10 | Nicht nach Plan (Neons)

„Wie konnte das passieren?" Nexor stand wie gewöhnlich regungslos vor dem übergroßen Fenster und blickte auf die Stadt hinaus. Doch die sonst so ruhige und kontrollierte Stimme, die Seraphina normalerweise einen wohligen Schauer über den Rücken jagte, klang heute ungewohnt streng und scharf. Die Enttäuschung in seinen Worten traf sie unvermittelt und ungeschönt.

„Ich bitte vielmals um Verzeihung, Boss. Ich war mir sicher, dass alles korrekt war. Ich habe es sogar gegenprüfen lassen! Es schien alles in Ordnung zu sein." Seraphina bemühte sich, ihre Fassung zu bewahren, doch die ungewohnte Anspannung ihres Herrschers übertrug sich auf sie und ließ ihre Stimme zittern.

„Es war nicht in Ordnung!" Nexor donnerte so plötzlich, dass Seraphina erschrocken zusammenzuckte. „Dein Fehler wirft uns mindestens zwei Wochen zurück, Miss Nightshade! Zwei Wochen und tausende unbrauchbare Präparate! Eigentlich müsste ich dir das vom Lohn abziehen!" Der Wutausbruch traf sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel, und Seraphina war sicher, dass sie Nexor noch nie so wütend erlebt hatte.

„Es tut mir leid!" Seraphina senkte schuldbewusst den Blick. Die Scham über ihren dummen Fehler im Code lastete schwer auf ihr. Sie hatte alles richtig machen wollen, besonders für den Mann, den sie so sehr bewunderte. Was musste er jetzt von ihr denken? Dass sie ein unfähiges, kleines Mädchen war? Seraphina spürte den vertrauten, fast willkommenen Schmerz, als sich ihre langen, roten Fingernägel in ihre Handinnenflächen gruben.

Sie rechnete schon mit einer weiteren Tirade, doch zu ihrer Überraschung seufzte Nexor und drehte sich zu ihr um. „Du hast Glück, dass nur diese eine Frau betroffen ist", sagte er fast schon vertraulich. „Stell dir vor, wir hätten bereits die breite Masse geimpft und dann herausgefunden, dass eine kleine Abweichung im Code kollektives Erbrechen ausgelöst hätte."

Nexor warf Seraphina einen letzten strafenden Blick zu. Es bedurfte keiner weiteren Worte, um sie in tiefe Scham zu versetzen. Eine kleine Unachtsamkeit – ein Zahlendreher im Code – hatte die Serotonin-Dosis, die bei den Betroffenen Angst auslösen sollte, verzehnfacht. Die Versuchsperson hatte heftig reagiert: Sie war nicht nur ängstlich, sondern panisch geworden und hatte sich danach stundenlang in ihrer Zelle erbrochen. Darkwood hatte sie - wie er kurz zuvor von einem Boten erfahren hatte - in ein Krankenhaus einweisen lassen, um ihr Leben zu retten. Eine unnötige finanzielle Ausgabe, die so nicht geplant war – ebenso wenig wie die erneute Programmierung der Chips und die Herstellung der Spritzen.

Das alles würde den Zeitplan erheblich verzögern, und Nexor hasste es, wenn etwas nicht pünktlich und reibungslos funktionierte. Doch da Seraphina ihre Lektion offensichtlich gelernt hatte, entschied er sich, noch einmal Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Vielleicht hegte er auch die leise Hoffnung, die hübsche junge Frau eines Tages um einen etwas anderen Gefallen bitten zu können.

„Na los! Geh und mach dich an die Arbeit. Lass es diesmal von vier Augen prüfen und gib es dann mir. Ich werde es mir ebenfalls ansehen. Das wäre alles."

Seraphina nickte gehorsam und verließ Nexors Büro wie ein geschlagener Hund. Auf dem Weg zurück ins Techniklabor schwor sie sich, nie wieder einen solchen Fehler zu machen.

🌍

Cassius erfuhr kurz nach Nexor von dem Vorfall in der Gefängniszelle. Er hatte gerade den letzten verfügbaren Arzt in Nightvale angerufen und wollte eigentlich die Termine für die Vorbereitung und Impfung planen, als ein Bote zur Tür seines Büros bei Med-On hereinkam. „Dr. Dusk, es gibt ein Problem!"

Diese vier Worte zählten für Cassius neben „Wir müssen reden" zu den schlimmsten, die er sich vorstellen konnte. Probleme bedeuteten Verzögerungen, Verzögerungen führten zu Planänderungen, und Planänderungen verursachten Kosten. Als Finanzchef von Nexon Industries wusste er nur zu gut, dass Nexor ungeplante Kosten ebenso verabscheute wie Verzögerungen. Zudem bedeutete dies, dass die soeben geführten Telefonate wiederholt werden mussten. Ein neuer Termin würde wohl erst in zwei Wochen angesetzt werden können – so lange dauerte es, die komplette Charge der Vitamin-Spritzen herzustellen. Die Charge, die gestern mit den Chips angereichert worden war, war nun wertlos. Was für eine Verschwendung!

