Die Zehen eines Nandus
Als der Morgen graute, wurde Leon von Wasi geweckt. Müde streckte er sich, denn nach seiner eigenen schaurigen Wachschicht und der Begegnung mit der eigenartigen Kreatur hatte er kaum noch geschlafen. Seine Beine waren völlig verkatert, wie er befürchtet hatte.
Scheiße... Wie weit sind wir denn gestern bloß gelaufen?
Sie tranken alle einen Schluck Wasser, doch das Frühstück musste leider ausfallen. Leon knurrte fürchterlich der Magen, denn seit gestern Nachmittag hatte er nichts mehr gegessen. Der Müsliriegel hatte ihn auch nicht richtig satt gemacht. Wenigstens hatten sie etwas Wasser gesammelt.
Weil ihre Rucksäcke nun mächtig schwer und Wasis Füße völlig zerschunden waren, kamen sie viel langsamer voran als gestern. Um die Mittagszeit begann es wieder zu regnen. Gottseidank hatte Heinrich seine Zeichen in die Baumrinde geritzt, denn in den Senken und Tälern, die sie durchwanderten, hatte sich der Boden bald in einen matschigen Pfuhl verwandelt. Leon war dankbar für seine Wanderstiefel, denn einige Male war beim Durchwaten einer Pfütze bereits mit dem Fuß in einer solchen stecken geblieben. Die Zeichen, die sie zu Beginn ihrer Wanderung aus Zweigen gelegt hatten, waren vom Regen sicherlich schon lange fortgespült worden.
Die Stunden verflogen auf ihrem langen Marsch in die Richtung, aus der sie gestern gekommen waren. Jedoch sah die Landschaft nun völlig verändert aus. Als die Jungs über den Hügel wanderten, von dem sie gestern Heinrichs Rinder gesehen hatten, konnten sie die Ebene nur noch wenige Meter weit einsehen. Der Nebelschleier hatte sich darüber gelegt und versteckte alles. Tiere, Bäume, ja sogar die Berge, die zuvor noch einen atemberaubenden Hintergrund gebildet hatten, waren nicht mehr zu sehen. Es regnete unaufhörlich weiter und auch der Wind wurde stärker. Die Bäume wiegten sich dabei und knarrten; und hin und wieder fielen ein dünne Äste und merkwürdige Zapfen vor ihnen auf den Boden. Donner und Blitz sahen sie zwar nicht, doch auch ohne Gewitter wurde den Jungs immer unbehaglicher zumute.
„Heinrich! Komm mal! Du kennst dich doch aus. Was sind denn das für Fußabdrücke?"
Wasi, der einige Schritte zurücklag, hatte offenbar eine Entdeckung gemacht. Er kniete auf dem Waldboden und deutete auf eine Reihe von mehreren Trittsiegeln, die offenbar von mehreren Einzeltieren stammten.
„Hmm, ich weiß nicht genau", sagte Heinrich. „Der Regen hat sie schon verwischt. Vielleicht von ein paar Vögeln."
„Vögel mit nur zwei Zehen?" Wasi war nicht überzeugt. „Was für ein Vogel hat denn nur zwei Zehen? Sieht für mich eher nach Hufabdrücken aus."
„Weißt du was, Wasi? Du hast wirklich keine Ahnung, mein kleiner dunkler Freund. Die Zehen liegen zu weit auseinander für ein Huftier. Das war ein Vogel. Schau mal! Hier sieht man sogar noch einen Krallenabdruck."
„Das muss aber ein echt großer Vogel gewesen sein", entgegnete Lein, der immer nicht überzeugt war. „Gibt es in Argentinien oder Chile so große Vögel?"
Leon dachte an seine Begegnung von gestern Abend. Hatte das Tier, das die Ratte gefressen hatte, vielleicht diese Fußabdrücke hinterlassen? Leon konnte sich nicht mehr erinnern, ob die Kreatur auf zwei oder auf vier Beinen gelaufen war, darauf hatte er nicht geachtet. Nur auf diese unheimlichen Augen. So schnell wie das Tier erschienen war, war es auch schon wieder verschwunden.
„Ich glaube, die heißen Emus." Leon stand wieder auf und wischte sich die Regentropfen aus dem Gesicht.
War das Tier von gestern vielleicht ein Emu? Ein kleiner, noch nicht ausgewachsener Emu vielleicht? Aber fressen Emus denn Ratten?
„Auch du hast keine Ahnung, mein lieber Leon." Heinrichs Stimme klang dabei wieder etwas freundlicher. „Emus leben in Australien. Wenn wir in Südamerika sind, heißen die Vögel Nandus. Es gibt übrigens auch wildlebende Nandus in Norddeutschland. Die sind da so um die Jahrtausendwende aus einer Zucht abgehauen und gedeihen nun prächtig."
