I - Nokturngasse

In der Winkelgasse herrschte das geschäftige, vorweihnachtliche Treiben. Eine dünne Schneeschicht hatte sich über die Dächer gelegt und festliche Girlanden schmückten die Läden. Die Wintersonne spiegelte sich in all den goldenen und silbernen Akzenten.

Fröhliche Kinder drückten sich die Nasen an Schaufensterscheiben platt und rätselten lachend darüber, was sie wohl geschenkt bekämen. Gestresste Mütter hetzten von Laden zu Laden, um noch rechtzeitig einige Geschenke einzukaufen.

Hier war eine junge Hexe von etwa 17 Jahren nichts Besonderes. Sie fiel ihnen nicht auf und niemand, der nicht mehr wusste, als jeder andere, der hätte ihr keine Beachtung geschenkt.

Die junge Hexe stand am Eingang einer kleinen Seitengasse. Man konnte schon von Weitem erkennen, dass in der Gasse nicht annähernd dieselbe weihnachtliche Stimmung herrschte. Sie wirkte düster, abgestanden und grau. Über einem Schild, das schon bessere Jahre gesehen hatte, stand Nokturngasse.

Die Nokturngasse war kein Ort, den die meisten respektablen Hexen und Zauberer je betreten würden. Hier trieben sich zwielichtige Gestalten und Magier mit krummem magischem Kompass umher. Vermutlich war noch kein wahrlich guter Mensch mit Absicht hier hineingegangen.

Nervös drehte sie den Ring an ihrem linken Ringfinger. Keine respektable Hexe würde hier an ihrer Stelle stehen und darauf warten, in die Gasse zu verschwinden.

Sie biss sich auf die Lippe. Bei Merlins Bart, es war ja schließlich nicht das erste Mal in der Nokturngasse, schalt sie sich selbst einen Idioten. Nur hinein, fünf Läden an der rechten Seite hinunter und dann wieder hinaus aus der Gasse. Nichts leichter als das. Schließlich hatte sie es schon so oft geschafft.

Das zwielichtige Gesindel würde sie ganz genau beobachten, dessen war sich die junge Hexe sicher. Also war die Gefahr, dass sie jemandem auffallen würde, der sie auf keinen Fall erkennen dürfte, recht hoch. Niemand durfte sie erkennen.

Doch es gab keinen anderen Weg, um sicher und ohne Fragen an Lobalug-Gift zu kommen. Sie hatte versucht es lange genug hinauszuzögern, aber ihr Vorrat wurde immer knapper. Außerdem würde die Menge an Gift, das sie benötigte, in jeder anständigen Apotheke Fragen aufwerfen. Fragen, die sie weder beantworten wollte noch wirklich beantworten konnte. Und selbst wenn sie die Wahrheit sagen würde, so würde ihr doch niemand glauben.

Sie zog sich die Kapuze ihres dunkelgrünen Reiseumhangs über die Haare bis tief ins Gesicht. Dann strich sie die hervorschauenden Locken nach hinten und prüfte mit geübten Griffen, ob ihre Tasche und der kleine Lederbeutel, in welchem sie ihr Geld aufbewahrte, sich noch an Ort und Stelle unter ihrem Mantel befanden.

Als sie sicher war, dass alles saß, prüfte sie nochmal den Sitz ihrer Kapuze und hielt ihren Zauberstab krampfhaft bereit.

Einatmen. 

Ausatmen. 

Einatmen. 

Ausatmen.

Sie betrat die dunkle Gasse. Wo sich zuvor Licht und Leben gezeigt hatten, waren in der Nokturngasse nur Schatten und feuchte Luft. Einzelne gebückte Gestalten huschten von Seite zu Seite.

Die junge Hexe hielt den Blick auf den Boden gerichtet. Die freie Hand griff immer wieder nach der Kapuze, um sich zu versichern, dass ihre Locken sicher vor den neugierigen Blicken geschützt waren.

