6 | Die Hochzeit

Hier stehe ich nun, am höchsten Punkt des höchsten Gebäudes der Stadt und habe das Gefühl zu fallen. Mein Anzug, der mir vor einige Monaten noch perfekt passte, zwickt nun an allen Enden. Seitdem ich fast jeden Tag in der Fitnesshalle oder beim Überlebenstraining bin, habe ich ein wenig zugelegt. Besonders an den Armen machen sich die Muskeln in meinem zu eng gewordenen Jackett bemerkbar. Ich fühle mich wie eine Made in einem Kokon, den ich mir selbst gesponnen habe – und der nun zu eng wird.

Um mich herum feiern die Gäste ausgelassen. Doch ich scheine hier nicht mehr so recht reinzupassen. Meine Gedanken sind dunkel, voller Sorge. In einer Woche schon soll ich die Stadt für unbestimmte Zeit verlassen. Doch bevor ich mich von den Feierenden wieder verabschiede, muss ich dem Brautpaar zumindest gratulieren. Das bin ich ihnen schuldig.

Sue und Day – die nun eine andere Kennung tragen, die ich aber absichtlich ignoriere – stehen am Ende der Stuhlreihen und nehmen die Glückwünsche der Gäste entgegen. Sie sehen zufrieden aus. Sue trägt ein schlichtes, aber elegantes Kleid, das farblich auf Days Anzug abgestimmt ist. Oder hat Day sich ihr angepasst? Es wäre typisch für ihn. Und plötzlich wird mir schmerzhaft bewusst, wie wenig Zeit wir drei in den letzten Wochen miteinander verbracht haben. Sie waren mit der Hochzeit beschäftigt, ich mit meinem Training für die Außenwelt. Sie sind nun Mann und Frau. Und ich ab morgen ein Außenseiter.

„Willst du ihnen nicht wenigstens gratulieren?"

Ich zucke zusammen, als eine warme Hand auf meine Schulter trifft. Sofort durchfährt ein stechender Schmerz meinen Rücken – die Verletzung vom Klettertraining macht sich bemerkbar. Das Angebot der Ärztin, meinen Chip so anzupassen, dass ich weniger Schmerzen spüre, habe ich abgelehnt. Ich will mich nicht mehr betäuben lassen, weder von Hormonen noch von Sensoren.

Der Schmerz ist unangenehm, ja. Aber er hat auch seinen Nutzen. Er treibt mich aus der Kuppel, zwingt mich zum Gehen. Vielleicht ist er sogar ein Geschenk – denn ohne ihn würde ich es nicht schaffen, diesen Ort hinter mir zu lassen – und mit ihm das Bild von Sue und Day, die da vorne so unverschämt glücklich aussehen.

Ich presse die Lippen aufeinander und drehe mich um. Jade steht neben mir. Ihre Augen mustern mich aufmerksam, wie immer. In den letzten Wochen ist sie zu meiner wichtigsten Bezugsperson geworden – eine wichtige Stütze, vielleicht auch ein Ersatz für Day, den ich auf Abstand gehalten habe. Sie hat mir ein paar nützliche Dinge beigebracht; welche Pflanzen in der Außenwelt essbar sind oder welche Heilkräuter es gibt. Aber vor allem hat sie mir zugehört.

„Du kannst diesen Moment weiter hinausschieben. Aber irgendwann musst du dich dem Abschied stellen." Ihr Lächeln ist warm und aufmunternd.

„Irgendwann klingt gut", grinse ich.

„Der Schmerz wird nachlassen, Jay. Du wirst deinen Weg finden." Ihre Worte wollen trösten, doch sie haben es schwer gegen meine Melancholie.

„Mein Weg führt zum Fahrstuhl", scherze ich müde.

„Nun geh schon." Jade stupst mich sachte in Richtung des Brautpaars. „Sonst hole ich Kay, um dich dorthin zu tragen."

Ich atme durch, straffe die Schultern und setze mich in Bewegung. Sue bemerkt mich als Erste und ich warte brav, bis ich an der Reihe bin.

