Kapitel 6
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Mit schmerzenden Rippen hatte Asra noch eine Weile auf dem Boden gelegen. Niemand hatte sie mehr beachtet. Kaum stiegen die Jungs vom Davis-Rudel in den Bus, lösten sich alle Grüppchen auf. Jeder eilte davon, entweder zu einem der wartenden Autos oder zum Bus.
Nur Asra blieb allein zurück. Mühsam rappelte sie sich hoch. Tränen schimmerten in ihren grünen Augen. Sie blinzelte sie weg. Auf gar keinen Fall würde sie weinen. Selbst wenn niemand zu ihr sah, konnte es doch sein, dass irgendeiner einen Blick riskierte und über die Heulsuse spottete. Das könnte sie nicht ertragen. So schniefte sie, blinzelte noch einige Male und straffte die Schultern.
Als kein Auto mehr zu sehen war, der Bus in der Ferne nicht einmal mehr als kleiner Punkt sichtbar war, musste Asra vor sich selbst eingestehen, dass ihre Mutter nicht kommen würde. Sie presste die Lippen fest aufeinander.
„Na dann", ermunterte sie sich selbst, „muss ich wohl zu Fuß nach Hause gehen."
Sie hoffte zwar, dass ihre Mutter sie unterwegs noch einsammelte, doch machte sie sich keine große Hoffnung. Immerhin war heute der abscheulichste, schrecklichste, erniedrigendste Tag in ihrem Leben gewesen. Warum sollte der zu einem guten Ende führen? In nur wenigen Stunden würde zudem der Boss vom Davis-Rudel den Schulleiter informieren, der danach ihre Mutter und letztlich gab es heftige Vorwürfe für sie, weil sie es nicht einmal einen Tag geschafft hatte, sich an der neuen Schule zu benehmen.
Wer weiß, vielleicht gab es in der Umgebung gar keine andere Schule. Was passierte dann? Noch gab es so etwas wie Schulpflicht. Sie war erst fünfzehn. In einem Monat wurde sie sechzehn. Würde ihre Mutter mit ihr zurück in die Stadt ziehen, wenn sie von der Schule flog? Das wäre dann doch ein echter Hoffnungsschimmer und ein superguter Abschluss für diesen bisherigen grauenvollen Tag.
Sie seufzte. Vor einer Woche hatte sie noch Pläne mit ihren Freundinnen geschmiedet, was sie alles machen könnten. Sie war die Älteste der Clique gewesen und hatte heimlich gespart für einen Führerschein. Mit einem eigenen Auto durch die Gegend fahren, das war ihr großer Traum gewesen. Es musste kein schönes Auto sein, es durfte ein alter Klapperkasten sein. Hauptsache ein Auto, mit dem sie ihre Freundinnen zur Schule kutschieren konnte. Was würden alle neidisch zu ihnen blicken! Asra, Nishant und Sandra, die unzertrennlichen Drei!
Asra musste vor sich selbst eingestehen, dass sie ein klein wenig gehofft hatte, etwas mehr Aufmerksamkeit von den Jungs zu bekommen. Auch wenn sie sich seit der Trennung vom Vater gegen alle Jungs aussprach, war das vorher nicht so gewesen. Nishant, Sandra und sie hatten sich jede einen Jungen auserkoren, den sie herumkriegen wollten für den ersten Kuss. Sandra als die hübscheste von ihnen hatte es sogar schon geschafft, ein Date zu bekommen. Nur der Kuss fehlte noch. Nishants Eltern passten zu gut auf, deshalb konnte sie sich nicht verabreden. Und Asra war einfach zu langweilig. Niemand interessierte sich wirklich für sie. Ihre dunkelbraunen Haare waren nicht der Hingucker. Es gab sogar einige, die behaupteten, das wäre kein dunkelbraun, sondern schon schwarz mit einem bläulichen Schimmer. Schön waren die nicht, blond war der Renner. Die Jungs an ihrer alten Schule standen auf rotblonde oder hellblonde Mädchen. Deshalb waren ein Auto und der Führerschein ihr absoluter Traum.