Sie ignorierte die Hexe, die ihr menschliche Fingernägel anbot, und zählte Schritte. Die Tür des ersten Ladens kam nach 23 Schritten, 15 weitere, dann kam auf ihrer rechten Seite Madame Oras, ein Laden für das Übersinnliche, das Sehen. Dann säumte für 37 Schritte ein Bordell ihren Weg. Aus dem Inneren waberten abgestandener Parfümdampf und obszöne Musik. Sie eilte einfach weiter.

Die junge Hexe blickte vorsichtig auf und erkannte das Schild für den 4. Laden. Borgin und Burkes. Eine Erinnerung kam aus den Untiefen ihres Unterbewusstseins hervor. Tränen stiegen ihr in die Augen.

Sie erinnerte sich an seinen verzweifelten Blick, an seinen Schrei, an ihre Schreie, ihre Tränen.

Es kostete sie sehr viel Mühe die Augen von dem schäbigen Schild abzuwenden. Dann lief sie schnellen Schrittes weiter.

Als sie das nächste Mal hochblickte, war sie an ihrem Ziel angekommen. Ein hängendes, quietschendes Holzschild wackelte an eisernen Scharnieren über dem Laden im Wind. In abblätternden Goldlettern stand dort: Mr. Mulpeppers Apothekarium.

Sie drückte die knackende Tür auf und trat ein. Ein Klingeln aus dem Hinterraum verkündete ihr eintreffen.

Die Apotheke war von innen gepflegter, als sie von außen den Anschein hatte. In hohen Regalen stapelten sich Zaubertrankzutaten und Zubehör. Nicht alles, was sich hier fand, war unbedingt legal.

Ein alter, schmächtiger und dreckig ausschauender Mann trat hinter den Tresen. Sein Haar wirkte fettig und seine Kleidung hatte auch schon besser Tage gesehen. Er beäugte sie mit durchdringenden Augen von Kopf bis Fuß, sodass die junge Hexe die Kapuze noch tiefer ins Gesicht zog.

„Wie kann ich Ihnen helfen, Miss?", die Stimme des Apothekers war schmierig und jagte ihr einen unwohlen Schauer über den Rücken.

Sie verstärkte den Griff um ihren Zauberstab und rief sich ihr Ziel ins Gedächtnis.

„Ich benötige Lobalug-Gift, drei Philiolen."

Der Apotheker sah sie interessiert an: „So viel ...?"

Er verzog sein Gesicht zu einem schmierigen Grinsen, wurde aber sogleich von ihr unterbrochen.

„Ohne Fragen."

„Natürlich, Miss. Allerdings kostet es ohne Fragen extra. Sie verstehen sicher ...", er sah sie herausfordernd und hämisch an, „4 Galleonen, 13 Sickel und 2 Knuts. Und für mein Schweigen 3 Galleonen."

Sie biss sich auf die Zunge. Streit wäre sinnlos, es hätte ja eh nur zur Folge, dass er den Preis weiter in die Höhe trieb und sie nickte daher stumm. Der Apotheker verschwand in die Hinterräume und sie griff nach ihrem kleinen Lederbeutel, um die Münzen abzuzählen.

Der Apotheker kam zurück und zeigte ihr im dämmrigen Licht des Ladens drei Philiolen mit nachtblau schimmerndem Gift. Lobalug-Gift. Sie legte das Geld auf den Tresen und wartete. Er inspizierte jede Münze genaustens, bevor er ihr die Philiolen endlich übergab.

„Es ist mir eine Freude, mit Ihnen Geschäfte zu machen, Miss."

Ohne etwas zu erwidern, stopfte sie den Einkauf in die große lederne Tasche und verließ eilig den staubigen Laden.

Draußen empfing sie ein dichtes Schneetreiben und eisige Luft. In den letzten Minuten schienen die Temperaturen drastisch gesunken zu sein, und ihr Atem bildete Wölkchen in der schmutzigen Luft.

Sie stolperte in ihrer Hast die Treppe hinunter und rutschte auf der letzten der drei Stufen aus. Im erfolglosen Versuch nicht zu Boden zu stürzen, stieß sie strauchelnd gegen einen Besucher der Nokturngasse, sodass sie beide zu Boden fielen.