„Herzlichen Glückwunsch, Sue", bringe ich heraus und reiche ihr die Hand.

Lächelnd legt sie ihre schmale Hand in meine. „Danke, dass du gekommen bist, Jay. Das bedeutet uns viel."

„Ehrensache", erwidere ich, denn es fühlt sich mehr nach Pflicht als nach Freundschaft an. „Ich wünsche euch nur das Beste."

Sie bedankt sich, und ich werde bereits von dem nächsten Gast weitergeschoben – direkt vor Day bleibe ich stehen. Er grinst mich an, sein typisches schelmisches Lächeln, und zieht mich ohne Vorwarnung in eine Umarmung. Ich zucke kurz zusammen, die Wunde in meiner Schulter brennt, doch ich erwidere die Geste. Sein Geruch ist mir vertraut – und doch fremd. Er riecht nach dem Leben, das wir einmal teilten, und dem, das ich verpassen werde. Wir beide sind nun erwachsen. Quasi über Nacht sind wir von wilden Abenteuern zu verantwortungsbewussten Söldnern geworden. Wir haben den Platz eingenommen, den man uns zugedacht hat.

Vielleicht ist es das letzte Mal, dass wir uns so nah sind. Vielleicht ist es für immer. Der Gedanke schnürt mir die Kehle zu. Instinktiv drücke ich ihn noch ein wenig fester an mich. Atme seinen Duft tief ein. Ich werde sein Leben verpassen, und er meines. Dabei hatten wir uns mal geschworen, dass wir immer zusammen sein werden.

Day löst sich etwas aus der Umarmung, hält mich aber noch an den Schultern fest. Sein Blick sucht meinen, und für einen Moment ist alles andere ausgeblendet – die Gäste, die Feier, die Zukunft, die uns trennt.

„Wann gehst du?" Seine Stimme ist leiser, ernster als sonst.

Ich schlucke. Die Wahrheit ist, dass ich noch ein paar Tage bleiben könnte. Noch ein paar letzte Momente mit ihnen verbringen. Aber der Gedanke daran, länger hier zu sein, während sich ihr Leben weiter formt und meins auseinanderbricht, ist unerträglich.

„Morgen." Zum Glück habe ich AIRA ausgeschaltet, so dass sie meine Lüge nicht ahnden kann. Ich wünschte, es würde sich nicht so leicht anfühlen.

Day blinzelt. Ich sehe, wie die Antwort ihn kurz trifft, aber er nickt. Akzeptiert es, weil er keine andere Wahl hat. Vielleicht auch,  weil er weiß, dass ich es nicht ertragen könnte, noch länger zu bleiben.

Er presst die Lippen zusammen, dann zieht er mich wieder kurz an sich. „Dann pass auf dich auf, Jay." Seine Stimme klingt rau.

„Du auch."

Ich löse mich als Erster, zwinge mich zu einem letzten Lächeln, doch es fühlt sich brüchig an. Noch bevor er etwas erwidern kann, drehe ich mich um und gehe.

Ich halte es nicht mehr aus.

Kay wirft mir einen kurzen Blick zu – fast, als wollte er mich ermahnen. Er ahnt es. Er weiß, dass ich gehe.

Es ist unhöflich. Aber ich kann nicht länger hier bleiben.

Sie werden es verstehen. Irgendwann.

Ich drücke den Knopf des Fahrstuhls. Die Zahlen leuchten kühl auf, als würde es sie nicht interessieren, dass ich hier stehe und alles hinter mir lasse. Die Feier ist nur noch ein gedämpftes Rauschen. Lachen, Stimmen, Musik – es klingt, als käme es aus einer anderen Welt. Einer, die mich längst vergessen hat.

Ich ziehe mein Jackett aus und werfe es über die Schulter. Sofort fühle ich mich weniger beengt. Freier.