Sie blickte zurück. Die Schule war kaum noch zu sehen. Aber eigentlich bedeutete das nichts. Schließlich war es ein heller Flachbau. Der hob sich nicht wirklich von der Umgebung ab. Aus der Entfernung wirkte es fast wie eine Sonnenspiegelung in der Wiese. Seufzend drehte sie sich wieder um und marschierte weiter. Bis nach Hause war es ein weiter Weg und sie hatte viel Zeit, all ihren alten Träumen hinterher zu hängen.
Irgendwann holte sie aus ihrer Tasche ihr Handy. Sie wollte ein paar Bilder ansehen, um melancholisch an die schöne alte Schule erinnert zu werden und natürlich ihre allerbesten besten Freundinnen. Vielleicht auch ein paar Fotos schießen für ihre BFF. Irgendwann hatte sie bestimmt wieder Netz. Es konnte doch nicht sein, dass dieser Landstrich komplett ohne Satellitenempfang war.
Irgendwann? Mit einem Schrei realisierte sie, dass sie hier auf der Landstraße tatsächlich Netz hatte! Mit zitternden Fingern wischte sie durch die Millionen Nachrichten. Anrufe über Anrufe, Kurznachrichten, kleine Bilder, die Flut an Übermittlungen hörte gar nicht mehr auf!
„Oh mein Gott, das ist doch nicht möglich", kreischte sie und ihre Augen leuchteten überglücklich. Ihre Freundinnen hatten sie nicht vergessen. Sie waren ihr nicht böse. Sie machten sich in Wahrheit unglaubliche Sorgen.
Hastig wählte sie Nishants Nummer.
„Du treulose Tomate!", erklang eine helle, vorwurfsvolle Stimme. „Was ist los mit dir? Die Wagner sagte, du bist umgezogen. Irgendwohin aufs Land. Aber das kann doch nicht sein. Das hättest du uns doch gesagt. Uns, deinen BFF. Oder?"
„Nisha", stoppte Asra den Redefluss, „ich bin umgezogen. Mom und Dad haben sich getrennt und Mom hat ein Haus irgendwo auf dem Land gemietet. Sie hat hier auch schon Arbeit. Das haben die beiden alles gemacht, während wir im Sommercamp waren."
„Ist nicht wahr!"
„Doch, echt. Ich war so geschockt, dass ich nach dem Lager nur noch ins Auto gestiegen bin, und dann waren wir schon hier, in der Einöde ohne Netz."
„Wie, kein Netz? Wir reden doch gerade."
„Ja, das ist eine lange Geschichte. Du, hast du Zeit?"
„Natürlich habe ich Zeit!"
Damit es zumindest den Anschein hatte, als wären sie zu dritt zusammen, machten sie eine Konferenzschaltung mit Sandra. Es tat Asra so gut, das Lachen und Kreischen ihrer Freundinnen zu hören. Während sie weiter die Straße entlang marschierte, unterhielten sie sich, tauschten sich über ihre Erlebnisse des ersten Schultages aus.
Die Freundinnen hatten einen schönen ersten Schultag gehabt. Kein Wunder, sie waren auch nicht neu an ihrer Schule. Es tat so gut, alles erzählt zu bekommen. Fast bekam Asra das Gefühl, als wäre sie selbst dort gewesen und hätte es miterlebt. Ihr Herz wankte zwischen Freude und Trauer. Je länger sie miteinander redeten, desto intensiver wurde ihr Wunsch, zurückzukehren in die Stadt, auf diese Schule, zu ihren besten Freundinnen. Sie wollte auch erleben, wie Frau Wagner schreiend vor dem Tafelschwamm zurückgewichen war, weil sich eine Spinne darauf heimisch gemacht hatte. Oder wie Herrn Mendoza das Pech verfolgte und seine Präsentation ständig abstürzte. Also funktionierte auch in der Stadt die Technik nicht immer.
„Tut mir leid, Asra und Sandra, ich muss auflegen. Mom ruft zum Abendessen. Das heißt, ich muss den Tisch decken." Nishant klinkte sich als Erste aus.
Sandra und Asra redeten noch einige Minuten, dann wurde auch Sandra gerufen.
