15 | Thalias Vergangenheit (T/A)
Silas verließ das Inferno durch einen geheimen Ausgang, der ihn wieder zurück in die Kommandozentrale der Shadow Soldiers führen würde. Er hatte Vesper nach ihrem Termin mit Dante wieder in die Bar zurückgebracht und ihr einen Zettel mit einer Adresse überreicht, den Dante ihm bereits im Vorfeld übergeben hatte. Vesper hatte ihn ziemlich mürrisch an sich gerissen, nachdem sein Kollege ihr die Fesseln abgenommen hatte.
„Das war eine Finte!", hatte sie hervorgestoßen und sofort mit ihrer freien Hand nach seiner Kapuze gegriffen. Doch Silas hatte den Angriff gekonnt abgeblockt.
„Man muss wissen, wann man sich geschlagen geben sollte, liebe Vesper", hatte er unter seinem Umhang gelächelt, während seine Hand die seiner Schülerin noch immer umklammerte. Für einen Moment hatte er gemeint, die Erkenntnis, dass sie ihn kannte, in ihren Augen aufblitzen zu sehen. Es waren zwar Jahre vergangen, doch vielleicht hatte sie seine Stimme erkannt.
Silas war ziemlich überrascht, als Dante ihn nur wenige Stunden nach ihrem morgendlichen Besuch erneut zu sich beorderte. Anfangs ging Silas davon aus, dass Dante Vesper aufgespürt hatte, doch dann stellte sich heraus, dass es umgekehrt war: Vesper hatte Dante aufgesucht und ihn um eine Information gebeten. Für Dante war das ein unerwarteter Glücksfall, denn es bot ihm die Gelegenheit, Vesper unbemerkt jene Information zu entwenden, für die Thalia ihn zuvor bezahlt hatte.
Während Silas durch die engen Tunnel des Untergrunds kletterte, fragte er sich, was die Assassine nun mit den Informationen vorhatte, nachdem sie wütend aus dem Inferno gestürmt war. Würde sie ihre Eltern töten, sobald sie sie gefunden hatte? Oder wollte sie wirklich nur mit ihnen reden?
Silas schnaubte leise. Der Gedanke, dass Vesper auf einem gemütlichen Sofa bei Kaffee und Kuchen mit den Menschen plauderte, die sie einst an den Feind verkauft hatten, erschien ihm völlig absurd. Er hatte die Gerüchte gehört: Das Mädchen ohne Erinnerungen, das Nexor damals zu ihm ins Boot Camp geschickt hatte, war keine Waise. Nexor hatte sie gegen einen Gefallen eingetauscht.
Damals wollte Silas nicht glauben, dass Nexor zu solch einer Tat fähig wäre, um sich selbst zu bereichern. Doch heute sah er die Dinge klarer. Heute würde er ohne Zögern schwören, dass Nexor genau der Mensch war, der ein kleines Mädchen ihren Eltern entriss, nur um sie zu einer Auftragsmörderin zu formen. Was für eine verdorbene Welt.
Silas schob die hölzerne Rückwand eines Schranks zur Seite und trat in die Waffenkammer der Kommandozentrale. Sorgfältig verschloss er den verborgenen Zugang und verließ die Kammer durch die Tür. Gerade wollte er sich auf den Weg zu Thalia machen, um ihr Dantes Nachricht zu überbringen, als er ein leises Stöhnen hörte. Sein Blick wanderte zu einer Liege, auf der ein Mann lag. Silas trat näher an den unbekannten Soldaten heran, der mühsam ein Auge öffnete. Sofort wurden in Silas Erinnerungen an das Lazarett in der Wüste wachgerufen—der allgegenwärtige Geruch von Schweiß, Blut und Metall. Doch hier lag nur der vertraute Geruch von kalter Feuchtigkeit und Schimmel in der Luft, vermischt mit einem unangenehmen Hauch von Eiter und Desinfektionsmittel. Neugierig trat er an den Soldaten heran und suchte seinen Blick.
„Wach geworden, Soldat?" fragte Silas mit ruhiger Stimme. Der junge Mann blinzelte und versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen. „Sie haben mir wieder den Herkules geschickt," murmelte er. „Wo ist die hübsche Grauhaarige?"
Ohne ein Wort hob Silas die Decke des Soldaten und begutachtete den Verband, den der Doktor angelegt hatte. „Dreh dich mal um, ich muss die Wunde sehen," sagte er knapp.
Der Mann verzog das Gesicht. „Kann das nicht meine neue Freundin machen? Ich verspreche, mich zu benehmen," scherzte er mit einem schwachen Grinsen. Doch Silas griff einfach nach dem Arm des Soldaten und drehte ihn mit einem entschlossenen Ruck auf die Seite. Ein schmerzerfülltes Stöhnen entwich dem Mann, als Silas Befürchtung bestätigt wurde: Der Verband war durchnässt und musste dringend gewechselt werden. „Reiß dich zusammen, der Verband muss neu gemacht werden. Ich hole nur kurz Hilfe."