Der Fahrstuhl ist fast auf meinem Stockwerk angekommen, da höre ich Schritte. Schnelle, entschlossene. Eine Hand packt mein Handgelenk – fester als nötig, als ob sie mich wirklich aufhalten könnte.

„Jay! Geh nicht!"

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Die Worte treffen mich mit einer Wucht, die ich nicht erwartet habe. Langsam drehe ich mich um und sehe in Days Gesicht. Da ist kein ruhiges Lächeln mehr, keine kontrollierte Fassade. Da ist echte Angst. Angst, mich zu verlieren?

„Day..." Meine Stimme klingt rau. „Was machst du hier?"

„Ich versuche, dich davon abzuhalten, den größten Fehler deines Lebens zu begehen." Sein Grinsen täuscht mich nicht. Er tut es nicht für mich. Er tut es für sich.

Doch er sollte nicht hier sein. Er sollte bei seiner Frau und seinen Gästen sein. Und nicht versuchen, mich aufzuhalten.

„Zu gehen ist kein Fehler." Ich halte seinem Blick stand. „Mein Fehler war, zu lange zu bleiben."

„Das meinst du nicht ernst." Day verstärkt den Griff um mein Handgelenk, als könnte er mich allein durch diese Berührung festhalten.

„Doch, das tue ich." Ich lache bitter, doch Day schüttelt heftig den Kopf, als könne er es nicht glauben.

„Meinst du, es ist einfach für mich? Glaubst du, ich gehe, weil ihr mir nichts bedeutet?"

„Dann geh nicht." Days Stimme ist rau. „Du gehörst hierher."

„Wohin gehöre ich, Day?" Meine Stimme ist erstaunlich ruhig, obwohl mein Inneres tobt. „Ich habe hier keinen Job. Keinen Match. Welches Leben soll ich hier führen?"

Day zögert keine Sekunde mit der Antwort.
„Unser Leben."

Ich blinzele. „Unser?"

„Ja!" Seine Frustration wird spürbar. „Du bist mein bester Freund. Ich will nicht, dass du gehst."

Er steht jetzt so dicht vor mir, dass ich seine Wärme spüren kann.

„Wir brauchen dich, Jay. Ich brauche dich." Sein Flüstern lässt mich erschaudern. Ich öffne den Mund, doch mir fällt nichts ein. Stattdessen starre ich ihn einfach an, versuche, seine Worte zu begreifen.

Ich brauche dich.

Ich hasse, was das mit mir macht!

Day holt tief Luft. Dann, unerwartet, nimmt er mein Gesicht in beide Hände. Die Berührung ist warm, vertraut, und irgendwie prickelnd. Mein Herzschlag beschleunigt sich.

„Denk doch nach." Seine Stimme ist leise, eindringlich. „Was erwartet dich da draußen? Kälte? Hunger? Einsamkeit? Hier bist du sicher. Hier bist du..." Er schluckt. „Nicht allein."

Nicht allein.

Ich spüre, wie mein Griff um das Jackett lockerer wird.
Vielleicht muss ich nicht gehen. Vielleicht könnte ich bleiben.
Nur für ein paar Wochen. Nur, um zu sehen, ob—

„Wir werden einander besuchen." Day lächelt kurz, hoffnungsvoll. „Und wenn wir irgendwann ein Kind bekommen... dann wirst du sein Onkel sein."

Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen. Sein Onkel. Nicht Teil der Familie. Nicht wirklich. Nur ein Randcharakter in einem Leben, das längst nicht mehr meins ist. Ich schlucke. Mein Griff um das Jackett verfestigt sich wieder.

„Jay...?"

Ich schüttle den Kopf. „Ich muss gehen."

Seine Miene verändert sich. Er sieht mich an, als hätte ich ihn gerade geschlagen.

„Jay, bitte—"

„Ich muss gehen." Dieses Mal fester. Endgültiger. Der Fahrstuhl öffnet sich mit einem leisen Summen.
Ich trete ein.
Drehe mich nicht mehr um.
Die Türen schließen sich.
Ich warte, dass der Schmerz nachlässt.

Doch er bleibt.

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