5 | Eine unbequeme Wahrheit (V)
Kurze Zeit später saß eine ungewöhnliche Runde aus einer Assassine, einem Informationstalent und einem übergelaufenen Sicherheitsagenten gemeinsam bei dampfendem Kaffee und frischen Brötchen an Darkwoods Küchentisch. Sander fühlte sich unter den Anwesenden am unwohlsten. Seine offene Ablehnung gegenüber der Schattenhand prägte seit Jahren die fragile Beziehung zwischen den beiden. Als einer von Nexors engsten Verbündeten war ihm bekannt, dass sie bereits viele skrupellose Morde in seinem Auftrag begangen hatte. Er wusste von einigen Geschäftspartnern, die Nexor in der Vergangenheit loswerden wollte, und auch, wer für ihre "Unfälle" verantwortlich war. Einige Geliebte des mächtigen Mannes mussten ebenfalls mit guten Argumenten davon überzeugt werden, dass ihre Zeit an seiner Seite vorbei war, da er bereits eine neue Gefährtin gefunden hatte. Vesper war dabei äußerst einfallsreich in der Auswahl ihrer Argumente, wobei das Abschneiden eines Zehs in einer Nacht im Schlafzimmer des Herrschers wohl noch zu den weniger dramatischen Methoden gehörte, um zu signalisieren: „Deine Zeit ist abgelaufen, Süße!"
Vesper war zweifellos gefährlich, und selbst ihre beinahe kindlich naive Art konnte darüber nicht hinwegtäuschen. Sie war nicht nur eine Mörderin, sondern eine regelrechte Maschine. Auch wenn sie sich selbst nicht darüber im Klaren war, wie besonders sie war, so wusste sie doch, dass sie gut in dem war, was sie tat. Doch wer ihr diese Kraft verliehen hatte, würde für immer ein Geheimnis bleiben.
Vesper genoss indessen scheinbar die Situation, schlürfte ihren Kaffee und biss genüsslich in ihr Brötchen, als hätte sie keine Sorgen. Sander, hingegen konnte seine Missbilligung kaum verbergen. Seine ablehnende Haltung gegenüber der Schattenhand war offensichtlich und trug zur allgemeinen Anspannung bei. Eli beobachtete Vesper indessen fasziniert, seine Augen verrieten ein tiefes Interesse und eine gewisse Unsicherheit.
Nach einer Weile des Schweigens durchbrach Eli die Stille. „Wir haben uns schon einmal getroffen", sagte er und richtete seinen Blick auf Vesper. „Du hast mich im Inferno angesprochen." Ein freudiges Kichern entfuhr Vesper. „Du warst der schärfste Mann im Raum. Zumindest bis dein Freund die Bar betreten hat." Ihr Blick wanderte zu Sander, der sie nach wie vor misstrauisch beäugte.Er konnte seine Ungeduld nicht länger zurückhalten. „Kannst du bitte deine Spielchen lassen und endlich damit rausrücken, was deine kryptischen Andeutungen über Nexor und meine Verbindung zu Eli zu bedeuten haben?", fuhr er sie an.
Vesper ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Ich habe dir nicht unerhebliche Neuigkeiten zu bieten, die ich allerdings nicht aus purer Nächstenliebe mit dir teilen werde."
„Natürlich nicht! Was willst du?", entgegnete Sander gereizt.
„Ich will, dass du mir etwas gibst, das schon lange mir gehört, Darkwood", erklärte Vesper ruhig. „Du kennst die Wahrheit über meine Vergangenheit. Und du bist es mir schuldig, sie endlich zu enthüllen!" Sander wirkte überrascht. „Wie kommst du darauf, dass ich mehr weiß, als ich dir bereits gesagt habe?"
„Weil ich mich endlich erinnern kann!", erwiderte Vesper bestimmt. „Und weil mir nur noch das eine passende Puzzlestück fehlt, das mir erklären kann, warum du mir all die Jahre verschwiegen hast, was mit mir passiert ist!"
