Ein Blitz im Kirchturm
Als Max den Stromkasten hinter sich ließ und zum Bushäuschen stapfte, fiel ihm auf, wie wenig dort los war. Eine Gruppe Grundschüler stand im Kreis und schnatterte wild durcheinander. Außer den Kindern waren noch zwei Mütter dort, die ihn aber völlig ignorierten. Max bekam einen kleinen Schreck, denn es war keiner seiner Klassenkameraden an der Haltestelle, sodass er zuerst dachte, er hätte sich in der Uhrzeit geirrt.
Als er hektisch sein Handy mit dem Spinnennetz-Display hervorholte und darauf die Uhrzeit ablas, überkam ihn die Ernüchterung, dass er doch zur richtigen Zeit an der Haltestelle stand. Wieder dachte er kurz daran, einfach absichtlich die Klassenfahrt zu verpassen. Denn dass er allein an der Bushaltestelle war, konnte schließlich nur eines bedeuten: Alle seine Klassenkameraden wurden mit ihren schweren Gepäckstücken persönlich von ihren Eltern zur Schule gebracht. Nur er nicht. Sein Vater war schon um vier Uhr morgens aus dem Haus gegangen, denn auch er musste heute beruflich auf Reisen gehen. Seine Mutter hatte zwar mit ihm gefrühstückt, doch war auch sie bereits in Eile und musste zur Arbeit. Max seufzte tief, aber er konnte es nicht ändern, dass er im Ranking der wichtigsten Dinge im Leben seiner Eltern nur irgendwo ganz hinten stand.
Der Bus bog um die Ecke, hielt und Max stieg ein. Er saß allein. Sein einziger Gefährte war sein Reisekoffer, der auf dem Platz neben ihm saß. Max wischte über sein kaputtes Handydisplay, stellte die Musik an, setzte sich die Ohrhörer ein und versuchte, seine Angst und seine schlimmen Befürchtungen zu ersticken.
Von seinem Dorf bis in die Kleinstadt, in der er zur Schule ging, dauerte die Fahrt etwa zwanzig Minuten. Der Bus erreichte schließlich den Parkplatz vor der Schule und Max sah dort bereits den großen, weißen Reisebus stehen, mit dem er auf die Klassenfahrt fahren würde. Er stieg aus, atmete noch einmal tief durch und ging mit seinem Koffer auf ihn zu. Viele seiner Klassenkameraden waren gerade dabei, ihr Gepäck in den Laderaum zu verfrachten oder sich von ihren Eltern zu verabschieden.
Auch Frau Lehmann und Herr Arnold, ihr Sport- und Geschichtslehrer, waren bereits da. Max war einer der wenigen, die nicht gejubelt hatten, als ihnen Frau Lehmann mitteilte, wer der zweite Betreuer auf der Fahrt sein würde. Er mochte Herrn Arnold nicht, und das beruhte offenbar auf Gegenseitigkeit. Der hochgewachsene, gutaussehende Kerl mit Dreitagebart und Pferdeschwanz war nur bei den angesagten Schülern beliebt, die auch immer gleich zu seinen eigenen Lieblingen avancierten. Im Unterricht nahm er auch nur diese Lieblinge dran und übersah dabei alle anderen Schüler, die wie Max nicht immer sofort bei jeder seiner Fragen mit dem Finger hochschnellten. Ihn nahm Arnold nur dann dran, wenn er dachte, dass Max gerade einmal nicht aufgepasst hatte oder wenn er sich sicher schien, dass Max die Antwort nicht wusste.
Doch zuallererst sah Max natürlich Marie. Das Herz rutschte ihm in die Hose. Doch sie beachtete ihn nicht. Frau Lehmann, die Klassenlehrerin, begrüßte ihn stattdessen:
„Hallo Max! Na, Freust du dich schon auf die Klassenfahrt?"
„Guten Morgen, Frau Lehmann", antwortete Max und zuckte mit den Schultern.
„Na ja, wir werden sehen..."
Frau Lehmann lachte, wuschelte ihm durch die Haare und ließ ihn sein Gepäck verstauen.
Gottseidank hat sie mich nicht nach meiner Lippe gefragt.
Als er um den Bus herum ging, sah Max wieder zu Marie herüber. Sie verabschiedete sich gerade von ihrer Mutter, die trotz ihres Alters fast genau so hübsch wie ihre Tochter war. Max nutzte die Gelegenheit und stieg von Marie unbemerkt in den Bus. Er wanderte ganz nach hinten durch, denn er hatte Tim und Cord entdeckt, die dort bereits Platz genommen hatten.