Leon lachte. „Was du nicht alles weißt, Heinrich. Haben Nandus denn nur zwei Zehen?"
„Zwei Zehen, drei Zehen... Was macht das schon für einen Unterschied. Ich glaube, die haben drei..." Heinrich erkannte, dass sie hier nicht mit ihrer Weisheit weiterkamen und wurde ungeduldig. „Ach, keine Ahnung. So genau hab ich mich mit den Viechern nicht auseinandergesetzt."
„Weißt du, was Nandus fressen?" fragte Leon neugierig.
„Am liebsten fressen sie nervige, rothaarige Jungen. Vielleicht sollten wir jetzt mal langsam weitergehen, Leute."
Leon stand auf und sie setzten ihren Marsch fort. Er hatte den Anderen nichts von seiner unheimlichen Begegnung erzählt, weil er ihnen keine Angst machen wollte. [...] Wahrscheinlich war es wirklich ein harmloser Nandu gewesen. Vielleicht hätten Heinrich und Wasi ihn sogar ausgelacht, und Leon hasste es, wenn ihn jemand auslachte, fast so sehr wie Heinrich es tat.
Nachdem die vierte Pause gemacht hatten, ließen sie Wasi vorgehen, denn der arme Kerl war mittlerweile wirklich langsam geworden und beklagte sich ständig über Heinrichs Tempo. Der Regen ließ auch am späten Nachmittag nicht nach, als sie schließlich die letzte Markierung erreichten, die sie gestern in einen Baum geritzt hatten. Doch dahinter fanden sie die Zeichen, die sie anfangs noch auf dem Boden ausgelegt hatten, nicht mehr wieder. Wasi verlangte wieder nach einer Pause, also gingen sie zur letzten Markierung an einem großen Ginkgobaum zurück und setzten sich in der Nähe auf einen großen umgestürzten Baumstamm, der mit einem bequemen Polster aus Moos bewachsen war.
„Was sollen wir jetzt machen?", fragte Leon und hatte Bedenken, jetzt weiter zu gehen, denn bei dem Regen würden sie sicher bald die Orientierung verlieren. Zwar war der Wald inzwischen wieder etwas lichter geworden, aber wegen des Nebels konnte man trotzdem kaum etwas sehen.
„Wir warten am besten hier, bis es aufgehört hat, zu regnen." Wasi lief das Wasser an der Nase aus dem Gesicht und fiel in dicken Tropfen auf seine Stiefel.
„Wie geht es deinen Füßen?", fragte ihn Heinrich besorgt.
„Ach, ist nicht so schlimm", antwortete Wasi tapfer.
Heinrich zündete sich eine Zigarette an, konnte sie aber nur zur Hälfte aufrauchen, bevor sie völlig durchgeweicht war und ausging. Verärgert schnippte er sie weg.
„Es wird bestimmt bald schon wieder dunkel", befürchtete Leon. „Was machen wir, wenn es wieder die ganze Nacht regnet?"
Der Gedanke, noch eine Nacht in einem unheimlichen, unbekannten Wald zu verbringen, ließ ihn erschaudern. Heute hatten sie noch überhaupt keine Tiere gesehen, weder irgendwelche seltsamen Vögel oder Emus, noch Heinrichs Rinder. Auch Leons Kreatur mit den großen Augen, die er immer noch verschwiegen hatte, ließ sich nicht blicken.
Was, wenn es hier gefährliche Raubtiere gibt? Wenn wir in Südamerika sind... Wer weiß, was sich hier so alles rumtreibt?
Zugegeben, im Bus wären sie auch nicht viel sicherer gewesen, jetzt wo die Rückwand fehlte und auch die Frontscheibe zerbrochen war. Aber an eine Gruppe von dreißig Menschen traute sich so ein Vieh bestimmt nicht so einfach heran. Bei drei völlig durchnässten, müden Jungs sah es sicher anders aus, auch wenn der eine ein Riese war und ein großes Messer dabei hatte.
„Eigentlich kann es doch nicht mehr so weit sein", vermutete Leon schließlich. „Wir haben doch bestimmt nur zehn Astzeichen gelegt. Ich würde vorschlagen, Wasi bleibt hier und wir beide suchen den Bus. Wir bleiben dabei immer in Hörweite voneinander. Wir hätten morgen ja genau das gleiche Problem, also lass uns losgehen. Ich würde ungern die Nacht auf diesem Baumstamm verbringen."
„Hmm...", brummte Heinrich in seinen Bart, den er nicht hatte, und stimmte Leon schließlich zu. Sie riefen immer wieder ihre Namen, was angesichts der Lage schon etwas lustig war. Leon musste ein paarmal lachen, doch erfüllte das alberne Rufen seinen Zweck. Die Anordnung der Bäume kam Leon der Bäume nun immer bekannter vor.
