11 | Deserteur (Silas)

Damals

Die Nachmittagssonne stand hoch am Himmel und ließ die schroffen Felswände des abgelegenen Tals in gleißendem Licht erstrahlen. Der Staub lag schwer in der Luft, und die Hitze drückte unerbittlich auf die Männer des Trupps, die in ihrer provisorischen Stellung kauerten. Silas spürte, wie der Schweiß ihm den Rücken hinablief, aber er achtete nicht darauf. Sein Blick war starr auf die Felsen vor ihm gerichtet, hinter denen der Feind sich verborgen hielt. Er war erst 19 Jahre alt, aber in diesem Moment fühlte er sich wie ein alter Mann, erschöpft und belastet von der Angst vor dem, was hinter diesem Felsen auf sie lauerte.

Der junge Soldat fragte sich gerade, wie lange die hier noch aushalten mussten, als plötzlich ein ohrenbetäubender Knall die trügerische Stille durchbrach. Eine Mörsergranate flog sirrend auf sie zu und schlug in die Erde ein, nur wenige Meter von ihrer Position entfernt. Die Druckwelle schleuderte Silas zu Boden, und für einen Moment war alles um ihn herum nur ein dumpfes Dröhnen. Mühsam rappelte er sich auf, als die zweite Granate einschlug, gefolgt von einem Hagel aus Kugeln. Der Feind hatte zugeschlagen, und es war schlimmer, als sie befürchtet hatten.

„Deckung!", brüllte der Sergeant, doch seine Stimme ging im Chaos unter. Silas sah sich mit klopfenden Herzen um und entdeckte seinen Freund, den Gefreiten Jennings, der reglos am Boden lag, getroffen von einem Granatsplitter. Blut durchtränkte sein Uniformhemd, seine Augen blickten weit aufgerissen in den  trügerisch blauen Himmel.

Etwas in Silas brach auf, ein instinktiver Drang, zu handeln, bevor es zu spät war. Er wusste, dass es Wahnsinn war, doch in diesem Moment spielte es keine Rolle. Mit einem heftigen Ruck sprang er aus seiner Deckung und rannte zu Jennings hinüber. Der Boden bebte unter seinen Füßen; die Luft erfüllt vom scharfen Geruch nach Sprengstoff und verbranntem Metall. Um ihn herum zischten die Kugeln. Jeden Schritt fürchtete Silas, es könnte sein letzter sein.

Doch wie durch ein Wunder erreichte er seinen Kameraden und ließ sich neben ihm auf die Knie fallen. Der junge Soldat suchte dem Tode nahe Silas' Blick; sein Atem ging stoßend und rasselnd. Silas packte ihn unter den Armen und begann, ihn über den Boden zu ziehen. Es war, als würde er einen Stein durch einen Fluss aus Feuer schleppen, jeder Schritt ein Kraftakt. Sein Herz hämmerte in seiner Brust, und er spürte, wie seine Muskeln zu brennen begannen. Doch er musste weiter. Dachte immer nur an den nächsten Schritt.

Plötzlich riss eine Kugel ihm den Stoff seines Uniformhemds am Arm auf und hinterließ eine brennende Wunde. Silas schrie auf, doch er ließ nicht los. Die Welt um ihn herum begann zu verschwimmen, die Geräusche wurden gedämpft, doch er wusste, dass er nicht aufgeben durfte. Zentimeter um Zentimeter schleppte er Jennings zurück zur Deckung, bis er schließlich, mit letzter Kraft, den schützenden Felsen erreichte.

Er ließ den verwundeten Soldaten sanft zu Boden gleiten und sah sich hektisch um. Weitere Kameraden lagen verletzt im offenen Gelände. Ohne zu zögern, zwang er sich wieder auf die Beine, sein Körper war ein einziger Schmerz, doch der Adrenalinschub trieb ihn voran. Wieder und wieder rannte er ins Kreuzfeuer, zog seine Kameraden aus der Gefahrenzone, ignorierte die Gefahr, die Schreie der Angreifer, das Dröhnen der Explosionen.

Erst als das Feuer schließlich nachließ und der Feind sich zurückzog, sank Silas, von Wunden gezeichnet und völlig erschöpft, auf die Knie. Er sah, wie die anderen sich um die Verwundeten kümmerten, ihre Gesichter spiegelten die Erleichterung wider, dass sie noch lebten. Silas spürte, wie ihn die Erschöpfung übermannte und ihm schwarz vor Augen wurde. Die Welt um ihn herum verblasste, und das Letzte, was er hörte, war das gedämpfte Rufen seiner Kameraden.