„Hallo, Leute", rief Max ihnen zu und nahm in der Reihe neben ihnen Platz.
Bei ihnen würde er erst einmal sicher sein.
Vielleicht können wir während der Fahrt noch ein bisschen Skat spielen, meine Karten habe ich ja dabei.
„Alter, bei Maries Mum kriege ich einen echten Milf-Ständer!"
Das auf diese Unverschämtheit folgende Lachen ließ Max innerlich gefrieren. Mike und seine Gang marschierten den schmalen Gang zwischen den Sitzen hinauf und kamen direkt auf ihn zu. Natürlich bemerkten sie ihn sofort. Kevin machte aus Daumen und Zeigefinger eine Pistole und erschoss Max, worauf seine Kumpels laut lachten. Die Geste traf wie eine echte Kugel. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als die drei Schläger nun direkt hinter ihm auf der letzten Reihe Platz nahmen.
„Hallo Hosenscheißer! Warum trägst du eigentlich keine braunen Hosen? Na gut, gegen den Gestank wird das nichts helfen."
Mike hatte seinen Status als Alphamännchen zurückerobert. Alle lachten wieder über seine blöden Scherze, sogar Max' vermeintlichen Freunde. Zumindest kam es Max so vor. Max konnte nun nicht mehr flüchten, denn in der Reihe vor ihm hatte nun Jan-Lukas Platz bezogen und vor Tim und Cord saß bereits Celina, Cords Freundin. Trotzdem, hier sitzen bleiben konnte er nicht. Die Fahrt würde sonst zum absoluten Albtraum werden.
„Na, was ist los, Stinker? Sag bloß, du möchtest hier nicht bei uns sitzen?", fragte Mike, dem aufgefallen war, dass Max nervös auf seinem Platz herumrutschte und seinen Rucksack gegriffen gatte. „Warum setzt du dich dann nicht neben die dicke Alicia? Ihr wärt so ein hübsches Paar: Die fette Brillenschlange und der Hosenscheißer."
Alicia saß weiter vorne, Max war gerade an ihr vorbeigegangen. Bestimmt hatte sie Mike gehört und Max konnte sich nur zu gut vorstellen, wie ihr gerade zumute sein musste. Er verstand, dass er nun nicht mehr wie bisher bloß von Mike ignoriert werden würde. Mikes Rachefeldzug war noch nicht vorbei. Jetzt war er endgültig im untersten Keller der Hackordnung angekommen, genau auf der gleichen Stufe wie Alicia. Er wollte etwas zu Tim sagen, der auf der anderen Seite des Ganges neben ihm saß, doch Max wurde komplett ignoriert.
Er verstand nicht genau, was Cord in dem Augenblick zu Tim geflüstert hatte, doch der Blick, den sie ihm danach zuwarfen, war eindeutig. Offenbar wollten sie nicht auch zu den Losern gehören und wandten sich von ihm ab. Max war zum Heulen zumute, wollte sich das aber auf keinen Fall anmerken lassen. Er stellte sich seinen Rucksack auf den Schoß und kramte darin nach seinem Buch.
„Na, was lesen Hosenscheißer heute so?", höhnte der Junge mit dem Rattengesicht und griff sich das Buch. „Eine kurze il-lu... was ist das denn für ein Wort? ...ill-us-trier-te Geschichte der Zeit... von Stephen Hawking? Was ist das für ein Scheiß?"
Kevin wandte sich zu Mike um, während Max verzweifelt versuchte, sein Buch wiederzubekommen.
„Hier Mike, schau mal!"
„Nee Mann, nimm das bloß weg", rief Mike, „da ist bestimmt lauter dünne Kacke dran."
Mike warf das Buch in Max' Richtung, der gerade noch seinen Kopf einziehen konnte. Dabei sauste sein Buch aber genau in die Richtung von Jan-Lukas. Der Junge war nach Heinrich der zweitgrößte in der Klasse, seine Schultern und Oberarme mindestens doppelt so breit wie die von Max und sogar um einiges kräftiger als die von Mike. Jan-Lukas hatte neben seiner ehrenamtlichen Tätigkeit beim Roten Kreuz auch das Bodybuilding für sich als Leidenschaft entdeckt, was Max nun große Sorge bereitete. Eigentlich war der stellvertretende Schulsprecher meist freundlich und zurückhaltend, doch als ihn das Buch mit voller Wucht in den Nacken traf und er laut aufstöhnte, befürchtete Max das schlimmste. Jan-Lukas fuhr herum und sprang auf, doch anstatt Max sofort totzuschlagen, brüllte der Riese stattdessen Mike, Kevin und Andy an.