Nachdem der Bote gegangen war und Cassius allein in seinem Büro zurückgelassen hatte, fuhr Dr Dusk sich durch die Haare und massierte mit Zeigefinger und Daumen seine Nasenwurzel. „Warum?", fragte er in die Stille des Raumes. Es musste Seraphinas Schuld gewesen sein, da war er sich sicher. Sie hatte vermutlich einen Fehler in der Programmierung gemacht. An der Zusammensetzung seiner Spritze konnte es nicht gelegen haben, dass die Frau sich übergeben hatte. Er hatte weitsichtig mehrere Testreihen mit dem Medikament durchgeführt, um dessen Verträglichkeit einwandfrei zu bestätigen. Doch offenbar waren nicht alle Mitglieder von Nexors Team so gewissenhaft bei der Arbeit wie er.

„Dieser Göre gehören die Flügel gestutzt", murmelte er gedankenverloren. Vielleicht sollte er Vesper einmal zu ihr schicken. Oder sollte er lieber selbst bei ihr vorbeischauen? Ihr zeigen, wie wütend er auf sie war? Dass ihre Überheblichkeit die Ursache für das Chaos war, das sich nun in seinem Kalender ausbreitete?

Cassius atmete tief durch, pustete die Luft aus den Lungen und zwang sich, ruhig zu bleiben. Er würde einen Schritt nach dem anderen gehen, so wie immer. In Gedanken wischte er alle Pläne für die nächsten Wochen beiseite, bis sein Kopf wie eine leere Tafel war, auf die er nun neue Notizen schreiben konnte:

- Neue Chargen vorbereiten
- Ärzte wegen Terminverschiebung anrufen
- Spritzen mit Chips anreichern
- Testen, an Ratten!
- Testen, an Menschen
- Impfung planen
- Impfung durchführen

Zufrieden nickte Cassius und setzte sich erneut an den Computer. Er gab die neuen Spritzen in Auftrag und strich gedanklich den ersten Punkt auf seiner inneren Tafel durch. Noch sechs weitere Aufgaben lagen vor ihm. Er würde wieder Überstunden machen müssen. Zum Glück existierte sein Privatleben ohnehin nicht. Mit einem leisen Seufzen begann er, die Arbeit zu erledigen.

🌍

In Victoria Yamamotos Brust brodelte die Wut über den Verrat und die Lügen, die sie emotional an den Rand des Abgrunds gedrängt hatten.

Nun stand sie selbst mutig auf dem Sims eines fünfstöckigen Gebäudes, das direkt gegenüber vom Inferno lag, und blickte auf den Eingang. Sie wusste, dass Dante Darkheart dort regelmäßig ein- und ausging, und hoffte, ihn auch heute zu erwischen. Er war ihre einzige Chance auf die ganze Wahrheit ihrer Geschichte. Eine Geschichte, die sich ganz anders zugetragen hatte, als Nexor, Cassius und ihre eigenen Eltern sie all die Jahre hatten glauben lassen.

„Ich darf sie nicht damit davonkommen lassen!", flüsterte sie wie ein Mantra vor sich hin. „Er hat mich betrogen! Sie alle haben mich belogen! Aber das werden sie bereuen! Es wird ihnen allen leid tun! Ich, Victoria Yamamoto, werde aus dieser Sache siegreich hervorgehen, selbst wenn ich dafür alles riskieren muss!"

Mit scharfem Blick beobachtete sie den Eingang der Bar, deren schummrige Werbetafel über der schweren Tür in unregelmäßigen Abständen flackerte. Je später der Tag wurde, desto mehr Gäste strömten hinein. Dante allerdings war nicht zu sehen, was sie nicht weiter überraschte. Das Inferno hatte mehrere versteckte Eingänge, die nur die eingeweihten Stammgäste kannten. Er wäre ein Narr, wenn er ihr oder jemand anderem direkt in die Arme laufen würde.

Plötzlich vibrierte der Pager an ihrem Gürtel, und Victoria erkannte die Nummer sofort. „Fahr zur Hölle, Cassius!", zischte sie und beschloss, die Anfrage ihres Auftraggebers vorerst zu ignorieren. Soll er doch noch ein wenig schmoren! Über die Strafe, die ihn erwartete, würde Victoria später nachdenken. Jetzt plagten sie andere Sorgen. Sie musste mit Dante sprechen. Die einzige Möglichkeit, die ihr blieb, war über Kontakte. Zum Glück gab es in dieser Stadt genug Menschen, die Angst vor ihr hatten. Entschlossen sprang sie vom Sims auf das Dach und machte sich auf den Weg zu jemandem Mächtigen, um einen Gefallen einzufordern.

🤔

Kurze Frage:
Wie findet ihr Kapitel, wo mehrere Personen recht kurz hintereinander zu Wort kommen?
Ist es eher abwechslungsreich oder verwirrend? Wie gefällt es euch bis hierher?
Freue mich über jede Rückmeldung oder auch Anregungen ♥️
Bobby

Ps: Dankeschön an alle Lesenden, die meine Geschichte verfolgen! Das bedeutet mir viel! ♥️

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