nur einen Fuß vor den anderen zu setzen. Dass sie sich dabei vom Rest ihrer Klasse, falls noch irgendwer von ihnen überhaupt noch am Leben war, immer weiter entfernten, war ihnen klar, doch was blieb ihnen anderes übrig? Marie hatte nur einen Gedanken, nämlich so viel Abstand wie möglich zwischen sich und diese Monster zu bringen.
In ihren Gedanken versunken hatte sie sich schon eine ganze Weile nicht mehr umgesehen. Als sie es nachholte, waren ihre Begleiterinnen nicht mehr zu sehen, Voller Entsetzen fand Marie sich plötzlich ganz allein im Wald wieder, in diesem düsteren, nassen und gespenstischen Wald, wo hinter jedem der knorrigen Baumriesen der Tod zu lauerte. Verzweifelt blickte Marie von einer Seite zur anderen, doch sah es überall gleich aus.
Jeder Baumstamm, jeder Ast, jeder Fels schien sie hämisch anzugrinsen und ein grausames Spiel mit ihr zu spielen. Man konnte kaum mehr als zehn Meter weit schauen. Und rufen konnte sie auch nicht. Als Maries Herz ihr bis zum Hals schlug, fiel ihr der Boden ein. Im Matsch hinterließ man tiefe Spuren. Marie drehte sich um und folgte ihnen zurück. Sie merkte erst nach vielen Schritten, dass sie wieder rannte, während ihre Augen vorauszufliegen schienen, um nach einem Lebenszeichen von Hannah und Lea zu suchen.
Bitte... Bitte... Bitte... Ihr dürft nicht weg sein. Lasst mich nicht allein!
Maries Gedanken und ihre stillen Stoßgebete überschlugen sich. Sie hatte die Angst heute in allen möglichen Facetten kennengelernt. Jetzt wusste sie, was es hieß, Todesangst zu haben. Doch keine dieser Facetten war grausamer als die Angst vorm Alleinsein. Immer wieder versuchte sie, sich zu beruhigen und sagte sich in ihrem Kopf vor, dass Hannah und Lea bestimmt ganz in der Nähe waren.
Es dauerte keine zwei Minuten, für Marie aber eine gefühlte Ewigkeit, bis sie einen triefnassen Farnwedel zur Seite schob und dahinter Hannah entdeckte, die neben Lea im Matsch hockte.
„Gottseidank! Oh mein Gott, ich dachte schon, ich hätte euch verloren!", rief sie aus und merkte erst, als sie Hannah um den Hals fiel, dass sie viel zu laut dabei war. „Was ist passiert?", flüsterte sie völlig außer Atem.
„Nichts, ich bin nur hingefallen. Ist nicht so schlimm", antwortete Lea genauso leise.
„Sie ist in so einem blöden Schlammloch umgeknickt", ergänzte Hannah und wandte sich dann an Lea. „Wollen wir weiter? Oder brauchst du eine Pause?"
„Quatsch, Pause... Wir müssen weiter!", sagte Lea tapfer, biss die Zähne zusammen und versuchte, wieder aufzustehen. Hannah griff ihr dabei unter die Arme und auch Marie erkannte, dass ihre Hilfe gebraucht wurde.
„Lasst schon, es ist ja nichts. Ich bin ja nur ein bisschen umgeknickt", flüsterte Lea.
„Kannst du laufen?", fragte Marie leise.
„Ja, sicher. Los, Mädels, lasst uns abhauen!", zischte Lea und versuchte sich an einem Lächeln, was ihr jedoch nicht gelang. Sie humpelte.
Wenn die Bestien zurückkommen, hat sie keine Chance.
Marie konnte ihre Sorgen nicht vertreiben. Immer weiter kämpften sie sich vorwärts, immer tiefer hinein ins unbekannte Nirgendwo. Immer wieder sah sie sich nun nach ihren Freundinnen um, um sie nicht noch ein weiteres Mal zu verlieren. Sie lauschte angespannt, doch außer dem Regen konnte sie nichts hören.
Maries Füße stießen ständig an knorrige Baumwurzeln und glitten auf dem Laub des triefnassen Waldbodens aus. Weil Lea kaum mehr hinterherkam, nahmen Hannah und Marie sie in die Mitte und stützten sie. Wie lange sie jetzt schon unterwegs waren, wusste Marie nicht zu sagen, aber es kam ihr wie eine Ewigkeit vor.