„Seid ihr noch ganz dicht, ihr Idioten? Lasst den armen Kerl doch mal in Ruhe, Mann! Was hat er Euch denn getan? Nur weil ihr für Mathe immer zu dämlich seid, müsst ihr ihn jetzt nicht die ganze Zeit runtermachen!"
Jan-Lukas gab Max das Buch zurück, wobei er ihn aber nicht ansah.
„Werdet endlich mal erwachsen!"
Mike tuschelte seinen Kumpels grinsend etwas zu, woraufhin beide laut lachten, doch sie sagten nichts mehr. Feige wie sie waren, wollten sie sich nicht mit Jan-Lukas anlegen. Mit einem Kopfschütteln nahm dieser wieder Platz, drehte sich um und rieb sich über seinen roten Nacken. Max war ihm wirklich dankbar, denn Mike, Andy und Kevin ließen ihn jetzt in Ruhe, und sogar Tim und Cord wagten es, wieder mit ihm zu sprechen.
Nach und nach stiegen jetzt alle anderen aus der Klasse 10b endlich in den Bus ein. Die Mädels-Clique um Alina, Sarah, Lexi, Sabrina und Vanessa, danach der türkische Lockenkopf Ramazan mit seiner Zwillingsschwester Hülya, die währenddessen mit ihrer Freundin Sophie tuschelte, dann Anna-Luisa und die amerikanische Austauschschülerin Melina, gefolgt von Moritz, Heinrich und Leon, dann der dunkelhäutige Akwasi, den alle nur Wasi nannten, die beiden Lehrkräfte Frau Lehmann und Herr Arnold und zu guter Letzt Hannah, Lea und Marie.
Marie...
Der Lautsprecher an der Decke knackte und Frau Lehmanns Stimme tönte durch den ganzen Bus.
„Guten Morgen, meine Lieben!"
Frau Lehmanns Stimme ließ Max aufhorchen und er verdrängte die gerade erlebten Mobbingattacken.
„Schön, dass ihr es alle pünktlich geschafft habt", sagte die Lehrerin. „Ich würde gerne überprüfen, ob wirklich alle mit dabei sind. Vermisst irgendjemand seinen Banknachbarn?"
Der ganze Bus verneinte raunend, nur aus der hinteren Reihe drang ein leises Ja, natürlich mit verstellter Stimme.
„Sehr lustig, Andreas", entgegnete der Lautsprecher.
Andy saß in der Klasse allein am Nebentisch von Mike und Kevin. Sophie merkte an, dass Lisa als einzige aus der Klasse fehlte, was Frau Lehmann aber wohl schon zu wissen schien. Lisa war bereits am Donnerstag und Freitag nicht zur Schule erschienen, wahrscheinlich war sie immer noch krank.
Warum kann ich nicht mit Lisa tauschen? Ich nehme auch gerne jede Krankheit, scheißegal.
„Wir können losfahren, oder Michael?"
Herr Arnold nickte und sprach mit dem Busfahrer, der sich dann auch noch einmal übers Mikro meldete und darauf hinwies, dass das Schloss der Toilette defekt war, bevor er den Motor startete. Max warf einen Blick auf die Uhr, die gerade 6:44 anzeigte. Die Fahrt ging los und die Sonne gerade auf. Wie aus einer tiefrot blutenden Wunde am Himmel erhob sie sich, als der Bus ostwärts vom Schulparkplatz und aus der Kleinstadt hinausfuhr.
Da Tim und Cord sich über eine Fernsehserie unterhielten, die Max nicht kannte und sonst niemand mit ihm sprach, sah er gedankenverloren aus dem Fenster und betrachtete die Natur. Sein Buch hatte er schon wieder vergessen, obwohl es noch auf seinem Schoß lag. Die Straße wurde von einer Baumallee gesäumt, deren Blätter noch durchweg grün waren. An vielen anderen Bäumen setzten sich aber bereits ein seichtes Gelb und Rot durch, was in der Morgensonne wunderschön aussah. Der Sommer ging zu Ende, das merkte man langsam auch an den Temperaturen. Ein kühler Herbst kündigte sich an. Max sah einige Wildgänse, die aus dem veilchenblauen Norden in den sich nun golden erhellenden Süden flogen. Der Anblick verzauberte ihn und schenkte ihm ein Gefühl des Friedens.