Panisch versicherte sie sich erst, dass das gekaufte Gift den Sturz überstanden hatte und dann, ob ihre Kapuze noch ordentlich saß. Zu ihrem Glück war nichts geschehen, sodass sie aufstand und dem Besucher helfen wollte.

„Entschuldigen Sie", murmelte sie und wollte, als der Mann stand, zurück in die Winkelgasse eilen.

Doch der Mann hatte, als er wieder sicher stand, ihren Oberarm gepackt und sie zum Stehen bleiben gezwungen.

„Hiergeblieben!"

Die Stimme kam ihr bekannt vor und als sie sich zu ihm drehte, erkannte sie auch warum. Weißblondes, langes Haar, das in einem tiefen Pferdeschwanz elegant zusammengebunden war und graue, eiskalte Augen, die sie mit Abscheu musterten.

Es war Lucius Malfoy, der sie gerade festhielt.

Er drehte sie zu sich und ihr Oberarm schmerzte. Die plötzliche Bewegung hatte ihre Kapuze verrutschen lassen, sodass eine leuchtend rote Locke hervorschaute.

„Na, wen haben wir denn da. Wollen wir doch mal sehen", und damit riss er ihr die Kapuze vom Kopf und entblößte die flammenrote Lockenpracht der düsteren Gasse.

Mit seinem Gehstock, auf dem der silberne Schlangenkopf thronte, zwang er sie, ihn anzusehen.

„Was ein Zufall, dich hier zu treffen. Das erspart mir eine wirklich unschöne und lange Suche."

Gänsehaut krabbelte ihr über Nacken und Rücken. Er machte ihr Angst. Besonders machte ihr Angst, dass genau das eingetreten war, was nicht hätte geschehen dürfen.

Sie richtete den Zauberstab auf ihn und ein roter Lichtblitz traf ihn im Knie. Er knickte ein und ließ sie für einen Moment los, den sie nutzte, um zu fliehen.

Doch Lucius Malfoy war ein halsstarriger Gegner. Er griff nach ihrem Umhang und riss ihn zu Boden. Sie fühlte sich schutzlos vor ihm und rannte weiter, tiefer hinein in die Nokturngasse, da er ihr mit erhobenem Zauberstab den Weg hinaus versperrte.

Sie brauchte einen Platz, einen kleinen Vorsprung, um Apparieren zu können. Sie brauchte nur ein wenig mehr Vorsprung.

Ein Zauber schlug neben ihren Füßen ein. Dann plötzlich fiel sie hin.

Es war nicht der Zauber gewesen. Er hatte sie nicht einmal gestreift. Es war eine alte Frau gewesen, mit fauligen Zähnen und zerschlissener Kleidung, die ihr ein Bein gestellt hatte.

Der Fall hatte ihre Hände aufgeschrammt und ihr den Zauberstab aus den Händen geschlagen. Panisch suchte sie danach und als sie aufblickte fand sie ihn in den Händen der alten Hexe wieder, die ihr ein Beinchen gestellt hatte.

Lucius Malfoy riss sie am Arm auf die Füße und sie biss sich auf die Zunge, um nicht vor Schmerz zu schreien.

„Ich kann nicht fassen, dass ich derjenige sein werde, der dich zu ihm bringt. Er wird sehr zufrieden mit mir sein. Sehr zufrieden. Er sucht schon so lange nach dir."

Er gab der alten Hexe, die hämisch kicherte, eine Galleone im Austausch für den Stab seiner Gefangenen und drehte sich nochmals zu ihr: „Du wirst mir wirklich Glück bringen."

Ein unangenehmes Gefühl, wie aufsteigende Übelkeit, machte sich in ihrem Magen breit. Dann kam das Gefühl, durch einen engen und kalten Schlauch gepresst zu werden. Sie apparierte gegen ihren Willen. Die Welt um sie herum löste sich in einen Farbschleier auf.

Mit aller Kraft versuchte sie an einen Ort zu denken, der woanders lag. Indem sie eine Chance hatte.