Heute

Silas Shadowstrike erwachte schweißgebadet aus dem Albtraum, der einen Teil seiner weit entfernten Vergangenheit widerspiegelte. Heftig atmend sah er sich um. Fast hatte er erwartet, sich erneut in dem Lazarett zu befinden, in das man ihn nach dem Angriff auf ihren Trupp gebracht hatte. Doch er lag nur in der kleinen Kammer, die er sein eigen nannte, auf dem schmalen Bett und starrte in die fast vollkommene Dunkelheit. Nur eine nackte Glühlampe, die von einem Schutzgitter umgeben war, tauchte die Höhlenwände in ein schummriges Dämmerlicht.

Silas schwang seine Beine über den Rand seiner Schlafstätte und setzte seine Füße auf den kalten Boden. Zittrige Finger fuhren durch die blonden Haare. Sie waren lang geworden, weshalb er an den Seiten zwei dünne Zöpfe geflochten hatte. Im Kampf konnte er sie nutzen, um den Rest der Haare damit im Nacken zusammenzubinden.
„Nur ein Traum", flüsterte Silas und schloss die Augen. Wie jedes Mal versuchte er, die schrecklichen Erinnerungen an den Angriff durch den Gedanken an die anschließende Verleihung der Medal of Honor zu verdrängen, die ihm der Präsident persönlich überreicht hatte. Es war seine einzige Möglichkeit, den Schmerz zu mildern, denn ganz verdrängen konnte er die Gedanken an das Erlebte nicht - er konnte sie lediglich abschwächen.

Die höchste militärische Auszeichnung seines Vaterlandes war ihm „für außergewöhnliche Tapferkeit im Kampf, die das normale Maß an Pflichterfüllung weit übersteigt," verliehen worden. Diese Ehrung, die ihm viele Türen öffnete, brachte jedoch auch viel Verantwortung mit sich. Plötzlich stellte man hohe Erwartungen an den jungen Mann, die er aus einem antrainierten Pflichtbewusstsein heraus versuchte zu erfüllen.

Nach der Verleihung wurde er gefeiert, hofiert und weiter ausgebildet. So wurde er auf die verschiedensten Waffen geschult und man bot ihm Spezialausbildungen an, durch die er Kampffähigkeiten erlernte, von denen er zuvor nicht einmal gewagt hatte zu träumen. Die Anerkennung, die ihm entgegengebracht wurde, schien keine Grenzen zu kennen - und doch fühlte er sich zunehmend fehl am Platz.

Als er die Möglichkeit bekam, in New World eine Schlüsselrolle als Ausbilder einer Eliteeinheit einzunehmen, riet man ihm dringend, diese Chance anzunehmen. Es war eine Position von Prestige und Verantwortung, eine, für die er öffentlich als Held gefeiert wurde. Doch tief in seinem Inneren konnte er diesen Titel nicht akzeptieren. Dankbarkeit empfand er zwar für die ihm zuteil gewordenen Möglichkeiten, aber er spürte, wie die Schwere der Ereignisse noch immer auf seinen Schultern lastete. Er hatte in jenen entscheidenden Momenten nur das getan, was er für richtig hielt, nicht mehr und nicht weniger. Die Bezeichnung „Held" war für ihn ein Etikett, das er kaum tragen konnte, weil es so weit von seiner eigenen Wahrnehmung entfernt war.

Er hatte nur seine Kameraden und sich selbst retten wollen. Und die Kehrseite der Medaille war nun, dass er regelmäßig von den Erinnerungen an seine Vergangenheit im Schlaf übermannt wurde. Dass er die Schreie seiner Kameraden und das Zischen der Granaten wieder und wieder hörte. Dass er die Hitze der Wüste und die Wunden an seinem Körper selbst beim Erwachen noch spürte. Selbst wenn er sich in der fragilen Sicherheit der Zentrale der Shadow Soldiers wusste.

Er hatte lange versucht, sich als Ausbilder dieser geheimen Kampfelite in Nightvale ein neues Leben aufzubauen. Hatte junge Männer und Frauen ausgebildet, um die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten. Doch irgendwann hatte Silas begonnen, an seiner Rolle zu zweifeln. Er hatte geglaubt, mit der Medal of Honor, mit seinem neuen Rang und dem Respekt, den man ihm entgegenbrachte, etwas bewegen zu können. Etwas Gutes in dieser Stadt schaffen zu können. Doch je tiefer er in die Strukturen der Herrschenden einstieg, desto deutlicher wurde ihm, dass diese neue Welt genauso korrupt und grausam war wie die alte.