Mit diesen Worten ließ Silas den Soldaten allein und machte sich auf den Weg, Unterstützung zu holen. Auf dem Weg zu Maren, die als Hebamme und Krankenschwester gleichermaßen erfahren war, stieß er auf Nova. Kurzentschlossen drückte er ihr einen Zettel in die Hand, auf dem er den Namen der Assassine notiert hatte. Thalia würde sofort verstehen, dass dies die Antwort auf ihre Frage nach dem Angriff auf den Piloten war.
Die Versorgung des Soldaten dauerte länger, als Silas erwartet hatte. Dr. Noir hatte die Wunde zwar gut behandelt, doch die wenig sterile Umgebung im Untergrund verhinderte, dass sie richtig trocknen konnte, und der Verband begann bereits unangenehm zu riechen. Wenn der Mann eine echte Chance auf Heilung haben sollte, musste er so schnell wie möglich verlegt werden. Es war klar, dass er dringend Pflege benötigte, um eine gefährliche Entzündung zu vermeiden.
Nachdem der Pilot endlich versorgt war, zog Silas Maren beiseite, um seine Gedanken mit ihr zu teilen.
„Wie willst du ein leeres Zimmer auftreiben?" fragte Maren besorgt. „Niemand hat hier Platz übrig. Und ins Krankenhaus können wir ihn auch nicht bringen. Vielleicht könnte ich eine Freundin fragen, ob sie uns für ein paar Tage ihre Couch zur Verfügung stellt, aber das ist keine Lösung auf Dauer."
„Wenn er hier bleibt, wird er es nicht schaffen," sagte Silas mit fester Stimme. Er hatte schon zu viele Kameraden an Wundbrand und bakteriellen Entzündungen sterben sehen. Nicht die Bomben der Feinde waren das größte Problem, sondern die schlechte Nachversorgung in unterversorgten Lazaretten.
„Ich werde darüber nachdenken, vielleicht finde ich eine Lösung," versprach Maren schließlich. „Aber jetzt braucht er vor allem eins: Ruhe."
🌍
Thalia saß in der Kommandozentrale am großen Besprechungstisch und ließ das Gespräch, das sie am Morgen mit Dante Darkheart geführt hatte, noch einmal Revue passieren. Ihre Bitte an ihn war einfach, aber entscheidend gewesen: „Finde den Schützen!" Dante hatte zugestimmt, nachdem sie ihm die Worte des Piloten mitgeteilt hatte. Er wusste nur zu gut, welche Auswirkungen diese Information auf die Bevölkerung haben könnte, und hatte lediglich genickt, als sie ihn bat, vorerst Stillschweigen zu bewahren.
Dante war zwar kein Freund im klassischen Sinne, aber er hatte sich über die Jahre zu einer Art Verbündeten der Shadow Soldiers entwickelt. Zwar verfolgte er stets seine eigenen Interessen mit oberster Priorität, doch Thalia glaubte, dass er im Kern ein guter Mensch war, der lediglich versuchte, in dieser unwirklichen Welt zu überleben. Sie respektierte diesen Ansatz, auch wenn sie für sich einen anderen Weg gewählt hatte. Thalia wollte die Welt, in der sie lebte, für alle ein wenig besser machen. Deshalb war sie vor Jahren nach New World gekommen und hatte ihr altes Leben hinter sich gelassen.
Vor 30 Jahren
„Du willst mich verlassen?" Thalia sah von ihrem gepackten Koffer auf, in den sie gerade noch ein Bild ihres zu früh verstorbenen Bruders gelegt hatte. Mehr würde sie nicht mitnehmen dürfen in ihre neue Heimat. Doch mehr brauchte sie auch nicht.
Routiniert zog sie den Zipper des Koffers zu, hob ihn vom Himmelbett und zog mit einer fließenden Handbewegung den Griff aus der verschalten Rückseite. „Ich habe dir angeboten, mich zu begleiten, Amar. Ich darf jemanden mitnehmen und ich biete dir den Platz an meiner Seite an. Der Bus kommt in dreißig Minuten, du hast noch Zeit zu packen."
Thalia sah ihren Freund lange an, ehe er den Kopf schüttelte. „Das ist Wahnsinn!", brachte er schließlich hervor und schloss die hohe, reich verzierte Tür des Schlafzimmers hinter sich. Die Bediensteten mussten den Streit ja nicht mit anhören. „Du nimmst diesen Job hoffentlich nicht nur an, weil ich von dir verlangt habe, kürzer zu treten. Du musst mich verstehen, meine Familie hat schon genug damit zu kämpfen, dass ich keine Inderin heiraten will. Und dann auch noch eine Anwältin... sie wollen Nachwuchs sehen, das verstehst du doch, oder?"
Amar ging auf seine Verlobte zu und sah sie streng an. „Ich weiß, dass ihr europäischen Frauen eure Arbeit liebt und ich will sie dir auch nicht verbieten. Ich frage dich ja nur, ob du ein bisschen weniger arbeiten kannst. Das ist doch nicht zu viel verlangt. Ich kann dir doch alles geben!"
