Kapitel 1
°°••ASRA••°°
Es war finster und kalt. Der Mond wurde immer wieder von vorbeiziehenden Wolken verdeckt. Das Rauschen der Blätter im Wind durchdrang die Dunkelheit – gespenstisch und unheilverkündend. Ab und zu erklang der Ruf von Nachtvögeln, die in der Dämmerung jagten.
Asra schlang die Arme um sich. Zitternd stand die Fünfzehnjährige an ihrem Zimmerfenster und starrte hinaus auf den nahegelegenen Wald. Es war die dritte Nacht, die sie unruhig am Fenster zubrachte. Sie hatte keine Ahnung, was mit ihr los war. Sie fühlte eine stetig anwachsende Unruhe in sich und wünschte, das würde endlich aufhören.
„Wir hätten nicht umziehen sollen", murmelte sie.
Ihren Blick hielt sie starr auf die Bäume gerichtet, so, als ob von dort eine Antwort käme. Irgendwer musste doch wissen, warum sie keinen Schlaf finden konnte. Oder hing das mit der ländlichen Umgebung zusammen? Vielleicht war auch die voller werdende Mondsichel schuld? Es gab ja Menschen, die auf den Vollmond reagierten. Nicht umsonst rankten sich so viele Mythen um Wolfsmenschen, die bei Vollmond den Mond anheulten und sich wandelten. Selbst das Meer reagierte auf den Mond.
„Ach Unsinn", sagte sie mit fester Stimme und runzelte die Stirn. „Ich war noch nie mondsüchtig und ich bin nicht mondsüchtig."
Es musste mit dem Umzug zusammenhängen. Von der Stadt hinaus aufs Land war nun einmal eine kolossale Umstellung. Ihr fehlten die nächtlichen, typischen Geräusche aus der Stadt: das Motorenbrummen der vorbeifahrenden Autos, das Quietschen, wenn die Müllabfuhr die Tonnen und Container leerte. Hier gab es auch keine Partygänger, die rufend, johlend und lallend an ihrem Fenster vorbeizogen. Keine Obdachlosen, die politische Parolen riefen, keine Polizeisirenen.
Es war still, viel zu still. Da konnte der Wind mit seinem Rauschen durch die Blätter im Wald auch nichts ändern. Ganz im Gegenteil wirkten diese Geräusche beängstigend. Es war fremd. Anders. Asra kannte auch die Nachtvögel nicht. Es mussten Eulen sein. Oder gab es noch weitere Vögel, die so spät auf Futtersuche waren? Fledermäuse vielleicht? Mehr Tiere fielen Asra nicht ein. Und ob Fledermäuse Geräusche von sich gaben, wusste sie nicht. Naturkunde hatte nie sehr hoch auf ihrer Interessenliste gestanden. Sie hatte auch nicht vor, das in nächster Zeit zu ändern. Sie würde alles versuchen, damit ihre Mutter zur Vernunft kam und zurück in die Stadt zog.
Langsam löste Asra ihre Arme, die noch immer fest um sie geschlungen waren, und stieß sich vom Fensterbrett ab. Sie musste schlafen. Morgen war ihr erster Schultag auf der neuen Schule, die sie ja nun besuchen musste. Auch das hatte sie total geärgert. Nicht nur, dass ihre Eltern sich aus heiterem Himmel entschlossen hatten, getrennte Wege zu gehen, nein, ihre Mutter hatte sich für ein billiges Haus irgendwo im Nirgendwo entschieden und das alles in den Sommerferien. Wann auch sonst? Als ob die Ferien irgendetwas besser oder einfacher machten. Die beiden hatten sich sogar bis zum Ende der Ferien Zeit gelassen, ehe sie Asra informiert hatten.
„Liebes, Dad und ich haben uns getrennt", hatte die Mutter vor drei Tagen gesagt.
Vor drei Tagen! Das musste man sich mal reinziehen! Wie konnte sie nur alles in die Wege leiten, während Asra im Sommerlager war? Sie hätte doch vorher irgendwas sagen müssen.
Dass ihr Vater ohne Abschied verschwunden war, ärgerte die Fünfzehnjährige noch mehr. Was hatte den bloß geritten? Es hieß doch immer, man trennte sich vom Ehepartner und nicht von den Kindern. Eine Scheidung ging doch nur um die Gefühllosigkeit dem Partner gegenüber. Also wo war er gewesen, als Asra nach einem aufregenden Sommerlager heimkam? Wo war er gewesen, als sie die Haustür öffnete und auf Umzugskisten starrte und eine Mutter vor ihr stand, die mit rotgeweinten Augen verlegen lächelte? Wo war er gewesen, als fremde Männer die Kisten in einen LKW luden und zu ihrem neuen Zuhause fuhren?
So ein Quatsch – Scheidung betraf nur die Eheleute. Der Vater hatte sich genauso von ihr geschieden, vielleicht sogar noch schlimmer. Denn mit der Mutter hatte er ja wenigstens gesprochen. Die hatte es gewusst und alles von langer Hand planen können. Über den Kopf der pubertären, unreifen Tochter hinweg. Pah!