Plötzlich tat sein Ohr höllisch weh. Er fuhr herum. Andy hatte heimtückisch von hinten an sein Ohr geschnippt, und Kevin und Mike fanden das natürlich wahnsinnig komisch.
„Aua! Jetzt hört doch mal auf, ihr Penner!", schrie Max.
Seine Stimme quiekte und sein Ohr begann sich in einem ähnlichen Farbton wie der Morgenhimmel zu verfärben.
„Lass mich überlegen... Nö."
Mike grinste und wollte ihm jetzt ins Gesicht schnippen, mitten auf die Nase. Schützend hob Max seine Hände, doch Mike packte sie an den Handgelenken. Panisch versuchte Max, sich loszureißen, doch war Mike so viel stärker.
„Schaut mal, wie er sich wehrt!", lachte Mike, dem es nun gelang, beide von Max' Händen mit nur einer seiner Pranken festzuhalten. Er schnippte seinem Opfer wie beabsichtigt an die Nase. Immer wieder.
Max musste an das Jagdmesser seines Großvaters denken. Er stellte sich vor, wie er Mike mit dem Messer bedrohte; Wie dessen hässliches Grinsen aus dem hämischen Gesicht verschwand; Wie Mike ihn anflehen würde, ihm zu vergeben; Und wie Max dann trotzdem zustach und seinen Peiniger vernichtete. Ein für alle Mal. Das Messer hatte Max nämlich wider den strengen Waffenerlass, der an seiner Schule galt, noch am Freitag in seinen Rucksack gepackt.
Ganz unten....
Wütend versuchte Max sich loszureißen. Mike versetzte ihm noch eins auf die Nase, dann ließ er Max los.
Lass dir nichts von diesen Proleten gefallen! Du musst dich behaupten, mein Junge!
Max war sich nicht sicher, ob er gerade die Stimme seines Vaters oder seines Großvaters im Kopf hatte. Er wusste nur, dass sie beide nicht wollten, dass er ein Feigling war. Und das war er nicht.
„Du verdammtes Schwein!", brüllte Max.
Er holte mit seiner soeben frei gewordenen Rechten aus und versetzte Mike eine schallende Ohrfeige. Max' Nackenhaare begannen sich zu sträuben. Die Angst vor den Konsequenzen spürte Max noch gar nicht. Sich vorzustellen, wie Mike wohl reagieren würde, kam ihm nicht in den Sinn, denn größer war die Angst, die Max gerade vor sich selber hatte. Er erkannte sich nicht wieder. Noch nie hatte er jemandem wehgetan. Trotzdem fühlte er sich wohl bei dem Gedanken, nicht mehr das Opfer zu sein. Mike starrte bedröppelt aus der Wäsche.
Nur eine viel zu kurze Sekunde dauerte Max' Gefühl von Macht, Tapferkeit und Mut. Doch Mike konnte dies schon allein mit seinem Blick wieder beenden. Als das Gesicht seines Feindes sich verdüsterte, fiel Max wieder ein, was am Freitag passiert war. Schreckliche Angst erfasste ihn und ließ alle Tapferkeit aus seinen Gliedern schwinden, die nun vor Angst wie gelähmt waren. Panisch versuchte Max etwas zu sagen, doch bevor er dazu kam, packte Andy bereits seine Haare, zog ihn zu sich heran und drückte sein Gesicht auf die Rückenlehne seines Sitzes. Der blaue Stoff des Sitzbezuges schob sich in seinen Mund und schmeckte nach Panik und Verzweiflung. Sprang auf, eilte zu Max nach vorne und holte zum Schlag aus. Der erste traf seine Wange. Der zweite sein anderes Ohr.
„HILFEEE!", schrie Max verzweifelt.
„Du traust dich was, du beschissenes Opfer! Bist du jetzt immer noch so stark?", fragte Mike brüllend und versetzte seinem Opfer weitere harte Schläge, die Max' gerade gefundenes Selbstbewusstsein gleich wieder zerstörten.
„Alter, bist du total bescheuert? Lasst ihn los!"