Darkwood schwieg einen Moment, bevor er antwortete. „Wenn es so wäre, dass ich dir etwas verheimlicht habe, liebste Vesper, wie kommst du auf die Idee, dass ich es dir jetzt sagen würde?"
Vesper lächelte verschmitzt. „Weil er nun dich beschatten lässt, mein Lieber!", entgegnete sie mit einem scharfen Blick auf Sander. „Weil Nexor dir nicht mehr vertraut und dein Liebhaber auf der Abschussliste gelandet ist. Und weil ich, wenn du es mir nicht erzählst, Eli als Spion für die Shadows enttarnen werde!"
Die Spannung in der Luft war zum Zerschneiden dick. Jeder Blick war ein geladener Pfeil, der darauf wartete, abgeschossen zu werden. Die unausgesprochene Frage schwebte förmlich im Raum: Wer würde zuerst die Nerven verlieren und einen unbedachten Schritt wagen?
Eli warf Sander einen nervösen Seitenblick zu. Wie konnte Vesper von seinem doppelten Spiel wissen? Hatte sie ihn die ganze Zeit verfolgt, ihn wie ein Schatten im Dunkeln beobachtet, bevor sie ihn im Inferno angesprochen hatte?
„Du bluffst!", bellte Darkwood, doch seine Stimme klang hohl, ein vergeblicher Versuch, die tobende Glut in ihm zu ersticken. Wie konnte sie es wagen, hier aufzutauchen, Forderungen zu stellen und dann auch noch zu drohen?
„Du wusstest es also gar nicht?" Vespers Ton war mitleidig, ihre Worte ein eisiger Hauch in der Hitze des Moments. Als Sander nicht antwortete, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Eli. „Hast du ihm etwa nichts von der guten Nachricht erzählt?" Verwirrung machte sich auf Elis Gesicht breit. „Welche gute Nachricht?"
„Ihr wollt mich wohl beide für dumm verkaufen!" Plötzlich sprang Vesper auf, schnappte sich ein scharfes Brötchenmesser und war mit einem Satz bei Eli. Noch bevor Sander eingreifen konnte, spürte Eli das kalte Metall an seinem Hals. Er gab sich geschlagen und hob ergeben die Hände. „Okay!", rief Sander, die Stimme ein Flehen, ein verzweifelter Versuch, die Katastrophe abzuwenden. „Mach keine Dummheiten, Vesper! Wir können alles klären, wie Erwachsene!"
Ein kühles Kichern, erfüllte den Raum, als Vesper Eli einen Schritt zurückzwang. Das Messer bohrte sich unbarmherzig in seine Haut, und Sander sah, wie sich die Klinge rot färbte.
„Vesper, ich meine es ernst!", flehte Sander, die Fassade der Ruhe längst zersplittert, offenbare Angst in seiner Stimme. „Ich habe Nexor versprochen, nichts zu verraten, was ich damals herausgefunden habe. Ich war ihm etwas schuldig. Ohne ihn war ich nichts. Also schwieg ich. Es tut mir leid. Ich sah keinen anderen Ausweg!"
„Nexor hat euch im Visier, Darkwood!", Vespers Stimme war ein eisiger Wind, der die Hölle ankündigte. „Er hat mich auf euch angesetzt, weil einer von euch einen Fehler gemacht hat. Und was auch immer ich ihm sage, er wird es glauben, denn er ist paranoid. Und wenn ich ihm sage, dass Eli ein Kind mit einer Shadow hat und trotzdem dein Bett teilt, wird er sich seinen Teil denken können. Du bist aus dem Spiel, Darkwood. Und du weißt, was Nexor mit Verrätern macht. Ich bin diejenige, die dann handeln muss. Und das will ich nicht! Ich will nur wissen, wer ich bin! Also, letzte Chance, dein Gewissen reinzuwaschen!"
