Kapitel 4 - zarte Bande
In Erinnerung an diese ersten Tage mit Tom lächelte sie wehmütig. Er hatte sie gerettet, auch wenn er es damals nicht gewusst hatte.
Tom war seit diesem Moment ihr Ein und Alles gewesen und war es immer noch. Er war ihre Heimat, ihre Sehnsucht und das Gegenstück zu ihrer Seele, die Ergänzung ihres Herzens, von der sie nicht wusste, dass sie existierte.
All das hatte dort in diesem unschuldigen Moment begonnen, der sie dennoch eine Schuld fühlen ließ, die so abstrakt war, dass sie sie den beiden Männern nicht beschreiben konnte, die sie wachsam beobachteten.
„Ich war in diesem Moment dabei zu ertrinken, in der Trauer eines Kindes, das seine Eltern verloren hatte, und Tom hat mich vor dem Ertrinken gerettet, ohne je eine Gegenleistung zu verlangen."
Sie hatte das Brot und den Käse aufgegessen und Toms Hand nicht dabei nicht losgelassen. Er hatte neben ihr gesessen und ihr zugesehen, während seine Hand ihre gehalten hatte und er mit seinem Daumen ihren Handrücken gestreichelt hatte. Es war eine abwesende Geste, die Elinor für einen Wimpernschlag das Gefühl von Heimat gab.
Was genau danach geschehen war, daran konnte sich Elinor nicht genau erinnern. Sie erinnerte sich daran, wie trocken und warm seine kleine Hand in ihrer gewesen war. Wie sehr er sich nach Heimat angefühlt hatte. Aber was danach kam, war schwammig und unfokussiert.
Was sie genau dazu gebracht hatte, sich das Gesicht zu waschen und die Kleidung des Waisenhauses anzuziehen, konnte sie nicht sagen. Es hatte sich immer angefühlt, als hätte sie es mehr durch einen Schleier erlebt.
Sie erinnerte sich an davor und an danach. An das dazwischen erinnerte sie sich nicht.
Das Nächste, was sie klar und deutlich mitbekam, waren Toms Hände, die ihre Locken aus den zerzausten, Tage alten Flechtzöpfen befreiten und sie sanft, Strähne für Strähne entwirrten, nur um sie anschließend wieder zu Zöpfen zu binden.
Es musste knapp eine Stunde gedauert haben, bis die rot goldenen Locken gekämmt in schicken, aber etwas schiefen seitlichen Pferdeschwänzen gebändigt waren.
Das blaue Kleid aus Wolle und die weiße Bluse verliehen Elinor ein braves, wohlerzogenes und liebliches Aussehen, wie von den glücklichen Kindern aus guten Familien. Diesen Kindern, die Eltern hatten, die einen in der feinen Gesellschaft vorstellten, während die Kinder nur artig grüßten und als Deko dienten.
Toms Magen zwickte unangenehm. Elinors Anwesenheit schien auf einmal zeitlich sehr begrenzt. Elinor würde bestimmt bald adoptiert werden. So etwas hatte ja die Hausmutter bereits selbst laut gedacht. Doch Tom wollte das nicht. Er hatte das Gefühl eine Freundin gefunden zu haben und diese wollte er auf keinen Fall verlieren.
Doch Toms Sorge war unbegründet, denn erstmal kam überhaupt niemand, der Elinor adoptieren wollte, und es wirkte auch nicht so, als ob Elinor sich freiwillig von ihm trennen lassen würde. Sie folgte ihm wie ein zweiter Schatten, krabbelte nachts zu ihm unter die Decke und vertraute ihm, und zwar ausschließlich ihm. Nichteinmal der Hausmutter oder einem der anderen Waisenmädchen vertraute sie.
Nach diesem Tag kam Elinor nämlich überhaupt erst freiwillig mit in den Speisesaal und zum Lese- und Rechenunterricht des Waisenhauses für die Kinder in ihrem und Toms Alter. Und abends saß sie an Toms Seite in der kleinen Bibliothek und versuchte selbst einzelne Zeilen zu entziffern oder hörte Tom zu, wie er die wunderlichsten Traumgeschichten erzählte.
Allerdings sprach sie noch immer nicht mit den anderen Kindern. Der Einzige, der selten, aber immerhin, ihre Stimme hörte, war Tom. Meist waren es nur geflüsterte »Guten Morgen« oder »Gute Nacht«-Wünsche. Andere Male waren es schüchterne Fragen und Antworten.
Und selbst der Heimleitung antwortete sie in den meisten Fällen nicht. Stattdessen flüsterte sie meist Tom Antworten ins Ohr, die dieser dann an Mrs. Cole weitergab. Nur wenn Tom nicht bei ihr war, was äußerst selten vorkam, dann sprach sie selbstständig.
Was blieb, war außerdem, dass Tom ihr half, ihre Haare zu machen. Aus anfänglich unbeholfenen Pferdeschwänzen wurden mit der Zeit auch einfache geflochtene Zöpfe und aus zwei Fremden wurden zarte Bande einer Freundschaft.
Dann kam der Tag, vor dem Tom sich gefürchtet hatte
Genau zwei Monate, drei Wochen und sechs Tage nachdem Elinor in Toms Leben getreten war, ja er hatte mitgezählt, da tauchte ein Paar im Waisenhaus auf. Der Herr war etwas älter, die Frau maximal 22 Jahre alt. Sie kamen, weil sie Toms Albtraum wahr werden lassen wollten:
Sie wollten ein kleines Mädchen adoptieren und ihre Wahl lag auf Elinor. Zumindest wollten sie Elinor gerne näher kennenlernen. Sie hatten ihr eine Puppe mitgebracht, erzählten ihr von ihrem schönen Haus, das sie außerhalb von London besaßen und von dem Hund, einem Corgi, den Elinor hätte, wenn sie mitkommen würde.