Jan-Lukas stand auf und hatte sich vor Mike und seinen Kumpels aufgebaut.
„Misch dich nicht ein, du aufgepumpter Clown!"
Kevins quiekende Stimme klang immer nur dann so mutig, wenn Mike und Andy dabei waren. Einen kurzen Moment lang befürchtete Max, dass der Ärger nun erst richtig beginnen würde. Doch Jan-Lukas ließ sich nicht provozieren.
„Frau Lehmann!", rief er laut durch den Bus.
Die Gerufene hatte bereits mitbekommen, dass auf den hinteren Plätzen im Bus eine Keilerei zugange war und eilte durch den schmalen Gang. Andy hielt Max immer noch am Skalp.
„SOFORT AUFHÖREN!", brüllte sie entrüstet. „Habt ihr völlig den Verstand verloren? Lasst ihn sofort los!"
„Max hat Mike zuerst geschlagen!", petzte Kevin.
„Genau! Der Hosenscheißer hat angefangen!", pflichtete Andy ihm mit seinem harten russischen Akzent bei.
„Ja wirklich sehr mutig, zu dritt gegen einen!"
Mit strafendem Blick funkelte die Klassenlehrerin die Streithähne an.
„Frau Lehmann, die haben vorhin schon die ganze Zeit rumgepöbelt", berichtete der stellvertretende Klassensprecher. „Haben Max das Buch geklaut und dann damit rumgeworfen. Ich hab das vorhin voll in den Nacken gekriegt!"
Dass Jan-Lukas Partei ergriff, wunderte Max, denn eigentlich sprachen die beiden sonst kaum ein Wort miteinander. Aber er war dem gutmütigen Riesen so unendlich dankbar.
Wenigstens einer! Cord und Tim haben mich eiskalt im Stich gelassen. Von wegen Freunde...
Die drei Feiglinge saßen nur mit blödem Blick auf ihrem Platz und gafften. Natürlich hatten sie alles mitbekommen, aber keiner von ihnen war aufgestanden oder hatte etwas gesagt. Stattdessen erhob nun die Lehrerin ihre Stimme:
„Jetzt lass ihn verdammt nochmal endlich los, Andreas! Und ihr setzt euch wieder hin! Ihr alle! Noch so ein Vorfall und eure Eltern können euch vom nächsten Rastplatz gleich wieder abholen. Ich habe die Schnauze gestrichen..."
Max sah es durch den Augenwinkel. Ein heller Lichtschein blitze im eben noch dunkelblauen Norden auf und unterbrach Frau Lehmanns Schimpftirade, noch bevor sie richtig begonnen hatte. Für weniger als eine Sekunde war das Leuchten zu sehen und genauso schnell wieder verschwunden, wie es erschienen war. Andy ließ ihn endlich los und Max konnte seinen Kopf zum Fenster hin drehen, durch das alle Mitschüler gerade wie gebannt starrten. Nördlich ihrer Strecke, gegenüber von der Landstraße in mehreren Kilometern Entfernung, war die Silhouette einer kleineren Stadt zu erkennen, von wo der Blitz gekommen war.
„Was zum Geier war denn das?"
Mike hatte sein Grinsen abgestellt und als erster seine Sprache wiedergefunden. Dicht gedrängt lehnten sie sich nun alle, Mike, Jan-Lukas und auch Frau Lehmann, zu Max hinüber, um aus dem Fenster zu sehen. Die Stadt erschien wieder genau so friedlich wie vor dem Blitz.
„Vielleicht ein Gewitter? Aber zu dieser Jahreszeit... Seltsam", überlegte Frau Lehmann, war aber genauso ratlos wie sie alle.
„Das glaube ich nicht, Frau Lehmann. Das war doch viel zu hell für einen normalen Blitz. Außerdem gab es keinen Donner. Und es hat so lange geleuchtet. Naja, so lange zwar auch nicht, aber auf jeden Fall länger als ein Blitz! Nee, das ist kein Gewitter. Ich sehe auch keine Wolken", mutmaßte Max.
„Schnauze, du Klugscheißer."
Andy gab ihm eine Nackenschelle, die Frau Lehmann völlig übersah.
Die Hupe ertönte und alle Blicke wandten sich nach vorn. Das vorausfahrende Auto hatte seine Fahrt plötzlich verlangsamt, so dass der Busfahrer scharf bremsen musste. Mike, Jan-Lukas und Frau Lehmann konnten sich gerade noch aneinander festhalten. Max riss es mit einem Ruck nach vorn, er musste sich mit den Händen am Vordersitz abfangen. Der Bus kam zum Stehen, wobei seine Bremsen zischend aufstöhnten.