Schweren Herzens verabschiedeten sie sich und Asra starrte einen Augenblick wie verloren auf ihr Display. Die Tränen, die nun in ihre Augen stiegen, ließ sie zu. Ungehindert durften sie die Wangen hinunterkullern. Hier war niemand, der sie deswegen verspotten konnte. Sie schritt mutterseelenallein eine ihr unbekannte Straße entlang. Seit Schulschluss waren schon zwei Stunden vergangen. Doch noch immer kam ihr die Mutter nicht entgegen. Ihr Herz fühlte sich furchtbar schwer an.
„Ich hätte den Bus nehmen sollen", murmelte Asra und wischte über ihr Gesicht.
Dass sie Hunger bekam, verdrängte sie. Auch die schmerzenden Füße von dem ungewohnt langen Fußmarsch drängte sie in die hinterste Ecke ihres Verstandes. Nur den tiefen Seelenschmerz, weil sie das Gefühl hatte, ihre Freundinnen soeben ein zweites Mal verloren zu haben, den konnte sie nicht verdrängen.
Sie blieb stehen und wollte gerade das Handy in ihre Tasche packen, da bemerkte sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Es war eher wie ein Schatten, der am entfernten Waldrand dahin huschte. Sie schob den Kopf vor und fokussierte ihren Blick. Ja, tatsächlich, da war etwas. Sie schluckte nervös. Das war eindeutig ein Tier. Von der Größe her konnte es kein Hase sein, auch keine Katze. Es war sehr viel größer. Es lief geschmeidig wie ein silberner Schatten durch das grüne Gras. Noch einen Moment verfolgte sie das Tier, ehe sie begriff, das musste ein Wolf sein! Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es hier in der Wildnis einen Hund gab, also musste es ein wilder, gefährlicher Wolf sein!
Panik erfasste Asra. Ein Wolf. Und sie war hier allein ohne irgendetwas, mit dem sie sich notfalls verteidigen konnte. Hoffentlich rannte das Tier in den Wald. Sie reckte den Kopf und schnupperte. Mit Schreck erkannte sie, dass der Wind ungünstig stand. Automatisch duckte sie sich und hockte sich auf den Boden.
„Hoffentlich hat er mich nicht entdeckt", murmelte sie und drückte sich so dicht an den Boden, dass selbst die Wiese höher war.
Ihr Herz klopfte heftig und wild in ihrer Brust. Wie hatte ihre Mutter ihr das nur antun können? Sie wollte doch unbedingt sechzehn werden und ganz bestimmt nicht mit fünfzehn die Beute eines gefährlichen, riesigen grauen Wolfes.
Wölfe, ging es ihr durch den Kopf, lebten in Rudeln. Fast hätte sie aufgelacht. Rudel. Na fantastisch, sie hätte es wissen müssen. Hier sprachen alle von Rudeln, weil sie sicherlich von den Wölfen wussten, die hier ihre Reviere hatten. Warum hatte denn niemand sie gewarnt? Das war doch fahrlässig! Auch wenn man sie als Außenseiterin nicht mochte, durfte doch kein Lehrer sie einem Wolfsrudel ausliefern!
Vorsichtig und ganz langsam schob sie das Handy vor ihr Gesicht, tippte herum und fand schließlich die Kurzwahl für ihre Mutter. Sie musste einfach darauf vertrauen, dass diese Feierabend hatte und kommen konnte. Und sie musste darauf vertrauen, dass dieser Wolf tatsächlich im Wald verschwand und kein Rudel auftauchte. Warum, verdammt nochmal, stand der Wind auch so ungünstig? Wölfe konnten viel besser riechen als Menschen. Vielleicht hatte er während seines Laufs ihren Duft aufgeschnappt. Sie wagte es nicht, den Kopf zu heben. Wölfe konnten auch besser sehen als Menschen, so viel wusste sie noch aus dem Biologie-Unterricht. Jede Bewegung könnte sie also verraten.
Wieder tropften Tränen ihre Wangen hinunter.
„Ich bin zu jung zum Sterben", flüsterte sie und starrte zitternd auf ihr Display.
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Asra hatte Glück. Es vergingen Minuten und nichts geschah. Das bedeutete dann wohl, dass sie sich gerade noch rechtzeitig zu Boden geworfen hatte. Der Wolf hatte sie nicht bemerkt und war ganz sicher im Wald verschwunden.