Bald kam Lea an ihre körperlichen Grenzen. Die Mädchen ließen sich unter einem Baum nieder und kauerten sich dicht beieinander. Lea zog ihre Stiefel aus und massierte ihren geschwollenen Knöchel, während Marie die zitternde Hannah in den Arm nahm.
„Meinst du, die anderen haben es geschafft?" fragte das zierliche Mädchen mit den sonst so herrlich gewellten braunen Haaren, die ihr nun aber in nassen, schlammverkrusteten Strähnen ohne jede Ordnung im Gesicht klebten.
„Ich weiß es nicht. Hoffentlich...", antwortete Marie. Sie wollte ein paar tröstende Worte sagen, aber mehr fiel ihr nicht ein. Lea schwieg. Marie wollte sich lieber nicht vorstellen, was sie gerade dachte. Sie wollte überhaupt nicht denken, denn jeder Gedanke schien ihre Hoffnung zu töten. Ihre Augen wurden feucht, doch Marie musste jetzt stark sein. Was aus den anderen geworden war, war im Augenblick nicht ihr Problem. Sie mussten erst einmal irgendeinen Unterschlupf finden, irgendeinen Ort, wo sie die gewaltigen Kiefer der Ungeheuer nicht erreichen konnten.
Die Mädchen wagten nur eine kurze Pause, gerade lang genug, um etwas zu Atem zu kommen. Als es weiterging, begannen Maries Beine bald zu schmerzen. Die Bäume standen wie grausame, geisterhafte Zuschauer um sie herum und schienen sadistisch auf sie hinunterzublicken, während sie mit ihren knorrigen Fingern hämisch auf sie zeigten und immer wieder nach ihnen griffen. Panische Angst und lähmende Verzweiflung begannen, die drei Mädchen immer mehr einzunehmen. Ein fast knöcheltiefer See hatte sich am Boden gebildet, in dem die Mädchen nun keine Spuren mehr hinterließen. Maries Hoffnung, so irgendwann vielleicht den Weg zurückzufinden, erstarb. Die Dunkelheit war nun völlig über sie hereingebrochen und bald schon sahen sie kaum noch die Hand vor Augen. Die gnädigen zehn Meter Sicht wurden zu einer gespenstischen Finsternis.
Mühsam tasteten sich die Mädchen weiter durch das nicht enden wollende Dickicht. Lea fluchte und meinte, dass es doch besser wäre, auf einen Baum zu klettern, um dort die Nacht zu verbringen. Marie war geneigt, ihrem Wunsch zu entsprechen, doch dann hörte der Regen plötzlich wie von Zauberhand auf. Als hätte oben jemand den Hahn zugedreht. Die Sicht verbesserte sich zusehends, als ein heller Mond zwischen den Wolken immer mal wieder auf sie herunterschaute und den dampfenden Wald in ein silbriges Licht hüllte. Das Rauschen des Regens war verklungen und hatte die unheimlichen Geräusche der Nacht enthüllt. Wenn es hinter ihnen im Gebüsch knackte, schraken die Mädchen jedes Mal zusammen, in stiller Erwartung, dass es der Tod war, der dort auf sie wartete. Ein Nachtvogel schrie, als er direkt über ihnen von seinem Ast aufflog. Dann schwebte das unheimliche Tier geräuschlos in die Nacht hinein, in der es zu Hause war.
Ein schrilles Quieken trieb Maries Herzschlag in die Höhe. Eine vogelähnliche, fast menschengroße Kreatur sprang direkt vor ihr aus dem Unterholz auf und lief nun laut quakend davon. Sechs weitere Tiere folgten. Marie sah ihnen nach und atmete auf. Es waren keine Monster. Diese seltsamen Wesen waren nicht gefährlich. Marie drehte sich um und wollte etwas sagen, doch blieben ihr die Worte im Halse stecken. Hannah hockte starr vor Angst am Boden und hielt sich schluchzend die Ohren zu, wobei sie apathisch mit dem Körper vor und zurück wippte.
„Komm schon, wir müssen hier weg", sagte Marie so leise und tröstend wie sie konnte. „Das waren nur irgendwelche Vogelviecher. Hörst du? Die Monster sind weg."
Doch Hannah rührte sich nicht.
„Ist doch egal. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr! Es ist doch alles total sinnlos! Wir sind genauso tot wie alle anderen!"
