Vergangenheit und Gegenwart
Ich liege auf einem großen Felsen im Wald.
Genauer gesagt auf dem Dach einer kleinen Felshöhle, dem ehemaligen Zuhause von Dad.
Ich frage mich immer wieder, wie er hier so ganz alleine hat leben können. Wie er das ausgehalten hat, wie er sich hier alles aufgebaut hat und es schaffte, von klein auf für sich selbst zu sorgen.
Er hat uns von klein auf mit hierher gebracht und weder Lias noch Julio oder mir verheimlicht, dass er ursprünglich einmal als Wolf hier im Wald lebte, ganz alleine.
Mama hat ihm letztendlich gezeigt, dass die Welt der Menschen auch schöne Seiten hat.
Wenn die beiden ihre Geschichte erzählen, hört sich das für mich immer fast wie ein Märchen an.
Mama und Papa haben sich hier im Wald kennengelernt.
Sie haben sich jahrelang nur hier getroffen - weil Mama annahm, dass Papa ein ganz normaler Wolf ist, wenn auch mit einem etwas besonderen Verhalten.
Er hat sich ihr über Jahre hinweg nur als Wolf gezeigt, bis er sich ihr schließlich durch einen unglücklichen Zufall auch als Mensch offenbarte.
Durch Mamas Liebe hat Dad gelernt, auch seine menschliche Seite zu akzeptieren, er war zum ersten Mal in seinem Leben froh, auch ein Mensch zu sein.
Denn so konnte er mit Mum zusammen sein.
Davor... nun, er hat seine menschliche Seite aus einem ganz einfachen Grund verabscheut.
Sein Vater war ein Tierschänder. Irgenwie ist eine Wölfin von ihm schwanger geworden.
Weder sie, noch ihre Welpen haben die Geburt überlebt - bis auf Nayjuan, meinem Vater.
Er hat seine tiefe Abscheu seinem Vater gegenüber auch auf seinen menschlichen Part übertragen.
Aber Mum hat ihn stückchenweise gelehrt, dass dieser Selbsthass grundlos ist.
Sie hat ihn nie dafür verurteilt, was er ist, und war quasi sein Rettungsanker.
In Gedanken versunken streiche ich über den kühlen Stein unter mir.
So eine tiefe Liebe...
Ich merke sie ja immer noch zwischen meinen Eltern. Ich sehe es in ihren Augen, wenn sie sich ansehen, und ich merke in jedem einzelnen Wort, wie viel sie einander bedeuten.
Das zwischen ihnen ist etwas ganz besonderes, und, wie ich mittlerweile glaube, echt seltenes.
Ich wünsche mir, dieses Glück irgendwann ebenfalls erleben zu dürfen.
Erschrocken blinzle ich, als sich plötzlich ein Bild vor meine Augen schiebt.
Ein mir nur allzu bekannter junger Mann, der mich aus olivgrünen Augen anlächelt.
Nein! Warum fängt mein Herz schon wieder an, schneller zu schlagen? Ich will nicht ständig auf diese Weise an ihn denken, verdammt!
Ärgerlich schüttle ich den Kopf.
Ich bin hierhergekommen, um nachzudenken. Wie auch meinen Eltern und Geschwistern spendet der Wald mir eine gewisse Ruhe und Geborgenheit, ich fühle mich hier wohl.
Und diese Höhle, in der Papa groß geworden ist, die er als einsamer Wolf irgendwie trotzdem ein wenig menschlich eingerichtet hat, haben Lias, Julio und ich mittlerweile als eine Art Rückzugsort erkoren.
Papa selbst kommt nur manchmal her, wenn er selbst im Wald unterwegs ist und es ihn zu seinem alten Zuhause zieht.
Ich wollte darüber nachdenken, was das mit Falcon ist.
Was er mir bedeutet. Warum es ihm so wichtig war, eine zweite Chance von mir zu bekommen - dass er wohl offensichtlich etwas von mir will. Und dass ich das wohl insgeheim freudig begrüße.
Ich bin hergekommen, um über meine Gefühle ihm gegenüber nachzudenken, die mich einfach verwirren. Ich denke ständig an ihm, ich muss mir eingestehen, dass ich mich in ihn verguckt habe. Trotz dass das wirklich das Letzte war, was ich wollte.
Er lässt mich nicht mehr los, ich bin fasziniert von ihm. Und trotzdem erfüllt er mich mit einer Art inneren Unruhe, einem Gefühl der Unsicherheit, weil ich ihn nicht kenne. Ich empfinde etwas für ihn, was vollkommen unlegitimiert ist, und ich weiß einfach nichts über ihn.
Mit geschlossenen Augen versuche ich, mich zu beruhigen.
Vielleicht sollte ich ihn wirklich einfach ein bisschen besser kennenlernen. Dafür ist diese zweite Chance ja denk ich mal da. Ich muss mir einfach mal ein näheres Bild zu ihm machen.
"Nera?"
Ich fahre zusammen, reiße die Augen auf und schaffe es irgenwie, nicht vom Felsen zu kippen.
Mein Blick sucht die Umgebung ab, obwohl ich eigentlich schon weiß, wer mich da gerufen hat.
"Sag mal, was soll das werden? Verfolgst du mich, oder was??", fahre ich Falcon an, als ich ihn in einigen Metern Entfernung zwischen den Bäumen entdecke.
Ich springe auf, klopfe meine Hose ab und laufe mit erhobenem Kopf und herausforderndem Blick auf ihn zu. Meine Emotionen wollen einfach nicht zusammenpassen. Während sich mein Herz bei seinem Anblick überschlägt, brodelt es in mir.
"Was? Nein!"
Ich blitze ihn an und kneife die Augen ein wenig zu. "Klar. Als ob. Wir sind hier im Wald, Falcon. Nicht irgendwo im Dorf oder in der Stadt, wo man sich vielleicht alle heilige Zeit mal zufällig über den Weg läuft."
Mittlerweile stehe ich vor ihm. Es ärgert mich, dass ich zu Falcon aufsehen muss.
"Warum sollte ich dir erst folgen, und dich dann rufen? Wo ist der Sinn dabei, dass ich will, dass du mich beim Stalken entdeckst?"
Tatsächlich ist da was dran.
Ich starre ihn an, immer noch irgendwie wütend.
"Was tust du dann hier?", frage ich reserviert. Und auf die Antwort bin ich wirklich mal gespannt.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top