Die Uhr auf dem Display ihres Handys zeigte ihr, wie die Minuten verrannen. Nach zehn Minuten versuchte sie erneut, ihre Mutter zu erreichen. Doch ihr erklang nur ein Freizeichen entgegen. Sie wischte über die Wangen, um die restlichen Tränen zu entfernen. Nach weiteren zehn Minuten erhob sie sich langsam. Da war niemand zu sehen und auch keine Gefahr zu spüren. Dennoch blieb das unangenehme Gefühl. Warum nur kam ihre Mutter nicht? Weshalb ging sie nicht an ihr Handy?
Deutlich angespannt machte sich Asra wieder auf den Weg. Sie hatte keine Ahnung, wie weit es noch war. Aber sie wusste, dass in fünfhundert Metern der Wald anfing. Wenn es hier schon Wölfe gab, vielleicht auch Wildschweine? Sie überlegte, welche Tiere noch im Wald lebten, die einem Menschen gefährlich werden konnten. Gab es nicht überall auf dem Kontinent Jaguare? Aber wahrscheinlich siedelten sie sich nicht im gleichen Gebiet wie Wölfe an. Da würden sie sich nur die Nahrung streitig machen. Ein Schauer rann über Asras Rücken. Wovon ernährten sich denn die Wolfsrudel in dieser Gegend? Hatte sie deshalb noch keine Hasen oder Rehe entdeckt, weil die Wölfe diese Tiere dezimierten?
„Hör auf, in diese Richtung zu denken", ermahnte sie sich. Denn ihr nächster Gedanke war natürlich, ob die Wölfe vor lauter Hunger zu Menschenfressern geworden waren. Der Gedanke beschäftigte sie so nachhaltig, dass sie noch einmal versuchte, ihre Mutter zu erreichen. Das Freizeichen klang wie eine bedrohliche Melodie in ihren Ohren. Würde es wieder erfolglos sein?
Asra wurde immer langsamer, je länger es klingelte und je näher sie dem Waldrand kam. Sie scheute sich wirklich davor, hineinzugehen. Und dann, endlich, nahm ihre Mutter das Gespräch entgegen.
„Mein Liebling, ich musste etwas länger arbeiten", klang es entschuldigend aus dem Mikro. „Hast du dir schon etwas zu essen gemacht? Oder soll ich von unterwegs etwas mitbringen?"
Asra klappte der Mund auf. Ihre Mutter glaubte tatsächlich, dass sie schon zu Hause war? Wie kam sie denn auf diese Idee? Das ärgerte sie schon ein wenig.
„Ich stehe vor irgendeinem Wald, in den vor ein paar Minuten ein riesiger Wolf gelaufen ist. Eigentlich hatte ich erwartet, dass du mich bei der Schule abholst."
Sie versuchte gar nicht, ihren Zorn zu unterdrücken. Sollte die Mutter ruhig hören, wie ärgerlich sie war.
„Vor einem Wald? Ja, bist du denn nicht mit dem Bus nach Hause gefahren?"
„Nein, natürlich nicht. Es gibt nur einen Bus und ich habe keine Ahnung, wo bei unserem Haus eine Bushaltestelle sein soll", erwiderte Asra pampig. „Außerdem fahren in dem gefühlt hundert Schüler mit, die mich wie eine Aussätzige behandeln." Da sie nun schon dabei war, ihren Frust abzulassen, setzte sie noch einen obendrauf. „Und du wirst wahrscheinlich nachher einen Anruf bekommen, dass ich von der Schule fliege, weil ich einen ehrenwerten Schüler tätlich angegriffen habe."
Es gab eine Schocksekunde, zumindest kam es Asra so vor. Danach erklang es schrill aus dem Mikro: „Du hast einen Schüler angegriffen?!"
Mittlerweile zitterte Asra vor Wut und Enttäuschung. Sie lief hier seit Stunden hungrig und durstig eine Straße entlang, hatte Todesängste auszustehen, und ihrer Mutter fiel nichts anderes ein, als ihr Vorwürfe zu machen.
