7 | Jenseits der Kuppel
Es ist dunkel, als ich am nächsten Morgen mit meinem Gepäck am Ausgang der Kuppel auf meinen Begleiter warte, der mich zu meinem neuen Arbeitsplatz bringen soll. Der Rucksack auf meinen Schultern ist schwer – schließlich muss ich fast alles mitnehmen, was ich brauche. Im Gegensatz dazu fühlt sich mein Anzug federleicht an. Wasserdicht, schmutzabweisend, mit einer speziellen Isolierung, die mich bei Kälte wärmt und bei Hitze kühlt. Mein Kleidungsstil für die nächsten Jahre steht somit fest.
Den Abschied hat meine Familie seltsam gefasst aufgenommen. Meine Eltern, Kay und Jade haben mich umarmt, und Em hat mir einen Kuss auf die Wange gedrückt. „Pass auf dich auf." Diese Worte höre ich seit Tagen von allen Seiten. Als ob es allein in meiner Hand läge, heil zurückzukehren.
Aber in einem Punkt haben sie recht: Ich bin allein. Wer sonst sollte auf mich aufpassen, wenn nicht ich selbst?
Die letzten Monate fühlten sich an wie ein endloses Lebewohl. Die Umarmung am Morgen war nur der abschließende Akt eines Abschieds, der mit meiner Zeremonie begonnen hatte. Werden sie mich vergessen, sobald ich fort bin? Spüren sie denselben Schmerz wie ich – oder hat der Chip ihren Abschied leichter gemacht als meinen? Ich hoffe es, denn mein Herz ist an diesem Morgen zerbrochen.
Ein Mann mittleren Alters in Security-Uniform kommt auf mich zu und nickt zur Begrüßung. „Du musst der neue Jay sein. Bereit für das Unbekannte?" Sein rechter Mundwinkel zuckt kurz, vielleicht, um mich aufzumuntern.
Doch ich zucke nur müde mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber habe ich eine Wahl?"
Der Sec lacht, als hätte ich einen Witz gemacht. Aber mir ist nicht nach Scherzen. Mir ist nach Heulen. Doch das käme sicher nicht gut an meinem ersten Arbeitstag. Also straffe ich meine Schultern und folge ihm zu seinem Wagen.
Noch nie war ich so nah an der Kuppel. Von innen sieht man meist nur die glänzende Glasfassade, doch hier, am Rand der Stadt, erhebt sich eine massive Mauer aus Stahl und Beton, die jeden Blick nach draußen versperrt. Es gibt nur wenige Tore nach draußen, und sie öffnen sich fast nie. Doch heute wird eines davon für uns entriegelt. Der Wagen rollt langsam zur Kontrolle, ein Scanner erfasst unsere Armbänder, und dann öffnet sich das Tor mit einem schweren Dröhnen.
Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Hinter uns fällt das Tor wieder ins Schloss.
Ich bin auf dem Weg in eine andere Welt.
Es ist das erste Mal, dass ich in einem fahrenden Wagen sitze. Innerhalb der Kuppel sind die Wege kurz, nur die Security-Einheiten besitzen Elektrofahrzeuge. Aber hier draußen ist alles weitläufiger.
Die Felder, zu denen wir unterwegs sind, liegen niedriger, unterhalb des Plateaus auf dem New World errichtet wurde. Die Stadt thront hoch oben, sicher vor den Launen der Natur. Kein Hochwasser kann sie erreichen, kein Erdbeben sie erschüttern. Der Fels unter ihr ist stabil, uralt – eine perfekte Grundlage für eine Welt, die Bestand haben soll.
Tief in diesem Sandsteinmassiv erstreckt sich ein Labyrinth aus Höhlen und Gängen. Einst strömten hier unterirdische Flüsse, gespeist von versteckten Reservoirs, während klimatisierte Kammern für eine stetige Versorgung mit Trinkwasser sorgten. Auch Menschen lebten eins dort. Doch nach der Revolution hat man die Eingänge versiegelt. Heute wagt sich kaum noch jemand dorthin. Die Schatten verschlucken jeden, der es dennoch versucht.
