Kapitel 3 - Trauer eines Kindes

Elinor trank vorsichtig einige Schlucke der dampfend heißen Schokolade. Es rann dick und wärmend ihren Hals hinunter und wärmte sie für einige Sekunden von innen heraus. Mit einem Zipfel der Decke, welche Remus um ihre Schultern gewickelt hatte, wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht.

Ihre Erinnerungen schmerzten so sehr, jedes Wort schmeckte wie Scherben, wie Messer auf ihrer Zunge. Doch sie wollte unbedingt weiter erzählen. Sie musste weiter erzählen, denn wenn sie diese Geschichte für sich behielt, dann würde sie vermutlich erneut zusammenbrechen, so wie es schon einmal geschehen war.

Außerdem wollte sie, dass die Anderen verstanden. Verstanden, was passiert war, nicht nur ihr, sondern auch mit ihm. Dass die anderen verstanden, warum sie Entscheidungen so getroffen hatte, wie es bereits geschehen war, und warum, in noch verborgener Zukunft, Entscheidungen von ihr so getroffen werden würden. Sie hoffte, dass vielleicht, nur vielleicht, dieses Verständnis da wäre, wenn sie diese schmerzhaften Erinnerungen aussprach.

Sie schluckte schwer: „Das Waisenhaus hätte nie ein schlechter Ort sein müssen. Nicht, wo wir beide einander hatten. Nicht wo alles den Anschein hatte, dass noch alles gut werden würde. Den zu Beginn hat das Waisenhaus mich gerettet. Wobei es doch eher Tom war, dem ich mein Leben zu verdanken habe ..."

Als Elinor erwachte, ließ sie die Augen für einen Moment geschlossen.

Wenn sie die Augen wieder aufschlug, dann wäre sie wach und der grauenvolle Albtraum wäre vorbei. Vermutlich war sie auf dem Sessel eingeschlafen, als sie auf ihren Vater gewartet hatte. Und wenn sie die Augen öffnete, dann würde er ihr gegenüber in einem dieser dunkelroten Sessel aus Samt sitzen, in den man so lustige Muster mit den Fingern zeichnen konnte. Er würde sie anlachen und sie fragen, ob sie gut geschlafen hatte. Er würde ihr zeigen, dass er niemals sein Versprechen gebrochen hatte.

Doch als Elinor die Augen öffnete, da war es dunkel um sie herum. Sie lag nicht zusammengerollt auf einem der vertrauten Sessel, sondern lag unter einer dünnen Decke und hörte jemanden sacht und regelmäßig atmen. Sie war nicht bei ihrem Vater. Sie war in einem Waisenhaus, in absoluter Dunkelheit gefangen, unterbrochen nur von einem kleinen bisschen Mondlicht, das durch die milchigen Fenster schien.

Den Plüschdrachen fest an ihre Brust gepresst, wagte sie es kaum sich zu bewegen. Warum nur konnte sie aus diesem Albtraum nicht aufwachen?

Sie hörte auf den ruhigen, regelmäßigen Atem des Jungen hinter ihr und fühlte seine kleine, kühle Hand neben ihrer unter der Decke. Er schlief tief und fest. Doch seine Anwesenheit und sein Atem beruhigten sie ein wenig.

Ob er wohl seine Eltern ebenso vermisste? Ob die Abwesenheit seiner Eltern in seinem Herzen ebenfalls ein tiefes Loch hinterlassen hatte? Ob es ebenso sehr schmerzte, wie ihr kleines Herz gerade? Wie lange war er wohl schon allein?

Frische Tränen liefen heiß über Elinors Wangen, genau da entlang, wo die in der Nacht versiegten Tränen salzige Spuren hinterlassen hatten. Doch kein Wort trat über ihre Lippen, kein Schluchzer.

Leise setzte sie sich auf und betrachtete die Umgebung, die ihren an die Dunkelheit gewöhnten Augen Umrisse zeigte. Sie war nicht zu Hause. Sie war allein.

So leise sie konnte, ohne Tom zu wecken, rutschte sie von dem geteilten Bett hinunter. Der Boden war aus Stein, unangenehm kalt, nicht aus flauschigem Teppich, den ihr Vater ihr zu Weihnachten von einer Geschäftsreise mitgebracht hatte. Unwillkürlich rollte sie ihre Zehen ein, die nur in dünnen Söckchen steckten.

Es war so ruhig. So dunkel. So anders als zu Hause. Leer.

Vorsichtig und leise setzte Elinor zuerst ihren Drachen auf ihr eigenes, fein säuberlich gemachtes Bett, dann kletterte sie selbst hinauf und lehnte sich mit dem Rücken an die kalte Wand. Die Knie angezogen und den Drachen auf dem Schoß, saß sie da und starrte in die Dunkelheit, bis irgendwann ihr Kopf auf ihren Knien ruhte und sie leise weinte.

Als einige Stunden später die Hausmutter Mrs. Cole, die Elinor am vorherigen Abend hineingebracht hatte, an die Türen klopfte, um die Kinder zu wecken, saß Elinor immer noch unverändert auf ihrem Bett. Tom hatte sie noch mehrfach angesprochen, aber keine Antwort erhalten. Sie hatte nicht auf ihn, aber auch nicht auf Mrs. Coles Lob reagiert, für das sauber gemachte Bett. Sie sprach gar nicht.