Der Wirbel aus Farben verstärkte sich. Ihr Körper schmerzte und sie spürte den Zug von Lucius Malfoys Apparation, doch schlussendlich überwog ihre Kraft und die Welt um sie herum setzte sich wieder zusammen.

Unsanft kamen sie beide auf dem feuchten Waldboden auf.

Lucius Malfoy brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Er hatte nicht mit einer solch kräftigen Gegenwehr gerechnet. Nicht von einer Hexe, die augenscheinlich noch nicht einmal ihre U.T.Z. abgeschlossen hatte.

Dieser Moment verschaffte der Hexe die Zeit, nach ihrem Zauberstab zu greifen und aufzuspringen. Dann rannte sie einfach los.

Es ging immer tiefer in den Wald hinein. Kleine Äste und Dornen zerkratzten ihre Arme und die dunkelrote, schulterfreie Bluse. Aber sie rannte einfach weiter. Jetzt stehenzubleiben, wäre ihr Todesurteil.

Ein besonders ungünstig hängender Ast traf sie über ihrer rechten Augenbraue und kurz darauf spürte sie einige warme Tropfen Blut an ihrer Schläfe hinab laufen.

Ein Lichtblitz schlug neben ihr im Baum ein, ein weiterer verfehlte ihren Kopf nur um Haaresbreite. Sie duckte sich und stolperte durch den Wald.

Ihr ganzer Körper brannte. Ihre Lunge war die Belastung nicht gewohnt, jeder Atemzug fühlte sich an, als würde sie gleich versagen.

Ihre Haut war eiskalt, jede Berührung war wie tausend Nadelstiche. Besonders der strömende Regen, in den sich der vorher so dichte Schneefall verwandelt, tormentierte ihre Haut. Ihre Kleidung war nass und klebte unangenehm auf ihrem tauben Körper.

Wenn sie nicht bald in Sicherheit kam, dann würde sie entweder von Malfoy gefangen genommen werden oder erfrieren. Und auch wenn letzteres eher ihre Wahl gewesen wäre, so wollte sie es doch wenn möglich vermeiden.

Sie drehte den Kopf und sandte ihrem Verfolger einen Feuerzauber entgegen, der den Weg vor ihm in Brand steckte.

„Du kleine Hure kannst mir nicht entkommen."

Sie hörte seine Beschimpfungen und Flüche nur schwerlich durch den Wind, aber sie war sich sicher, dass ihr dies die notwendige Zeit gab, um sich in Sicherheit zu bringen.

Während Lucius Malfoy mit den Flammen kämpfe, fand sie einen alten Baum, hinter dessen breitem Stamm sie Zuflucht fand.

Ihre Haut rebellierte, als sie sich schwer atmend hinter den Baum lehnte. Sie versuchte ihren Atmen schnell zu beruhigen und ihre Gedanken zu sammeln. Die Rinde schmerzte auf ihrer geschundenen Haut.

Mit beiden Händen strich sie sich die regennassen Locken aus dem Gesicht und warf den Kopf verzweifelt in den Nacken.

Sie brauchte einen Ort. Einen Ort, zu dem er ihr nicht folgen würde. Nicht folgen konnte. Einen sicheren Ort, den sie gut kannte, sodass sie auf dem Weg nicht zersplinterte. Er durfte auch nicht zu weit entfernt sein.

Der Wind trug Lucius Malfoys Flüche näher an ihr Ohr, er hatte den Brand gelöscht und kam näher. Unregelmäßig aufblitzendes Licht zeigte, dass er schon beinahe bei ihr angekommen.

Sie brauchte einen sicheren Ort.

Sirius.

Sirius Black hatte ihr immer geholfen.

„Drei, Zwei, Eins", zählte sie leise runter und sammelte ihre letzten Kräfte für die Drehung.

Der Magen reagierte mit dem altbekannten Gefühl von Übelkeit, und die Welt um sie herum wurde zu einem Schleier. Das Letzte, was sie spürte, war ein schneidender Schmerz an ihrem Oberarm.

Die Welt um sie herum verschwand und bis auf das Prasseln des Regens hörte sie nichts mehr.

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