Nun dienen die Höhlen nur noch als Lager – gefüllt mit Vorräten, geordnet und systematisiert, ein Relikt aus einer Zeit, die niemand mehr erwähnt. Und bald werde ich meinen Beitrag zur Produktion dieser Lebensmittel leisten. Eine ehrenwerte Aufgabe, heißt es. Immerhin.
Der Wagen rumpelt über die unebene Straße, Staub wirbelt in den Scheinwerfern auf. Ich halte mich instinktiv am Gurt fest. Damit mir nicht schlecht wird, versuche ich, einen Punkt in der Ferne zu fixieren, aber in der Dunkelheit gibt es kaum etwas, woran mein Blick haften kann.
Wir fahren schweigend über die Hochebene, bis die Straße allmählich abfällt. Plötzlich zieht mein Begleiter das Steuer herum und bringt den Wagen am Straßenrand zum Stehen.
„Warum halten wir?" Meine Stimme klingt misstrauisch. Wir sind bestimmt noch nicht angekommen.
Der Security Agent grinst. Seine Augen blitzen im Licht der Innenbeleuchtung. „Ich will mir noch was ansehen, bevor ich wieder zurück in die Kuppel muss. Steig aus."
Muss... Er darf. Wahrscheinlich weiß er nicht einmal, was für ein Privileg das ist.
Widerwillig löse ich meinen Gurt und steige aus. Die Luft ist kalt und klar, der Wind zerrt an meinen Haaren, schlägt sie mir ins Gesicht. Instinktiv ziehe ich die Schultern hoch und vergrabe meine Hände in den Taschen meiner Jacke. Noch nie habe ich eine solche Kälte gespürt. Noch nie die Luft so erbarmungslos erlebt.
Ich folge dem Mann, der diese Naturgewalt unbeeindruckt hinnimmt, bis zu einer Stelle, an der der Fels abrupt abfällt. Die Kante ist nur ein paar Schritte entfernt. Ein falscher Tritt, und—
Ich schlucke. Kurz huscht ein Gedanke durch meinen Kopf: Ich könnte einfach springen. Kurz und endgültig. Nur ein Schritt. Dann wäre es vorbei. Keine Erwartungen mehr, keine Arbeit, kein ewiges Bemühen um eine Zukunft, die mir nie gehört hat. Ein Schritt – wäre das Feigheit? Oder Befreiung? Bin ich wirklich schon am Ende angekommen?
Doch bevor dieser Gedanke tiefere Wurzeln schlagen kann, spüre ich eine Hand an meinem Arm.
„Da!" Mein Begleiter deutet in die Ferne. „Sieh hin. Ist das nicht wunderschön?"
Ich blicke in die Richtung, in die er zeigt – und erstarre.
Mein Blick bleibt an der dunklen Silhouette der Berge hängen, die sich scharf gegen den Nachthimmel abzeichnen. Ein Hauch von Rot schimmert über dem Horizont, als würde das Licht tief unter der Erde verborgen glühen. Dann, langsam, als hätte die Welt den Atem angehalten, schiebt sich ein goldener Feuerball über die Gipfel. Wie Wasser, das sich über trockene Erde ergießt, fließt das Licht über die Felsen, sickert zwischen Steine und Bäume, erreicht schließlich den Boden und taucht das Tal darunter in ein leuchtendes Gold. Erst jetzt erkenne ich die Felder und Wiesen, die bald mein Arbeitsplatz sein werden. Der Himmel wechselt gefühlt sekündlich seine Farben, von Violett zu Rosa und hellem Orange, während die Schatten der Berge weichen und die Welt unter uns erwacht.
Ich spüre die Wärme der Sonne auf meiner Haut und bin gleichzeitig gefangen von ihrer Präsenz. Dieser Sonnenaufgang ist das Schönste, das ich je gesehen habe! Wie gerne würde ich Day hiervon erzählen.
