17 | Umbruch
Leise klopfte Aria an der Tür zu Juliens Wohnung. Sie wollte Elsie nicht wecken, falls sie gerade schlafen würde. Doch Julien öffnete mit dem wachen Mädchen auf dem Arm die Tür. Er selbst sah sehr gerädert aus. Dunkle Ränder unter seinen Augen verrieten den Schlafmangel und die Anstrengungen, die er sicherlich die letzten Stunden über gehabt hatte.
„Oh je, du siehst ja furchtbar aus!" Aria schritt in die Wohnung und nahm Elsie von Juliens Arm. Er danke es ihr und rieb sich den Rücken. „Das ist nichts mehr für mich, ich bin zu alt für diesen Kram." Aria kicherte und sah zufrieden, wie das kleine Mädchen gähnte und sich dann vertraut an sie kuschelte.
„Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Es gab wirklich eine Menge Neuigkeiten und eine schien schlimmer als die letzte zu sein."
Julien ließ sich erschöpft auf die Couch sinken, während Aria sich neben ihn setzte. Elsie, die sich zuvor geweigert hatte, auf Juliens Arm einzuschlafen, ruhte nun friedlich in Arias Armen.
Julien betrachtete das schlafende Baby mit einem sanften Lächeln. „Es sieht fast so aus, als hätte sie nur auf dich gewartet," bemerkte er leise.
Aria lächelte dankbar zurück. „Danke, dass du auf sie aufgepasst hast."
Julien nickte. „Und danke, dass du dich in den Untergrund begeben hast. Was gibt es Neues?"
Aria wurde ernst. „Die Pläne, die wir geschmiedet haben, erfordern eine wichtige Rolle von dir. Es wird anspruchsvoll, aber ich glaube an dich. Dein Einsatz könnte über unser aller Schicksal entscheiden."
Julien erwiderte den ernsten Blick. „Ich bin bereit. Was müssen wir tun?"
Eli hatte gerade die Hand erhoben, um zu klopfen, da öffnete sich bereits die Tür. „Da bist du ja endlich!" Sander griff nach der Jacke des Security Agenten und zog ihn in die Wohnung. Auf seinem Gesicht lagen Sorge und Erleichterung. „Ich habe mir Sorgen gemacht! Du hättet mir wenigstens eine Nachricht hinterlassen können!" Sanders tadelnder Tonfall ließ Eli verlegen lächeln.
„Ich bin gleich nach der Arbeit zu einer Besprechung in den Untergrund berufen worden. Und ich wusste nicht, dass es so spät werden würde. Es tut mir leid", sagte er beschämt. Sander zog Eli in eine feste Umarmung, mit der Eli nicht gerechnet hatte. Doch er schlang seine Arme um den größeren und erwiderte die Geste.
„Wir haben ein Problem! Ich war heute im Gefängnis und der Frau, die gestern als Probandin herhalten musste, ging es katastrophal. Die Microchips scheinen nicht so zu wirken wie erwartet und Nexor war furchtbar wütend. Cassius hat mich zu sich gerufen und wollte mich über dich ausquetschen, weil ich verhindert habe, dass du geimpft wirst. Mir blieb nichts anderes übrig als ihm zu erzählen, dass wir zusammen sind und ich dir deshalb geholfen habe. Er hat ja, wie wir bereits wissen, versucht über Vesper an Informationen über dich heranzukommen. Doch solange er nicht weiß, dass du ein Shadow Solider bist, sollte er uns nun in Ruhe lassen. Immerhin stehen wir ja auf der gleichen Seite. Theoretisch!"
Sander hatte schnell gesprochen und Eli fand es irgendwie süß, dass er sich so um seine Sicherheit sorgte. Doch er ahnte auch, wie ernst die Sache war.
„Und was passiert jetzt? Ich meine, wenn die Microchips defekt sind, werden sie doch hoffentlich nicht verteilt, oder?" Wenn das der Fall wäre, hätten sie vielleicht doch noch eine Chance, ihren Gegenschlag rechtzeitig vorzubereiten.
„Sie werden die Programmierung anpassen und neuen Chargen erstellen. Cassius meinte, dass uns dies um zwei Wochen zurückwirft!"