Sind wir hier nicht gestern schon einmal gewesen?
Je weiter Leon ging, umso vertrauter begann ihm alles zu erscheinen. Er ging ein Stück weiter, rief drei weitere Male Heinrichs Namen, welcher ihm entsprechend antwortete, und blieb auf einem kleinen Hügel stehen. Wieder hatte Leon das Gefühl, hier schon einmal gewesen zu sein, doch in der Senke lag der Nebel immer noch schwer und ließ nichts genau erkennen. Er folgte dem Hügel abwärts, bis er vor einer Maispflanze schroff begrüßt wurde. Es musste eine der Pflanzen aus dem Heimat-Kreis sein, der sie in diese merkwürdige Wildnis begleitet hatte.
Wir haben es geschafft!
Leon rief voller Freude nach den Anderen und riss hungrig einen Maiskolben ab. Obwohl noch nicht richtig reif, hatte er ihn schon halb aufgegessen, als die anderen ihn erreichten. Zuerst kam Heinrich aus dem Nebel, dann schließlich auch Wasi und auch seine Freunde machten sich gierig über einen Maiskolben her. Schließlich hatten sie seit gestern außer einem einzigen Müsliriegel nichts gegessen. Wie hungrig lange Märsche machen, merkte Leon, als schließlich etwa zwölf abgeknabberte Maiskolben und ihre Schalen auf dem Boden lagen, bevor sie sich wieder auf den Weg machten.
Es ist ja jetzt nur noch ein winziges kleines Stück.
Nach nur wenigen Schritten sah Leon den Bus, dessen rechteckige, gespenstisch weiße Silhouette ihm ein seltsames Gefühl von Geborgenheit schenkte. Warum, konnte er nicht sagen, schließlich waren sie immer noch weit von jeder Rettung entfernt. Leon malte sich bereits aus, wie es wohl sein würde, wenn sie von ihrer Wanderung berichteten. Wahrscheinlich würden alle bitter enttäuscht von ihrem Misserfolg sein, und vielleicht hatten sie nur wertvolle Zeit verschwendet, die den Verletzten nun sogar bitter fehlen könnte. Nichts hatten sie da draußen gefunden und noch weniger erreichen können: Keine Hilfe, weder Nahrungsmittel noch Anzeichen menschlicher Zivilisation, obwohl sie ganze eineinhalb Tage unterwegs gewesen waren. Zwar hatten sie jetzt Wasser, aber das hätte man auch beim Bus sammeln können. Es regnete schließlich noch immer.
Wie es Frau Lehmann wohl geht? Hoffentlich hat der Verband gehalten.
Leon kaute auf einem Maiskorn, das ihm zwischen den Zähnen klebte, als er bemerkte er, dass hier etwas nicht stimmte. Der Bus sah ganz anders aus, als er ihn in Erinnerung hatte.
PLATSCH.
Leon war in eine tiefe Pfütze getreten, hatte das Gleichgewicht verloren und war mitten in sie hineingefallen. Unten im Matsch fiel die seltsame Form des Wasserlochs auf: Es hatte drei dicke Abzweigungen, war etwa zwanzig Zentimeter tief und fast einen Meter lang. Seltsamerweise waren am Boden noch viele andere Pfützen, die ganz genau so aussahen, wenn sie auch wesentlich kleiner waren als die, in der er lag.
„Oh mein Gott... Seht mal! Der Bus!", rief Heinrich, dem das Lachen über Leons Missgeschick offenbar gerade im Hals stecken geblieben war.
Während Leon sich wieder auf die Beine brachte, liefen Heinrich und Wasi auf die Lichtung und den großen Baum zu. Er stand wieder allein. Der Bus war ein ganzes Stück vom Baum weg- und offenbar von irgendetwas wirklich Großem beiseitegeschoben worden. Die Seite des Busses war teilweise eingedrückt und alle Fenster waren zersprungen. Es sah so aus, als wäre der Bus von einer Lokomotive gerammt worden. Der ganze Platz davor war übersäht mit Scherben und diesen seltsamen Pfützen, in denen die herabfallenden Regentropfen immer größer werdende Ringe hinterließen. Als wäre der Anblick des nun völlig zerstörten Busses, der kaum noch als solcher zu erkennen war, nicht schon schlimm genug gewesen, so stellte Leon fest, dass niemand mehr dort war. Die ganze Klasse, Frau Lehmann, Herr Arnold und auch diese Frau, Melissa oder wie sie hieß und auch ihr kleiner Junge waren verschwunden.
„Was ist hier passiert?", fragte Wasi verzweifelt. „Wo sind die anderen?"