Etwas in mir ist aufgewacht und will laut schreien. Schreien vor Ehrfurcht, vor Freude, aber auch vor Wut, und Trauer. Darüber, dass ich diese Schönheit bisher nur von Bildschirmen kannte. Und viele Menschen sie niemals werden sehen können.
Mein Begleiter lacht leise, als er mein staunendes Gesicht mustert. „Na? Hab ich zu viel versprochen?"
Es dauert etwa zwanzig weitere Minuten, bis wir die kurvige Straße entlang des Felsens verlassen und das niedrigere Plateau erreichen. Während der Fahrt gleitet mein Blick über die Felder, die sich rechts und links der Straße erstrecken. Noch karge Reihen von Weizen, Mais und Kartoffeln sind dort erkennbar. Bald werden sie wachsen und grüne und goldene Wiesen entstehen lassen. Dazwischen brechen Apfelbäume und Brombeerhecken die geordneten Strukturen auf, als wären sie Überbleibsel einer Zeit, in der die Natur noch unkontrolliert wachsen durfte. Jade wäre begeistert, wenn sie all die Pflanzen sehen könnte.
Hin und wieder sehe ich Bewegung zwischen den Halmen – kleine Schatten huschen über den Boden. Wildkaninchen vielleicht. Oder Ratten. Ich weiß natürlich, wie man Fallen baut. Wir Menschen stehen bei unserer Nahrung hier draußen im ständigen Wettstreit mit dem Ungeziefer.
Doch es gibt auch Nutztiere. Ich erkenne Ziegen, die an Ästen knabbern, Schafe mit dichten Wollmänteln und pickende Hühner. Weiter entfernt, fast in der Dämmerung verborgen, ragen Kühe wie dunkle Silhouetten auf. Staunend beobachte ich die Lebewesen, die ich bisher nur aus Büchern und Filmen kannte. Die Menschheit hatte damals nicht viel Zeit, alle Tiere zu retten. Nicht jedes Leben ließ sich bewahren, als alles zusammenbrach. Doch ein paar Arten haben überlebt. Und sie sind heute eines der wertvollsten Güter, die wir besitzen. Sie zu beschützen und am Leben zu halten, ist eine wichtige Aufgabe der Farmer.
Ein leises, unregelmäßiges Quietschen unterbricht meine Gedanken – der Fahrer tritt auf die Bremse.
„Wir sind da", sagt er und biegt auf einen schmalen Sandweg ein.
Ich sehe mich um. Am Ende des Pfades, fast versteckt zwischen zwei ausladenden Bäumen, steht eine kleine Wohneinheit. Ihr Flachdach ist mit einer dünnen Schicht Erde bedeckt, aus der Gräser sprießen – wohl zur Isolierung. Die Wände bestehen aus schlichtem, hellgrauem Material, das wettergegerbt aussieht.
Links von dem Häuschen erstreckt sich ein Kartoffelfeld, die winzigen Pflanzen stehen in gleichmäßigen Reihen, als hätte jemand sie mit präziser Handarbeit gesetzt. Rechts, hinter einem niedrigen Zaun, tummeln sich ein paar Hühner und Schafe. Das aufgeregte Gackern mischt sich mit dem gelegentlichen Blöken.
Eigentlich ganz idyllisch. Wenn man auf Natur steht.
Wir steigen aus, und ich lasse meinen Blick über die Umgebung schweifen. Der Frühling hat bereits seine ersten Spuren hinterlassen – zarte Knospen sprießen an den Ästen der Bäume, bereit, die Landschaft bald mit rosafarbenen Blüten zu überziehen und die Luft mit ihrem frischen Duft zu erfüllen. Ich höre wilde Vögel singen und den Wind heulen. Ein Hauch von Leben und Neubeginn liegt in der Luft.
Unwillkürlich zuckt mein Mundwinkel nach oben. Vielleicht wird es hier gar nicht so schlimm. Vielleicht kann ich es hier tatsächlich eine Weile aushalten.
Der Sec schlägt die Tür des Wagens zu und reicht mir meinen Rucksack vom Rücksitz. „Das ist nun dein neues Zuhause, Jay. Zeit, dich deinem Mitbewohner vorzustellen."
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