„Zwei Wochen!" Eli strahlte. „Das sind gute Neuigkeiten!"
„Okay." Sander grinste. Die plötzliche Freude seines Freundes machte auch ihn glücklich. Er streckte seine Arme aus und zog Eli an sich heran. „Wenn wir jetzt so viel Zeit gewonnen haben, sollten wir uns vielleicht noch nicht gleich schlafen legen, oder?" Er grinste schelmisch.
Eli schmunzelte. „Wir haben noch jede Menge Zeit!" Dann schob er Sander spielerisch rückwärts ins Schlafzimmer.
Victoria stand unschlüssig im Schlafzimmer der bescheidenen Wohnung, deren Adresse Dante ihr gegeben hatte. Bis vor kurzem war sie sich sicher gewesen, was sie tun würde, wenn sie ihre Eltern gefunden hätte. Doch jetzt, während sie auf das friedlich schlafende Trio im Doppelbett blickte—die Eltern, die ihren Sohn liebevoll in die Mitte genommen hatten—, wurde sie von unerwarteten Gefühlen überwältigt.
In diesem Moment erinnerte sich Victoria an ein Detail, das sie in den Wirren der Vergangenheit vergessen hatte: Als sie krank geworden war, war ihre Mutter schwanger mit einem zweiten Kind. Dieser Junge, der nun gesund und geborgen in diesem kleinen, aber sicheren Heim lag, hätte ihr Bruder werden sollen. Ein Leben, das ihr verwehrt geblieben war, das sie jedoch so gerne geführt hätte.
Sie fragte sich, ob ihr Bruder in der dunklen Welt von Nightvale überlebt hätte, wenn Nexor sein Wort gehalten und sie nach ein paar Wochen gehen lassen hätte. Vielleicht war es tatsächlich besser so—vielleicht war es für alle Beteiligten besser, dass sie nicht in dieser Welt aufgewachsen war.
Victoria trat einen Schritt zurück und ließ von ihrem ursprünglichen Vorhaben ab. Sie verstand nun, warum ihre Eltern sie gerettet hatten. Ihr Leben im Untergrund hätte nicht ansatzweise die Annehmlichkeiten geboten, die sie bisher genossen hatte. Und die Realität ihrer Eltern war weit entfernt von dem luxuriösen Leben, das sie sich ausgemalt hatte. Nexor hatte sie nicht mit Reichtümern überschüttet, sondern ihnen gerade genug gegeben, um ein erträgliches Leben zu führen. Dies konnte sie ihnen nicht wegnehmen. Sie konnte ihrem Bruder seine Eltern nicht nehmen.
Doch plötzlich wallte Zorn in ihr auf. Ihre Eltern hatten ihr Kind einem Wahnsinnigen überlassen, und dafür hatten sie nur diese bescheidene Wohnung erhalten? War sie dem Herrscher von Nightvale nicht mehr wert gewesen? Hatte sie nicht unzählige Feinde bekämpft und ihm so unermesslichen Reichtum beschert? Und alles, was ihre Familie dafür bekam, war das?
Victoria ballte ihre Fäuste. Sie war zu lange die Marionette der Mächtigen gewesen. Jetzt würde sich das Blatt wenden. Sie würde sich für die Ungerechtigkeit rächen, die ihr und ihrer Familie widerfahren war.
Als sie sich zum Gehen wandte, fiel ihr ein Bild auf, das in einem Rahmen auf der Kommode stand. Es war ein selbstgemaltes Kinderbild, das eine glückliche Familie zeigte: Vater und Mutter umrahmten zwei Kinder, die sich in der Mitte umarmten. Victoria beugte sich näher, um die Worte unter den Figuren zu lesen: „Mama, Papa, Kazuya, Shouri."
Eine Träne lief über ihre Wange. Sie griff nach dem Rahmen, drückte das Bild an sich und dachte lächelnd, dass Kazuya eines Tages ein neues Bild malen würde.
Dann verschwand sie wieder in die neonbeleuchtete Dunkelheit der Kuppelstadt, die friedlich schlief und noch nicht wusste, welcher Umbruch ihr bald bevorstehen würde.
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