Sanders Gedanken wirbelten durcheinander. Eli hatte ein Kind? Hatte er ihm tatsächlich etwas verheimlicht? Nach der gestrigen Nacht konnte er sich das kaum vorstellen. Doch der Rest von dem, was Vesper sagte, traf ins Schwarze: Nexor war paranoid. Und nachdem er gestern Sander auf die Szene im Labor angesprochen hatte, war ihm klar geworden, dass er ihn verdächtigte. Nun sollte Vesper herausfinden, was er verbarg. Und nach der Enthüllung gegenüber Eli, dass er nicht mehr hinter Nexors Plänen stand, fühlte er sich tatsächlich wie ein Verräter. Vesper würde ihm nachjagen und ihn töten, wenn Nexor ihr den Befehl gab. Seine einzige Chance schien jetzt wirklich die Wahrheit zu sein. Die Wahrheit, die Vesper von ihm verlangte.
„Du warst noch ein Kind, als du eine schwere Krankheit bekommen hast", begann er zu erzählen. Seine Augen suchten die der Jägerin, und sie nickte schwach. „Man hat dich in ein Krankenhaus gebracht und sich um dich gekümmert. Da deine Familie die Rechnung nicht begleichen konnte, unterschrieben sie einen Vertrag: Du wurdest in ein Labor gebracht, um dort aufzuwachsen, und deine Eltern wurden dafür von ihren Schulden freigesprochen."
„Ich sollte nur ein paar Wochen dort bleiben und das Versuchskaninchen für irgendwelche Tests spielen", wand Vesper ein. „Dann hätte ich wieder nach Hause gedurft!"
Darkwood verzog das Gesicht. „Hat man dir das gesagt?" Vesper zuckte unwillkürlich zusammen. Sie erinnerte sich nicht an den genauen Wortlaut, doch die Botschaft war immer gewesen, dass es sich nur um ein paar Wochen handeln sollte. Oder hatte ihre Familie sie tatsächlich an das Labor verkauft?
„Woher weißt du das?", fragte sie Darkwood. Er hob vorsichtig die Hände. „Ich erzähle es dir, wenn du deine Waffe von Elis Hals nimmst!" Vesper zögerte, dann lockerte sie den Griff mit dem Messer, blieb aber in der Nähe des Halses. Ihr entging nicht das erleichterte Aufatmen des Sec.
„Ich habe die Verträge mit meinen eigenen Augen gesehen, Vesper. Dein Name lautete damals noch anders, erinnerst du dich?"
Vesper versuchte sich verzweifelt zu erinnern, doch die Bilder, die in ihrem Kopf auftauchten, waren verschwommen und stumm. Sie sah Gesichter, Orte, Momente, aber die Geräusche fehlten. Die Stimmen waren wie ausgeblendet, als ob jemand den Ton heruntergedreht hätte. Es war, als ob ein Schleier der Stille über ihre Erinnerungen gelegt worden wäre, und sie kämpfte gegen die unsichtbare Barriere an, die sie davon abhielt, die ganze Wahrheit zu erfassen. Jeder Versuch, die fehlenden Klänge zu finden, fühlte sich an wie ein Griff ins Leere, ein verzweifelter Versuch, den verlorenen Teil ihrer Erinnerungen wiederherzustellen.
Sie schloss die Augen und zwang sich, tiefer in ihr Gedächtnis einzutauchen, aber die Stille blieb bestehen, und die Puzzleteile ihrer Erinnerungen blieben unvollständig. Doch selbst ohne den Ton waren die Bilder alarmierend genug, um ihr zu zeigen, dass sie etwas Wichtiges vergessen hatte. Etwas, das sie dringend herausfinden musste, bevor es zu spät war.
„Victoria." Der Name aus Darkwoods Mund hallte aus der Stille des Raumes in ihr Unterbewusstsein und schien wie ein Echo aus einer längst vergessenen Zeit. Vesper spürte, wie eine Kaskade von Emotionen über sie hereinbrach, als ob der Name eine Tür zu einem verborgenen Teil ihrer Seele aufgestoßen hätte.