Asra schlenderte zu ihrem Bett und presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie nicht mehr zu sehen waren. Nur ein feiner heller Strich im Gesicht, das blass und fade aussah. Obwohl im Moment nicht ganz so fade, denn ausgerechnet heute war ein Pickel auf der Nase aufgetaucht. Klar, musste ja sein. Wenn das Pech anklopfte, dann aber richtig.
Das Mädchen legte sich ins Bett, kauerte sich zusammen und presste ihr Gesicht ins Kissen. Auch wenn sie nicht weinen wollte, konnte sie es nicht verhindern. Die Tränen flossen einfach so aus den Augen hinaus. Die dritte Nacht tropften sie das Kissen voll.
Vielleicht waren weder der Mond noch die fremden Geräusche schuld an ihrer Unruhe. Sicher war es der plötzliche Umzug, der abgehauene Vater, die hilflos wirkende Mutter.
Asra hatte das Gefühl, als hätte man ihr mit einem Boxhandschuh volle Kraft in den Magen geboxt. Immer und immer wieder. Bis nichts mehr darin war – keine Luft, kein Essen und überhaupt gar nichts mehr. Nur noch Schmerz. Viel zu viel Schmerz.
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°°••ASRA••°°
„Asra, aufstehen!" Die helle Stimme der Mutter drang gedämpft in ihr Zimmer. „Komm schon, ich muss zur Arbeit. Lass uns wenigstens gemeinsam frühstücken."
Asra öffnete ihre verquollenen Augen. In ihrem Kopf fühlte es sich leer an und gleichzeitig so, als ob ein Haufen Füllwatte drinsteckte. Sie wollte nicht aufstehen. Heute nicht und morgen nicht und überhaupt nie mehr. Aber heute auf jeden Fall ganz und gar nicht. Erster Schultag. An einer fremden Schule. Und das als fünfzehnjähriges Stadtmädchen mit rotgeheulten Augen und einem Pickel, der sicherlich grüngelb schillerte.
„Asra, komm schon. Wenn du dich beeilst, kann ich dich direkt zur Schule bringen. Sonst musst du mit dem Bus fahren."
„Ja ja", rief Asra und richtete sich auf.
Für einen Moment schwankte ihr Zimmer. Nein, natürlich schwankte es nicht. Hier gab es ja absolut nichts, was es zum Wackeln bringen konnte. Da fuhren keine Schwerlasttransporte vorbei, es gab keine Eisenbahn, keine Straßenbahn, einfach nichts. Ein erbärmlicher, sandiger Feldweg führte vom Hof bis zur Straße. Und die war gute fünfhundert Meter entfernt. Aber als Straße wollte Asra den holprigen, geteerten Weg lieber nicht bezeichnen. Da konnte man froh sein, wenn einem niemand entgegenkam.
Wer soll einem hier schon entgegenkommen?, dachte sie missmutig.
Sie stand auf und schlurfte aus ihrem Zimmer. Langsam schlich sie ins Bad. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, um abzuschließen. Wozu? Es war ja nur die Mutter im Haus. Und die wusste, dass sie jetzt im Bad war.
Ehe sie in den Spiegel schaute, sprühte sie sich ein paar Mal Wasser ins Gesicht. Vielleicht half das gegen die nächtlichen Tränenspuren. Danach hob sie den Kopf und blickte in den alten Spiegel, der schon mehrere dunkle Stellen hatte. Aber noch war die spiegelnde Fläche groß genug, dass sie ihr Gesicht und die abstehenden dunkelbraunen, kurzen Haare erkennen konnte.
Mist. Sie hätte sich im Sommerlager nicht zu dieser Kurzhaarfrisur überreden lassen sollen. Hier auf dem Land waren die sicher total spießig. Da trugen die Mädchen bestimmt lange Haare und Röcke, die Jungs kurze Haare und Hosen.
Sie ließ nochmal das Wasser laufen und steckte ihren Kopf unter den Kran. Ein paar Mal strubbelte sie die Haare durch, bis sie nass und glatt waren. Danach begutachtete sie sich erneut. Besser. Jetzt hatte sie zumindest keine Haare mehr, die in alle Richtungen abstanden.
Sie beugte sich etwas vor, um den Pickel genauer zu betrachten. Aus der Entfernung sah sie ihn gar nicht. Eigentlich sonderbar, schließlich war sie nicht kurzsichtig. Aber auch beim Näherkommen entdeckte sie ihn nicht. Kein winziges Pünktchen, gar nichts.
„Komisch", murmelte sie und runzelte die Stirn, „muss am vielen Heulen liegen. Die salzigen Tränen werden ihn ausgetrocknet haben."
So ganz konnte sie sich mit ihrer Erklärung nicht anfreunden, was Besseres fiel ihr allerdings nicht ein.
„Liebes, was machst du so lang im Bad? Komm schon, sonst muss ich dich wirklich an der Bushaltestelle absetzen."