Sie kam auch nicht mit zum Frühstück oder zum Mittagessen, auch zum Abendessen nicht. Und als es wieder dunkel wurde, da weinte sie immer noch leise. Denn es war die zweite Nacht, die an das gebrochene Versprechen ihres Vaters erinnerte.

Als Tom zu Bett ging, blickte er unschlüssig zu seiner neuen Zimmernachbarin und ein unangenehmes Gefühl machte sich in seinem Magen breit. Er kannte das Gefühl nicht und es fühlte sich anders an als Angst oder Abscheu. Aber er konnte es nicht zuordnen.

„Du kannst nochmal neben mir schlafen, wenn du allein nicht schlafen kannst?"

Er erwartete fast, dass sie ihn wie den ganzen Tag schon ignorieren würde. Für ein paar Minuten tat sich nicht, und Tom seufzte, bevor er sich zudeckte und die Augen schloss.

Er schlief nicht direkt und als er doch fast eingeschlafen war, spürte er, wie sich die Matratze neben ihm senkte und Elinor sich neben ihn legte. Den Plüschdrachen so an sich gepresst, dass die Schwanzspitze Toms Nase kitzelte. Ohne nachzudenken, hob er die Bettdecke an und deckte sie damit zu.

So lief es noch zwei Tage und das so adrette Mädchen, als das Elinor ins Waisenhaus gebracht worden war, wirkte zunehmend verwahrlost. Ihr Haare waren zwar in einem dicken Zopf geflochten, aber lösten sich bereits daraus und standen ab. Ihr Gesicht war von dem vielen Weinen gerötet und geschwollen, das Sommerkleid zerknittert und ihr Magen knurrte, auch wenn sie jedes Essen verweigerte.

Sie sprach mit niemandem. Nicht mit der Hausmutter, nicht mit Tom, nicht mit dem Leiter des Waisenhauses Mr. Wool und auch nicht mit den gesichtslosen Männern, die kamen, um zu sehen, wie es ihr mit dem Tod ihres Vaters ginge.

Das Einzige, was sie tat, war abends zu Tom ins Bett zu klettern, nachdem er es ihr jeden Abend anbot und dort einige Stunden zu schlafen. Doch wenn Tom erwachte, saß Elinor längst wieder auf ihrem Bett und sprach kein Wort.

Da sie nicht sprach, hatte Tom irgendwann aufgegeben, ihr Fragen zu stellen. Stattdessen erzählte er ihr aus seinem Leben. Davon, wie sie im letzten Jahr Eis gegessen hatte, als es im Sommer so heiß gewesen war, davon, dass der Eintopf des Tages aussah, als wär er schonmal gegessen worden und davon, dass er träumte, irgendwann mal fliegen zu können, weit über den Menschen.

Am 4. Morgen hatte Tom sich einfach neben sie gesetzt und seine kleinen Arme um sie geschlungen. Elinor hatte für einen Moment stocksteif da gesessen und dann ihren Kopf in seinem Hals vergraben, die Arme ebenfalls um Tom geschlungen und für einige Minuten so da gesessen.

Als er die Umarmung gelöst hatte, hatte sie ihn lange angesehen und ein fast überhörbares „Danke" geflüstert. Zum Essen mitgekommen war sie dennoch nicht, genauso wie sie nicht weiter mit ihm gesprochen hatte.

Dieses Danke war Toms ganzer Stolz gewesen und er hatte den ganzen Tag ein strahlendes Lächeln auf dem Gesicht gehabt.

Als er nach dem Frühstück wieder auf sein Zimmer kam, stand auch die Hausmutter im Raum, die entnervt und mit ihrer Weisheit am Ende auf das kleine Mädchen blickte. Sie hatte mit Engelszungen auf das Kind eingeredet und war doch nur ignoriert worden.

Mrs. Cole legte die Kleidung des Waisenhauses, Unterwäsche, eine weiße Bluse, ein dunkelblaues Kleid und frische Socken und Schuhe, sowie eine Haarbürste neben Elinor auf das Bett.

„Vielleicht überlegst du es dir ja noch anders, mein Kind."

Dann verließ die Hausmutter den Raum. Elinor rührte sich noch immer nicht.

Tom kletterte wie schon vor dem Frühstück neben sie auf das Bett und sah sie fragend an. Er verstand nicht, wie tief der Schmerz in ihrem Herzen sitzen musste, denn er glaubte nicht, so tiefen Schmerz jemals gespürt zu haben, wie sie ihn ausstrahlte.

Er griff nach ihrer Hand und verschränkte sie mit seiner eigenen kleinen Hand. Dann saßen die beiden einfach so da.

„Ich habe dir etwas mitgebracht, weil dein Bauch immer so knurrt, aber du nicht mit zum Essen kommt", sagte er leise und zog etwas aus seiner Hosentasche, das in ein Tuch eingeschlagen war, und legte es ihr auf den Schoß.

In dem Tuch befand sich ein Scheibe Brot und ein Stück Käse, dass er sich beim Frühstück eingesteckt hatte.

Elinor griff nach seiner Hand, die sie leicht drückte. Dann begann sie, zum ersten mal seit Tagen etwas zu Essen. Es waren winzige Bisse, die sie tat, aber sie tat sie. Und während der ganzen Mahlzeit ließ sie Toms Hand nicht los, denn er gab ihr etwas Sicherheit an. Seine Hand fühlte sich nicht nach Leere an, sondern ein bisschen, nach zu Hause.



Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top