Es war mehr als nur ein Name. Es war ein Schlüssel, der verschlossene Erinnerungen freigab, Erinnerungen an eine Person, die sie einst gekannt hatte, die sie vielleicht selbst einmal gewesen war. Doch die Details blieben im Nebel verborgen, und sie kämpfte gegen die undurchdringliche Leere an, die sie umgab.
„Victoria", flüsterte sie leise, als ob sie den Klang des Namens noch einmal schmecken wollte. Ein Hauch von Vertrautheit umgab ihn, aber zugleich war da auch eine unheimliche Unbekanntheit, die sie beunruhigte.
„Erinnerst du dich? An deinen Namen? Oder die Zeit bei Med-On?"
„Med-On?" Vespers Augen weiteten sich schlagartig. Natürlich! Wie hatte sie das übersehen können? Die ganze letzte Nacht hatte sie sich den Kopf darüber zerbrochen, welche Offensichtlichkeit sich vor ihren Augen verbarg, und doch war sie nicht darauf gekommen. Das Labor, in dem man sie festgehalten hatte, gehörte zu Med-On! Keine andere Einrichtung war so modern wie die des Giganten Nex-On Industries. Und wenn es das Labor von Cassius Dusk gewesen war, in das man sie verschleppt hatte, dann musste dieser Hund ebenso von ihrer Vergangenheit wissen. Und demnach auch...
„Vesper, bitte!" Die flehende Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Erst jetzt nahm sie das leise Röcheln wahr, das nah an ihrem Ohr erklang. Sie lockerte den Griff, mit dem sie das Messer hielt, und gab dem Agenten wieder mehr Platz zum Atmen.
„Er hat es die ganze Zeit gewusst, oder?" Vespers Wut stieg in ihr auf, als ihr bewusst wurde, dass Nexor sie keinesfalls zufällig gefunden und ausgebildet hatte. Er wusste, wer sie war und dass sie aus seinem Labor entkommen war. Doch warum war es ihm so wichtig, sie weiterhin zu behalten? Sie war doch nur ein kleines Mädchen, das eine Lungenentzündung überlebt hatte. Oder steckte vielleicht noch mehr dahinter?
„Ich erzähle dir alles, was du wissen musst, Vesper", versprach Darkwood. „Aber bitte, lass Eli los!" Darkwoods sanfte Stimme brachte Vesper kurz ins Wanken. Seine Fürsorge um seinen Liebhaber imponierte ihr. Auch wenn dieser ihn hintergangen hatte, so sorgte er sich doch um ihn. In einem Anflug von Sentimentalität ließ Vesper das Messer sinken und gab ihre Geisel in die Arme seines Geliebten. Eli schlang die Arme um Darkwood, der ihn aus der Gefahrenzone brachte, indem er ein paar Schritte rückwärts machte. „Alles okay?", flüsterte der starke Mann.
„Es geht mir gut", antwortete der Agent und legte seinen Kopf auf Darkwoods Brust. „Genug gekuschelt", sagte Vesper scharf. „Sag mir jetzt, was Nexor mir noch verheimlicht hat."
Darkwood richtete sich auf und schob Eli ein Stück von sich. Dann fixierte er Vesper mit ernstem Blick. „Es wird dir nicht gefallen", prophezeite er.
„Ich bin schon ein großes Mädchen", entgegnete Vesper.
„Nun gut", sagte Darkwood. „Aber sag später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!"
Hey, ich weiß nicht, wie es euch geht, aber irgendwie mag ich Vesper und bin gespannt, wie ihr ihre Vergangenheit findet. Wie immer freue ich mich über Rückmeldungen zu diesem Kapitel, Anmerkungen, Verbesserungsvorschläge etc.
Was gefällt euch und was auch nicht?
Was fehlt? Von welcher Figur wollt ihr mehr sehen und wissen?
Bin über alle Arten von Feedback dankbar 🙏
Bobby
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