Amar machte eine ausladende Handbewegung, um Thalia an die unendlichen Schätze zu erinnern, die ihr palastähnliches Haus schmückten. Doch Thalia war nicht empfänglich für diese Gegenstände, an denen ihr Herz nicht hing. Das einzige in diesem Raum, dem sie jemals Aufmerksamkeit und Liebe gegeben hatte, war Amar. Und selbst er hatte sich die letzten Monate verändert, seitdem sie ihren hochangesehen Job als Anwältin in London gekündigt und mit ihm nach Lahore gezogen war. Zu seiner Familie, weil sie niemanden mehr hatte und er ihr ewige Liebe versprach. Aber seine Vorstellungen von Partnerschaft und Ehe waren mit ihrer Vorstellung einer gleichberechtigten Beziehung doch nicht so vereinbar, wie er ihr anfangs weiß machen wollte. Und während sie langsam aus ihrer rosaroten Welt aufzuwachen begann, bekam sie ein Angebot, dass für sie die Rettung aus alledem war.
„Ich gehe nicht wegen unseres Streits", sagte sie vorsichtig. Sie hatte trotz all ihrer Zweifel den Mann, dessen Ring sie am Finger trug, noch nicht aufgegeben. Vielleicht gab es doch noch eine letzte Chance für ihre Beziehung? „Ich habe die Aufgabe bekommen, für die „Neue Welt" Polizisten auszubilden und bei dem Aufbau eines neuen Recht-Systems mitzuwirken. Das ist eine riesige Chance für mich! Und wenn die Welt wirklich unterzugehen droht, bin ich gleichzeitig am wahrscheinlich sichersten Ort der Welt." Thalia versuchte ihren Liebsten mit einem Lächeln zu überzeugen. „Komm doch bitte mit! Wir könnten auch dort heiraten, wenn du das noch willst."
Amar seufzte. „Ich kann meine Familie nicht im Stich lassen!" Seine dunkelbraunen Augen sahen Thalia entschuldigend an. „Aber ich werde dich auch nicht aufhalten. Wenn du gehen musst, dann geh. Auch wenn diese Kuppel das Dämlichste ist, von dem ich je gehört habe!"
Thalia lächelte unsicher. „Mag sein, dass das alles unnötig ist. Aber falls nicht, kann ich viel Gutes tun und den Menschen unter der Kuppel mit meinem Wissen helfen. Ich könnte eine Neue Welt mit aufbauen. Wann bekommt man mal eine solche Gelegenheit?"
Darauf wusste auch Amar nichts mehr zu sagen. Er begleitete seine Verlobte noch bis auf die Straße und zur Bushaltestelle. Als sie einstieg drehte sie sich noch ein letztes Mal um. Amar hob die Hand zum Gruß. Dann ging er zurück zu ihrem Haus. „Seinem Haus", verbesserte sich Thalia und nahm gerade noch rechtzeitig Platz, bevor der Bus anfuhr. Als sie sich der Grenze nach Pakistan näherten, realisierte Thalia plötzlich, dass diese Reise vermutlich ein Abschied für immer war. Und tief in ihrem Herzen war sie froh, ihrem Leben an Amars Seite entkommen zu sein.
Heute
„Thalia? Ich habe eine Botschaft von Silas für dich. Die Antwort von Dante!" Thalia schaute auf.
„Jetzt schon?" Verwundert nahm sie die Notiz entgegen, die Nova Nightingale ihr überreichte. Neugierig klappte sie das Papier auf und las die Botschaft. Auch wenn sie es bereits geahnt hatte, empfand sie eine eigentümliche Genugtuung, die Bestätigung schwarz auf weiß zu sehen. Dass ausgerechnet Nexors private Assassine den Piloten angegriffen hatte, bestätigte ihre vage Vermutung: Der mächtigste Mann der Stadt wollte die Botschaft des Weltuntergangs unterdrücken! Er wollte die Hoffnung auf eine mögliche Freiheit außerhalb der Kuppel aufrechterhalten, um sein Volk weiter unter seiner Kontrolle zu behalten. So konnte er seine Macht aufrechterhalten und seine Interessen durchsetzen, indem er sie im Glauben ließ, dass die Welt da draußen bald wieder normal sein würde und ihre Liebsten noch lebten.
Thalia hatte damals alle bekannten Menschen hinter sich gelassen, doch hier unten hatte sie mehr ein Zuhause gefunden als an jedem anderen Ort in der Welt. Hier konnte sie wirklich helfen, Leben verbessern und Überleben sichern. Nun, da alles drohte aus den Fugen zu geraten, musste sie kämpfen - gegen die Herrschenden, gegen die Neons und gegen Nexor! Er durfte nicht mit seiner gelebten Lüge von einer Interimslösung davonkommen!
Eilig griff Thalia nach einem Zettel und verfasste eine Nachricht, um die Shadow Soldiers zusammenzurufen. Sie mussten schnell handeln, bevor Vesper Nexor verriet, dass der Drohnenpilot noch am Leben war.
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