Wohlerzogen und sittsam hatte Elinor den Herrschaften einen »Guten Tag« gewünscht, aber es blieb erst einmal bei diesen beiden Worten. Denn dann hatten die Herrschaften Platz an einem Tisch genommen, an den sich Elinor ohne Tom setzen sollte. Mrs. Cole hatte Tom gebeten, den Raum zu verlassen, damit Elinor ihre möglichen neuen Eltern in Ruhe kennenlernen konnte.
Tom, dessen kleines Herz vor Wut und Angst pochte, der aber auch gut erzogen war, hatte sich beinahe schon umgedreht, als sich Elinors kleine Hände in seinem Hemdärmel festkrallten und ihn am Gehen hinderten. Sein Herz machte einen glücklichen Sprung, seine kleine Freundin wollte bei ihm bleiben.
Keine Worte von Mrs. Cole überzeugten Elinor Tom loszulassen, sodass sie am Ende resignierend beigab und Tom anwesend blieb. Sie hätte das Mädchen vermutlich bereits zu Beginn besser woanders untergebracht und wenn es auf einer Matratze auf dem Fußboden eines Mädchenzimmers gewesen wäre.
„Was ist denn deine Lieblingssüßigkeit?", die junge Frau mit den hochgesteckten schwarzen Haaren versuchte einen erneuten Versuch auf ein Gespräch. Sie sah die Frau an und schüttelte leicht den Kopf, nur um den Kopf in Toms Nacken zu verstecken und sich mit beiden Händen an seine linke Hand zu klammern. Er durfte nicht gehen und sie wollte nicht, dass diese Erwachsenen sie von Tom wegnahmen.
„Erdbeeren", sagte Tom, durch Elinor's Nähe versöhnlich gestimmt, die ihm zeigte, dass sie nicht weg von ihm genommen werden würde, „Elinor liebt Erdbeeren." Stolz, dass er dies von seiner kleinen Freundin wusste und die Herrschaften es noch nicht wussten.
Die Erwachsenen lächelten gezwungen, warum das junge Mädchen, das sie zu ihrer Tochter machen wollten, sich so hinter diesem, zwar charmanten und wohlerzogenem, aber armen Waisenjungen versteckte, war ihnen schleierhaft. Aber vielleicht würde sie sich an sie gewöhnen, wenn sie erstmal bei ihnen lebte und nicht mehr an diesem Jungen klebte.
„Nehmen sie Tom auch mit, wenn sie mich mitnehmen?"
Überrascht blickten sie alle an. Niemand hätte mit ihrer Frage gerechnet. Toms kleines Herz schwoll an und überschlug sich vor Freude. Seine Hand drückte Elinors Hand fester und er lächelte. Seine kleine Freundin wollte nicht weg von ihm. Seine erste richtige Freundin war eine echte Freundin. Und vielleicht bekämen sie gemeinsam eine neue Familie.
Nun, sie bekämen keine neue Familie, denn es zeigte sich schnell, dass die Herrschaften nur eine kleine Tochter wollten.
Die Frau sah sie an, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Warum dieses hübsche kleine Mädchen, das aussah wie aus einem Bilderbuch, mit den Locken in den beidseitigen Zöpfen und den smaragdgrünen Rehaugen unbedingt den Waisenjungen mitnehmen wollte, verstand sie nicht.
Ihr Mann schnaubte nur, von jeder Empathie befreit: „Nein. Wir haben bereits einen Sohn. Einen weiteren möchten wir nicht."
Toms Magen zwickte und er fühlte sich, als wäre er nur ein Stück Müll, das lästig im Weg war. Aber Elinors Hand hielt ihn davon ab, in Tränen auszubrechen, die er niemals jemandem anderen zeigen würde.
„Wir brauchen nur noch eine Tochter und du hast die Möglichkeit dazu. Dir würde es an nichts fehlen und du müsstest nicht mehr hier wohnen. Das sollte wohl mehr als genug sein."
Der harsche Ton des Mannes ließ beide Kinder zusammenzucken. Es war unempathisch und hinterließ kleine Narben in den Kinderseelen, die doch gar nicht verstanden, wie Erwachsene so herzlos sein konnten.
Elinor zuckte zurück, als die Frau die Hand nach ihr ausstreckte und ihr über die Wange streicheln wollte.
„Ach Kleines, mein Mann meint es nicht so, wir haben nur nicht den Platz für zwei Kinder, ansonsten würden wir deinen Freund sehr gerne mitnehmen. Aber du kannst ihn sicher ab und zu besuchen."
Elinor schüttelte den Kopf.
„Ich gehe nur mit, wenn Tom mitgeht. Und sie sind gemein", der letzte Teil war an den Mann gerichtet, der so abfällig über Tom gesprochen hatte.
Damit rutschte sie von dem Bett herunter und huschte an den Erwachsenen vorbei, auf den Flur hinaus zu den Wasch- und Toilettenräumen, um sich in einer Kabine einzusperren.
Denn von dort könnte sie keiner mitnehmen. Dass man Türen auch notfalls einbrechen konnte, daran hatte sie nicht gedacht. Allerdings brach auch keiner die Tür ein.
Tom lief ihr nicht sofort hinterher, er verabschiedete sich höflich von den Herrschaften und machte sich dann auf, seine Freundin zu suchen. Denn er war sich jetzt sehr sicher, dass die zarten Bande, die er fühlte, hießen, dass sie seine Freundin war.
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