Die dicken Tropfen, die an seinen Wangen und seiner Nase herabliefen, wirkten wie ein Heulstrom. Leon starrte zu Boden und nahm die seltsamen Pfützen genauer unter die Lupe.
Zwei Zehen, drei Zehen... Was macht das schon für einen Unterschied?
Auf einmal schlug es bei Leon ein.
„Mein Gott, Jungs, sind das etwa... Fußabdrücke?"
Leon deutete auf die vielen Pfützen. Das war unmöglich. Es gab kein Wesen auf der Welt, das solche großen Abdrücke hinterließ. Jedenfalls nicht mehr. Leon fielen plötzlich die Namen von den großen Urzeitmonstern ein, für die er sich in seiner Kindheit noch so sehr interessiert hatte.
Tyrannosaurus, Spinosaurus, Allosaurus, Carnotaurus...
Heinrich stand zwischen der eingedrückten Front des Busses und der großen Araukarie, deren Stamm sichtlich genauso unter dem Aufprall gelitten hatte wie der Bus. Er hob etwas vom Boden auf und ließ es mit einem Schrei sofort wieder fallen. Dabei stolperte er voller Entsetzen so unglücklich zurück, dass er ausrutschte und auf den Hintern fiel. Leon hatte ihn noch nie so entsetzt gesehen. Als er zu seinem Freund hinüberrannte, erkannte Leon mit Entsetzen, was Heinrich so in Panik versetzt hatte. Diesmal war es kein komischer blauer Vogel.
Es war eine Hand. Zumindest der obere Teil davon, ein Teil des Handrückens mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger. Wasi weinte nun tatsächlich und auch Leon war danach zu Mute. Er sah sich immer noch mit wild schlagendem Herzen um, sah das offene, leere Grab und hoffte so sehr, dass die blutige Hand zu dem toten Busfahrer gehörte und nicht zu einem seiner Mitschüler.
Auf einmal hörte Leon ein leises Wimmern. Er dachte erst, er hätte es sich eingebildet. Doch da war es wieder. Es rief ihre Namen! Die drei Jungs rannten durch den Regen zurück zum Bus.
„Helft mir! Oh mein Gott, ich bin so froh, dass ihr da seid!" Leon erkannte Frau Lehmanns Stimme, doch er sah sie nicht.
„Frau Lehmann! Wo sind Sie? Frau Lehmann!?", rief er hastig um den Bus springend und von Angst getrieben.
„Hier unten! Unter dem Bus.", stöhnte die Stimme blechern. „Hilfe! Ich komme nicht raus."
Als die Jungs den Ursprung der Stimme endlich entdeckten, packten sie zu dritt an und zogen die völlig durchnässte Lehrerin unter dem Bus hervor. Ihren Verband am Bein hatte sie mit ihrer Regenjacke vor der Nässe und dem Matsch geschützt, indem sie ihn damit abgebunden hatte.
„Frau Lehmann, was ist hier passiert?", polterte Heinrich, der sie nun stützte.
„Wo sind die anderen?", warf Leon aufgeregt hinterher, und schaute der Lehrerin in die Augen. Sie starrten nur den Waldrand an und waren mit nackter Angst beschrieben. Die Lehrerin zitterte. Sie stand sichtlich unter Schock. Leon folgte den Blicken und war kurz davor, den Verstand zu verlieren.
„Sie... sie... Es waren sechs...", stotterte Frau Lehmann, der die Tränen in die Augen schossen. „Oh, mein Gott, Jan-Lukas..." Frau Lehmann brach in Heinrichs Armen zusammen und krallte sich fest. In ihrer Stimme manifestierte sich ihre Angst zu reiner Panik. „Wir müssen hier sofort weg! Los! Helft mir! Bitte! Die...die... anderen... Ich glaube, sie sind da lang. Wir müssen sie finden. Diese... Monster..."
„Was für Monster?", fragte Leon, doch kam es ihm in den Sinn, dass er die Antwort vielleicht gar nicht wissen wollte.
Die Lehrerin verdrehte die Augen und es war nur noch der weiße, verweinte Augapfel in ihren zitternden Lidern zu sehen.
„Was für Monster, Frau Lehmann?" Leon wiederholte seine Frage, doch es war vergebens. Frau Lehmanns nach hinten geklappte Augen schlossen sich. „Nein, bleiben Sie wach! Bitte, bleiben Sie bei uns!"
Doch Frau Lehmann sagte kein Wort mehr. Blut lief an ihrem Bein dem Boden entgegen. Die Dunkelheit brach herein und die Lehrerin in Heinrichs Armen zusammen. Ihre Schüler ließ sie mit tausend Fragen im Regen zurück.
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