„Warum bremst dieser Idiot? Was zur Hölle..."
Kevin brach seinen Satz ab, denn mit einem Mal erkannten sie alle, dass in der kleinen Stadt, an der sie gerade vorbei fuhren, eine riesige, bestimmt mehr als einhundert Meter breite Lücke klaffte. Der vor dem Lichtblitz noch majestätisch aufragende Kirchturm hatte unterhalb des Glockenhauses und des Spitzdaches eine tiefe Kerbe, die wie ein Halbmond aussah.
Dass der Turm überhaupt noch stand, verwunderte Max. Doch nur für eine weitere Sekunde. Denn in genau diesem Augenblick kippte der obere Teil mitsamt dem Spitzdach zur Seite weg und der Kirchturm brach in einer gewaltigen Staubwolke zusammen.
„OH MEIN GOTT!"
Der gleiche Satz aus so vielen Mündern gleichzeitig ließ Max' Herz einen Hüpfer machen. Doch es war nicht die Art angenehmes Herzklopfen, wie er bei Marie bekam. Es war furchteinflößend. Viel furchteinflößender als Mike und seine Schläger. Max bekam mit, wie fast alle seine Klassenkameraden ihre Smartphones hervorkramten. Einige begannen, das Ereignis zu filmen, andere zu recherchieren, was es bedeutete, der Rest nahm das Telefon ans Ohr und rief irgendwen an. Die Stimmen im Bus wurden lauter und lauter, denn jeder stellte sich die gleichen Fragen.
Was war das? Was geht hier vor? War es eine Explosion? Vielleicht ein Terroranschlag? Oder haben wir Krieg?
„Am besten, ihr setzt euch jetzt erst mal wieder alle auf euren Platz", sagte die Lehrerin streng. „Du auch, Jan-Lukas! Und... Bitte, vertragt euch jetzt. Ich muss mit Herrn Arnold sprechen."
Frau Lehmann ging wieder nach vorne und Jan-Lukas setzte sich. Er drehte sich zu Max um und sah ihn fragend an.
„Was glaubst du, was das war?"
„Ich habe keine Ahnung. Hast du das Loch gesehen?"
„Ja", sagte Jan-Lukas, und Max spürte deutlich am Klang seiner Stimme, dass sogar der sonst so furchtlose Riese gerade ziemliche Angst hatte. „Was kann so etwas anrichten? Eine Bombe?"
„Quatsch, du Homofürst! Eine Bombe hätte den Kirchturm doch komplett zerschossen und er wäre sofort eingestürzt. Ich war dabei, als sie im März den Kühlturm der alten Zuckerfabrik gesprengt haben. Da macht es BUMM und dann stürzt das einfach ein, genau wie die Twin Towers", sagte Kevin und tat wieder auf mutig. Dann drehte er sich zu seinem Beschützer um, der auf seinem Smartphone herumdaddelte. „Was sagt dein Handy, Mike? Gibt's schon irgendwelche Nachrichten?"
Mike, der gebannt auf sein Handydisplay starrte, schüttelte nur den Kopf.
„Das war bestimmt ein Bombenanschlag. Was denn sonst? Wir haben doch alle die Explosion gesehen."
„Genau, das war echt hell!", brummte Tim.
Aha, jetzt kannst du auf einmal wieder sprechen.
Tim und Cord waren für Max gestorben, auch wenn sie sicher vorhin nur Angst hatten. Doch das hatten sie jetzt alle.
„Da war aber kein BUMM", beharrte Kevin.
„Vielleicht hat man das nur nicht bis zu uns gehört", antwortete Tim, der sich nicht überzeugen ließ.
„Tim, eine Explosion, die eine halbe Stadt zerreißt, hört man. Die hätte sogar deine Schwester gehört."
Max wusste, dass Tims Schwester taubstumm war und auch, dass diese Bemerkung sehr respektlos war. Doch hatte das der Verräter verdient.
„Ach ja, du Schlaumeier, dann sag uns doch in all deiner Weisheit, was es denn nach deiner ach so professionellen Meinung gewesen ist!", rief Tim empört.
Was seine Schwester anging, verstand er keinen Spaß. Die anderen schauten Max nun alle an, was ihm zutiefst unangenehm war.