Die Regierung, die ihm als Schutzmacht verkauft worden war, zeigte bald ihr wahres Gesicht. Es begann mit den Befehlen, die ihm schwer im Magen lagen – Missionen, die er im Namen der Sicherheit ausführen sollte, die jedoch oft nur dazu dienten, die Macht der Regierung zu festigen und Aufstände im Keim zu ersticken. Silas hatte geglaubt, dass man ihn auserwählt hatte, weil er nicht nur blind Befehle befolgen konnte. Doch er musste bald erkennen, dass man hier wie dort genauso nach Marionetten suchte, die nach den Befehlen derer handelten, welche die Fäden in den Händen hielten.

Es waren die Begegnungen mit den Shadow Soldiers, die schließlich seine Entscheidung, nicht immer nur benutzt zu werden, besiegelten. Zuerst waren es nur Gerüchte gewesen, Flüstern in den Reihen der Herrscher über eine Gruppe von Rebellen, die sich gegen die Regierung stellte, die für Freiheit und Gerechtigkeit kämpfte – nicht für Macht und Kontrolle. Silas hätte diese Geschichten leicht als Propaganda abtun können, wenn er nicht selbst die Risse im System gesehen hätte. Er konnte die Augen nicht länger vor den Gräueltaten verschließen, die im Namen des Friedens begangen wurden.

Eines Nachts, als der Schmerz der Erinnerungen ihn wieder einmal aus dem Schlaf gerissen hatte, entschied er sich, diesen Gerüchten nachzugehen. Er verließ die Ausbildungsstätte, schlich sich durch die Schatten der Stadt, bis er die Kontaktperson traf, von der man ihm erzählt hatte. Es war riskant, lebensgefährlich sogar, aber Silas wusste, dass er das Risiko eingehen musste. Der Tag, an dem er Dante Darkheart traf, war der Wendepunkt in seinem Leben in Nightvale. Dante bot ihm immer wieder Jobs an und machte ihn schließlich mit Thalia bekannt. Sie erzählte ihm von den Verbrechen der Regierung, die sie aufgedeckt hatten; von den Lügen, die das System aufrechterhielten, und je mehr er hörte, desto mehr wuchs in ihm die Erkenntnis, dass er auf der falschen Seite stand. Die Entscheidung, sich den Shadow Soldiers anzuschließen, war schließlich die logische Konsequenz für ihn. Es war keine Flucht, sondern ein Schritt hin zu einer Wahrheit, die er lange ignoriert hatte. Diesmal, schwor er sich, würde er wirklich für das Richtige kämpfen.

Doch der Wechsel hatte seinen Preis: Silas war nun ein Deserteur, ein Verräter in den Augen der Regierung. Obwohl die Shadow Soldiers ihn aufgenommen hatten, war er ständig auf der Flucht, doch auch immer bereit, das korrupte System weiter zu destabilisieren. Er lebte im Schatten, versteckte sich in dunklen Gassen und wich den Blicken der Security-Agenten aus. Jeden Tag sah er das Elend und das Leid der Bevölkerung im Untergrund, und doch verlor er nie die Hoffnung, die Welt ein wenig besser zu machen, nun, da er endlich auf der richtigen Seite stand.

Als Thalia ihn an diesem Morgen abholte, um gemeinsam mit ihm zu Dante zu gehen, ahnte Silas sofort, dass dieser Besuch bei dem mächtigen Informationsmogul alles andere als routinemäßig sein würde. Thalia wirkte entschlossen, fast angespannt - etwas Großes stand bevor. Sie hatte Fragen, die dringend beantwortet werden mussten, und war bereit, einen hohen Preis zu zahlen, um das Wissen zu erhalten, das nur Dante beschaffen konnte.

Thalia hatte Dante etwas anzubieten, das selbst den anspruchsvollen Mogul interessieren würde. Doch das allein genügte nicht. Silas wusste, dass seine Rolle in diesem Spiel entscheidend war. Er bot Dante Schutz an - eine Vorsichtsmaßnahme, die angesichts der bevorstehenden Bedrohung unerlässlich war. Denn die Informationen, die Thalia suchte, konnten nur von einer Person stammen, vor der selbst Silas Respekt hatte, vielleicht sogar Angst.

Diese Frau, die sie nun aufspüren mussten, war einst eine seiner Schülerinnen gewesen. Zusammen mit anderen erfahrenen Kämpfern hatte er sie zu einer gnadenlosen und extrem gefährlichen Kriegerin ausgebildet. Ihre Fähigkeiten hatten alles übertroffen, was er sich jemals vorgestellt hatte. Und Dante war nicht so töricht, dieser unberechenbaren Frau ohne Schutz gegenüberzutreten.

🤔

Mal wieder ein paar Fragen:
Ist dieses Kapitel zu lang? Sind unnötige Informationen oder Wiederholungen drin?
Ich war selbst so drin in Silas Geschichte, aber vielleicht sagt ihr ja, dass es den Lesefluss stört 🙈
Bin mir hier ein wenig unsicher.
Danke für euer Feedback ♥️

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