Asra rollte mit den Augen. Als ob sie sich so schnell waschen und anziehen konnte. War ja nicht ihre Schuld, dass die Mutter einen Job angenommen hatte, der sie so früh aus dem Haus zwang. Warum musste sie darunter zusätzlich noch leiden? Und weshalb sollte sie nicht mit dem Bus fahren? In der Stadt war sie auch mit dem Bus zur Schule gefahren. Da war das doch kein Problem gewesen, wieso jetzt?
„Ich komm schon", rief sie.
Es war ihr egal, dass sie fast ungewaschen war. Hier auf dem Land war es bestimmt unwichtig, wie sie roch. Das waren sicher alles Bauern, die nach Vieh oder Schweinegülle rochen. Wozu Deo und Schminke an die Leute verschwenden? Hatte etwas Gutes, nicht mehr in der Stadt zu leben. Hier konnte sie Geld sparen. Geschäfte gab es schließlich keine. Wenn sie Glück hatte, fand sie in der Nähe der Schule einen Supermarkt, um zumindest so zu tun, als würde sie shoppen gehen. Irgendwie musste sie doch ihre alte Routine aufrecht erhalten. Sonst drehte sie hier auf dem Land total durch.
Unwillig schlurfte sie in ihr Zimmer zurück, zog die Nachtwäsche aus und frische Wäsche an. Danach ging sie an ihr Fenster, blickte hinaus zum Wald und seufzte. Sie vermisste die Häuser mit den Balkonen. Die Straßenlampen. Den regen Autoverkehr. Sie wollte weg. Zurück zu ihren Freundinnen Sandra und Nishant, die noch gar nicht wussten, dass sie weg war.
Asras Mundwinkel wanderten nach unten. Auch so ein Landmist. Vor der überstürzten Abfahrt hatte sie nicht mehr daran gedacht, ihren Freundinnen die Hiobsbotschaft zu übermitteln. Und als sie wieder halbwegs bei klarem Verstand war, saß sie schon in dieser Einöde fest – in der es kein Netz gab! Kein Netz, das musste man sich mal geben. Dabei gab es doch im gesamten Weltraum genug Satelliten, um ein weltweites Netz garantieren zu können. Hatte sie bis vor drei Tagen – nein, vor vier Tagen noch geglaubt.
Ihre einzige Hoffnung war, dass es in der Schule Internet und Mobilfunk gab. Sie musste Sandra und Nishant informieren. Die beiden warteten heute bestimmt auf sie und machten sich Sorgen. Immerhin hatten sie sich auf der Heimfahrt vom Sommerlager schon zum Eisessen nach der Schule verabredet. Und nun kam sie weder in die Schule noch erklärte sie irgendjemandem ihr Fernbleiben.
In Asras Magen breitete sich ein dicker, schmerzender Klumpen aus. Die Lehrerin! Sie wusste natürlich Bescheid. Und sie würde sicherlich auf Nachfragen erklären, dass Asra fortgezogen war. Das würde der Freundschaft einen mächtigen Stoß mit dem Messer geben. Vielleicht sogar schlimmer.
Asra wurde übel. Sie hätte niemals ins Auto der Mutter einsteigen dürfen. Sie hätte sich in ihr altes Zimmer einsperren müssen. Sie hätte alles verrammeln müssen und sofort ihr Leid ihren BFF simsen müssen.
„Asra!"
Verdammt, das klang allmählich zornig. Sie hatte keine Zeit mehr für „hätte". Sie war hier. In der gottverlassenen, internetfernen Einöde. Und sie war gezwungen, das beste aus der Situation zu machen. In der Schule würde sie Nishant und Sandra informieren und mit ihnen gemeinsam Pläne schmieden, wie sie wieder nach Hause kam, in die Stadt, in ihr richtiges, schönes Leben.
„Ich komme, Mom", rief sie, schnappte sich ihre Schultasche und trampelte die Stufen hinunter.
Der Duft von Kaffee zog ihr in die Nase. Den trank nur ihre Mutter. Asra hielt sich an kaltes Wasser, manchmal auch einen Kräutertee. Heute reichte die Zeit nicht für den Tee. Deshalb schnappte sie sich eine Scheibe Toast und biss hinein, während sie ein Glas mit Wasser befüllte.
„Wenn du nicht so getrödelt hättest, könnten wir zusammen frühstücken."
„Vielleicht morgen", nuschelte Asra, während sie noch kaute. „Ich muss mich erst noch ans frühe Aufstehen gewöhnen."
Dass sie sich überhaupt an das Landleben gewöhnen musste, sagte sie lieber nicht. Denn das wollte sie schließlich nicht. Sie wollte nach Möglichkeit noch vor den Winterferien zurück in der Stadt sein. Dort gab es billige kleine Wohnungen. Wozu musste es ein ganzes Haus sein? Und Arbeit fand die Mutter dort ganz bestimmt ebenfalls. Sicher gab es dort mehr Arbeitsstellen als hier im Nirgendwo, wo es doch nichts gab als Wald und Sand und Einöde.
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