„Ich... Ich weiß auch nicht."
„Sieh an. Der Schlaumeier weiß es auch nicht. Mann, wenn du keine Ahnung hast, dann halt doch einfach die Fresse!"
Tim hatte die Bemerkung über seine Schwester wohl wirklich getroffen und Max tat sie auch schon leid. Die Kleine konnte ja wirklich nichts dafür, weder für den Blitz noch den eingestürzten Kirchturm und auch nicht dafür, dass ihr Bruder so ein feiges Arschloch war. Noch bevor Max sich für seine Bemerkung entschuldigen konnte, knackte wieder der Lautsprecher. Herr Arnold hatte das Mikrophon in der Hand, doch er konnte im wilden Stimmengewirr kaum für Ruhe sorgen.
„Hört mal Leute... Hallo! Hey! RUHE JETZT! Na also. Das wichtigste zuerst: Seid ihr alle okay? Hat sich jemand verletzt?"
Diesmal verneinten alle und nicht einmal Andy wagte einen blöden Scherz.
„Also gut", fuhr Arnold fort, „Ich würde trotzdem vorschlagen, dass wir am nächsten Rastplatz eine Pause machen, auch wenn wir noch nicht lange unterwegs sind. Wir sollten uns jetzt alle erst mal beruhigen. Okay?"
Ein leises Murmeln bejahte den Vorschlag und Arnold nahm wieder vorne bei Frau Lehmann Platz.
„Na, die Klassenfahrt geht ja schon mal gut los!"
Auch wenn Mike hinter ihm saß, konnte Max das Grinsen aus seiner Stimme heraushören.
„Da erlebst du mal richtig was, oder Hosenscheißer? Ist bestimmt mal was anderes, als immer nur vorm PC rumzuoxidieren oder dir in deinem Kinderbettchen einen auf Marie runterzuholen."
Max drehte sich fassungslos um. Er wusste nicht, was ihn mehr irritierte: Mikes Gleichgültigkeit, seine Anspielung auf Marie oder dass der Prolet das Wort oxidieren kannte.
„Mann, da sind wahrscheinlich Menschen gestorben! Ist dir das so egal? Bist du so scheiße cool, dass du deine Sprüche nicht mal jetzt stecken lassen kannst?"
„Ohoooo..." höhnte Mike, „Hört euch den Hosenscheißer an."
Er und seine Kumpels lachten.
„Wir leben aber noch, Hosenscheißer. Und so was wie heute passiert jeden Tag auf der Welt. Da brauchst nur mal die Nachrichten einschalten."
„Du bist so ein Arschloch."
Max drehte sich wieder um. Er überlegte gerade, Jan-Lukas bei der Pause zu fragen, ob er sich für den Rest des Weges zu ihm setzen dürfe, denn er saß in seiner Reihe ja ebenfalls allein. Doch plötzlich flog sein Kopf nach hinten und seine Schädeldecke brannte. Wieder hatte Andy seine Haare gepackt. Mike stand bereits neben seinem Sitz.
„Hast du vorhin denn gar nichts gelernt? Du legst es wohl echt darauf an."
Max begann zu schreien:
„NEIN! Lasst mich! Ich will..."
Der ganze Bus schrie in Panik auf. Ein grelles Licht brannte sich in Max Augen. Er wurde blind. Der Bus begann zu holpern und zu schwanken wie ein entgleisender Zug. Max versuchte verzweifelt, sich am Vordersitz festzuhalten. Erst da bemerkte er, dass er wieder frei war. Andy hatte seine Haare losgelassen. Etwas Hartes war ihm in den Schoß gefallen, genau auf sein Buch, das immer noch dort lag. Außerdem lief eine Flüssigkeit über seine Schulter, den Arm und die Brust, so warm, dass es sich fast angenehm anfühlte.
Einem Wimpernschlag später kehrte sein Augenlicht wieder. Mike war verschwunden, er sah nur noch Tim und Cord, wie sie in Panik die Arme über dem Kopf hielten. Max tat es ihnen gleich und er erkannte Andys Gesicht.
Es war das letzte, das er sah, bevor der Bus mit einem schrecklichen Knall gegen einen Baum krachte und der blaue Sitzbezug auf sein Gesicht zuraste. Für einen Moment lang hörte er noch das panische Kreischen seiner Mitschüler. Dann wurde alles schwarz.
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