„Was redest du da", sagte Marie sanft und versuchte, ihre Freundin in den Arm zu nehmen, doch Hannah wehrte sich energisch.
„Lass mich! Es ist doch alles für 'n Arsch!", rief sie verzweifelt.
„Shhh! Man, Hannah, sei doch leise! Willst du etwa, dass uns diese Viecher hören?", zischte Lea. Doch Hannahs Verzweiflung war gerade stärker als ihre Vernunft.
„Sollen sie uns doch hören! Dann machen sie wenigstens kurzen Prozess!", keifte Hannah. „Ich bin es leid, durch diesen beschissenen Wald zu irren! Ich HASSE diesen Wald!", schrie Hannah und stieß Lea, die ihr den Mund zu halten wollte, von sich weg. „Ich will nach Hause! Ich..."
KLATSCH. Leas Ohrfeige kam völlig überraschend, doch brachte sie die völlig aufgelöste Hannah zum Schweigen. Marie wollte Lea gerade anbrüllen, was ihr denn einfiele, ihrer Freundin ins Gesicht zu schlagen. Doch noch bevor sie Luft holte, verstand sie: Lea hatte die Ohrfeige bestimmt nicht ausgeteilt, weil sie böse auf die arme Hannah war. Im Gegenteil. Lea nahm Hannah zärtlich in den Arm, die bitterlich zu weinen begann.
„Shhh, Süße... Ist ja gut. Tut mir leid. Beruhige dich."
Leas Stimme klang wie die von Marie, wenn sie mit Joaquin, ihrem Andalusierpferd sprach. Ruhig und bedächtig half Lea Hannah auf die Beine und tatsächlich beruhigte sich das Mädchen wieder. Doch mit Entsetzen erkannte Marie, dass es schon zu spät war.
Eine rasche Bewegung im Wald direkt vor ihnen ließ Marie das Blut in den Adern gefrieren. Einen kurzen Moment lang war sie starr vor Angst, doch dann brachte sie ihre gelähmten Beine dazu, sich wieder zu bewegen. Schnell versteckten sich die drei Mädchen hinter dem riesigen, umgestürzten Stamm eines Baumes.
Er hat uns nicht gesehen. Bitte, Gott, mach, dass er uns nicht bemerkt!
Minuten zogen sich wie Stunden. Marie hielt es schließlich nicht mehr aus und spähte vorsichtig über den Rand des knorrigen Stammes. Noch immer schritt das Ungeheuer auf der Lichtung auf und ab. Dabei stöberte es wie ein Spürhund am Boden, hob dann wieder den Kopf und legte ihn schief, ganz wie ein Vogel. Marie konnte hören, wie es die Luft in seine übergroßen Nasenlöcher einsog. Als es sich wieder umdrehte, zog sie blitzschnell ihren Kopf wieder zurück hinter den Stamm.
Der Dinosaurier kreischte gellend auf und stürmte auf sie zu. Schneller noch als ein Rennpferd, so kam es Marie vor. Marie fand es merkwürdig, dass sie ausgerechnet jetzt wieder an Joaquin denken musste. Als der gewaltige Stoß gegen den Baumstamm sie alle von den Beinen riss, taumelte Marie zurück und landete mit dem Rücken im Schlamm. Marie versuchte hastig, sich wieder aufzurappeln, doch ihre Füße fanden auf dem nassen Laub keinen Halt. Hannah und Lea waren schon lange vor ihr auf den Beinen und rannten um ihr Leben. Lea schien nicht einmal mehr zu humpeln.
Ein weiterer Stoß. Marie gelang nur noch ein verzweifeltes Keuchen, dann klatschte sie bäuchlings in den Schlamm. Sie hustete und würgte, als der schwarze Morast in ihren Mund drang. Nur einen Wimpernschlag später konnte sie auch das mehr. Das Raubtier nagelte sie mit dem Fuß und einer ungeheuren Gewalt auf dem Boden fest. Die scharfen Krallen rissen ihre Fließjacke herunter als wäre sie aus Papier. Marie spürte warmes Blut, das ihr den Rücken herunterlief. Den stechenden Schmerz spürte sie erst eine Sekunde später. Marie gestattete sich ein weiteres Keuchen, doch dann beschloss sie, dass es einfacher wäre, nun nicht mehr zu atmen.
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