„Ich soll dir von meinem Klassenlehrer ausrichten, dass wir wieder dorthin verschwinden sollen, wo wir herkommen. Eine rudellose Ni-Wa will er nicht in seiner Klasse haben." So, jetzt hatte sie ihrer Mutter wirklich was zum Grübeln gegeben. Die schien ja in ihrer heilen Welt zu leben und gar nicht zu wissen, wie dreckig es ihrer Tochter ging! „Außerdem habe ich Hunger und Durst und ich gehe jetzt in den Wald, selbst wenn mich dort zwanzig Rudelwölfe auffressen. Du kannst ja dann meine Stückchen zusammen kratzen, wenn du dich gleich auf den Weg machst, um mir entgegenzufahren."
Asra legte auf und schob das Handy in ihre Gesäßtasche. Danach atmete sie tief durch und marschierte wieder etwas schneller weiter. Es brachte nichts, wenn sie sich langsam und abwartend vor dem Wald herumdrückte. Sie hatte keine Ahnung, wo ihre Mutter arbeitete. Es konnte Minuten oder auch Stunden dauern, bis sie hier war. Falls es tatsächlich Wölfe in der Nähe gab, war sie weder im Wald noch am Waldrand sicher. Also lohnte es sich nicht, irgendwo abzuwarten, bis die Mutter kam.
Das Handy klingelte und vibrierte in der Hosentasche. Asra ignorierte es. Sie hatte keinen Bock, jetzt mit ihrer Mutter zu reden. Dafür war sie viel zu wütend. Alle schlimmen Situationen vom Schultag gingen ihr durch den Kopf. Da gab es viel zu viele. Das einzig Schöne waren die dunkelbraunen Augen von Jaro gewesen. Sein warmer Blick. Als ob er sie um Verzeihung bitten wollte für die Bösartigkeit seiner Geschwister.
Asra überlegte, warum er so anders war. Normalerweise waren hübsche Jungs doch immer total eingebildet und von sich selbst überzeugt. Sie gaben sich nur mit anderen Schönlingen ab. Dazu zählte Asra wirklich nicht.
Ein Knacken ließ die Fünfzehnjährige zusammen fahren. Sie blieb sofort stehen und lauschte. Das Geräusch war von rechts gekommen. Konnte es sein, dass der Wolf sein Revier abgelaufen war und sich nun auf dem Rückweg befand? Nervös checkte sie die Bäume, ob einer dabei war, auf den sie klettern konnte. Von Hunden hatte sie noch nicht gehört, dass diese auf Bäume kletterten. Also würden Wölfe das auch nicht machen. Hoffentlich!
Es knackte erneut. Diesmal kam das Geräusch aus einer Richtung schräg vor ihr. Das Tier, wenn es wirklich nur eines war, befand sich nicht mehr allzu weit entfernt. Rasch eilte sie zu einem der Bäume, der ihr am ehesten geeignet schien, und hangelte sich Stück für Stück nach oben. Nur gut, dass sie schon immer sehr sportlich war und auch gern kletterte.
Keine dreißig Sekunden später hörte sie ein Hecheln. Und nur Sekunden danach brach tatsächlich der erwartete Wolf aus dem Unterholz hervor. Ihre Augen weiteten sich vor Staunen. So riesig hatte sie sich diese Raubtiere nicht vorgestellt. Was für ein Glück, dass sie Schutz auf dem Baum gesucht hatte. Der Wolf ging ihr sicher bis zur Brust! Der könnte sie auch ganz allein ohne sein Rudel niederwerfen und töten.
Das Tier blieb an der Straße stehen und schien zu schnuppern. Verdammt. Was hatte sie vorhin noch gedacht über den Geruchssinn von Wölfen? Sie durfte jetzt keine falsche Bewegung machen. Sie wagte es nicht einmal, tief einzuatmen oder zu prüfen, in welche Richtung der Wind zog.
Bitte lass meinen Geruch nicht in seine Nase ziehen, dachte sie und hielt automatisch die Luft an. Als ob das half. Aber instinktiv tat sie alles, um sich so unsichtbar wie möglich zu machen. Dazu gehörte nun einmal auch, kein Geräusch durch vielleicht zu lautes Atmen zu verursachen.
Waren es mehrere Sekunden oder doch eher nur der Bruchteil einer Sekunde? Sie wusste es nicht. Auf jeden Fall kam es ihr endlos lang vor, wie sie da oben hockte und zu dem riesigen Grauen hinunter blickte. Und dann hob er seinen Kopf, drehte ihn und ...
Ihr Herz schien auszusetzen.
Er sah genau zu ihr nach oben! Blaugraue, stählerne Augen starrten sie an und schienen sich bis in ihr Innerstes vorzugraben. War das etwa ein Jagdtrick von Wölfen, das Opfer mit einem durchdringenden Blick zu hypnotisieren? Sie hatte bisher nur gelesen, dass Schlangen das machten. Ob es stimmte, hatte sie nie überprüft. Hier im Wald auf dem Baum kam es ihr auf jeden Fall sehr wahr vor. Dabei befand sich da unten ein Wolf und keine Schlange.
Asra hörte ein leises Knurren. Es schien tief aus der Kehle des Grauen zu kommen. Er machte einen Schritt in ihre Richtung, stieß ein lauteres Knurren aus und seine Augen fixierten sie richtig unheilvoll.
Schweiß brach ihr aus und ihr Herz galoppierte in einem wilden Takt. Eine Panikattacke überkam sie. Die Sehnsucht nach ihrem alten, sicheren Leben in der Stadt wuchs ins Unermessliche. Sie schwor sich, nie mehr mit ihrer Mutter zu streiten. Nie mehr schlecht über den Vater zu reden. Sie würde nie mehr lügen, nicht heimlich naschen. Aber bitte, bitte, dieser Wolf sollte verschwinden und nie mehr auftauchen!
Noch ein Schritt zu ihr herüber. Er bleckte die Zähne, sein Nackenfell war gesträubt. Angsttränen rannen aus ihren Augen.
„Ich bin hier sicher", murmelte sie zittrig, „er kann nicht auf Bäume klettern."
Sie drängte sich dichter an den Stamm. Hätte sie höher klettern sollen? Aber woher hätte sie wissen können, dass er so groß war? Sie hatte mit einem Tier gerechnet, das ihr vielleicht bis zum Oberschenkel reichte, doch nicht bis zur Brust! Wenn er seinen Kopf streckte, zerbiss er direkt ihre Kehle, wäre sie noch am Boden!
Asra wagte es nicht, nach unten zu blicken und zu prüfen, ob er an sie herankäme, wenn er sich mit den Vorderfüßen am Baum aufrichtete. Sie konnte einfach nicht den Kopf abwenden. Vielleicht auch aus Angst, einen möglichen Angriff zu verpassen, wenn sie auch nur eine Sekunde woanders hinsah.
Plötzlich lief er los. Oh nein, bitte nicht! Er rannte über die Straße. Sie riss die Augen weit auf. Erinnerungsfetzen von Rettungshunde-Shows gingen ihr durch den Kopf. Polizeihundtraining. Diese Hunde konnten nicht nur weit, sondern auch hoch springen. Würde der Wolf nun zu ihr in den Baum springen? Sie fing an, vor Panik heftig zu zittern. Gleich war es vorbei. Gleich war er da und ...
Und dann hörte sie es ... Motorengeräusch!
Der Wolf schien es auch zu hören. Zumindest brach er den Angriff ab und sah zur Straße zurück. Noch war nichts zu sehen. Aber das Geräusch kam schnell näher. Das musste ihre Mutter sein! Wer sonst sollte jetzt hier entlangfahren? Immerhin war sie stundenlang unterwegs gewesen und niemand war ihr begegnet.
„Mom, bitte sei du es", flüsterte Asra und blickte von der Straße zum Wolf und wieder zur Straße.
Er hatte wohl genug gesehen. Er sah noch einmal zu ihr hoch, knurrte bedrohlich und dann lief er davon. Kurz blitzte sein silbergraues Fell zwischen den Bäumen auf, danach war er verschwunden.
Sie wagte es noch nicht, vom Baum zu klettern. Erst als sie das Auto herannahen sah, sprang sie hinunter und eilte zum Straßenrand. Jetzt war sie gerettet!
·̩̩̥͙**•̩̩͙✩•̩̩͙*˚˚*•̩̩͙✩•̩̩͙*˚*·̩̩̥͙·̩̩̥͙**•̩̩͙✩•̩̩͙*˚˚*•̩̩͙✩•̩̩͙*˚*·̩̩̥͙
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DANKE FÜRS LESEN
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