5 | Jays unter sich
Ich weiß nicht, wie lange ich auf meinem Bett liege und die sterile Decke anstarre. Es fühlt sich an wie eine halbe Ewigkeit, doch wahrscheinlich sind erst zehn Minuten vergangen, als es an meiner Tür klopft. Zaghaft – nicht wie Kay oder mein Vater.
In Erwartung, meiner Mutter zu öffnen, rufe ich: „Herein!"
Doch es ist nicht Em, die eintritt und die Tür hinter sich schließt.
„Hallo, Lieblingsschwager! Wie geht es dir?"
Jade bleibt nahe der Tür stehen, streicht eine rotbraune Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelt mich aufmunternd an. Ich richte mich hastig auf und deute auf den Stuhl an meinem Schreibtisch. Eine Weile sehen wir uns nur an, dann reicht sie mir eine dampfende Tasse, die ich bis dahin gar nicht bemerkt habe.
„AIRA meinte, du könntest etwas zur Entspannung gebrauchen. Und ich dachte, du brauchst vielleicht jemanden zum Reden."
„Beides, denke ich", breche ich mein Schweigen und nehme den Tee entgegen. Ich nippe daran und frage mich, was Jade von mir will. Hat man sie geschickt, um mich auszuhorchen? Oder versteht sie vielleicht wirklich, wie ich mich fühle?
„Als ich damals erfahren habe, dass ich deinen Bruder heiraten soll, war ich erst unsicher." Jade greift unbewusst nach ihrem Ehering und dreht ihn zwischen den Fingern.
„Das wusste ich nicht ..." Ich hatte immer gedacht, die beiden wären von Anfang an glücklich miteinander gewesen.
„Versteh mich nicht falsch, ich liebe Kay und deine Familie. Aber an dem Tag, als ich den Brief geöffnet habe ..."
„Du warst enttäuscht", vermute ich.
Sie nickt. „Ich kannte Kay kaum. Wir waren im selben Jahrgang, aber unsere Interessen hätten unterschiedlicher nicht sein können. Anfangs dachte ich, das würde niemals funktionieren. Doch dann habe ich ihn wirklich kennengelernt. Und jetzt ..." Sie sieht mich eindringlich an. „Ich glaube, du weißt, worauf ich hinauswill."
„Bei euch war es anders. Ihr habt ein Match", sage ich leise. „Ich habe niemanden. Ich bin nicht kompatibel."
„Hat man dir das so gesagt?" Jade legt den Kopf schief und mustert mich aufmerksam.
Einen Moment lang schweige ich, denke an das Gespräch mit der Ärztin zurück. Was genau hatte sie gesagt?
„Sie meinte nur, dass ich kein Match habe. Aber nicht, warum. Ich habe angenommen, es liegt daran, dass ich keine Kinder bekommen kann."
„Es gibt bestimmt mehrere Gründe, warum jemand kein Match hat", entgegnet Jade nachdenklich. „Aber wenn sie gesagt hat, dass du gesund bist, dann liegt es vielleicht einfach nur an deiner Generation. Vielleicht gibt es in deiner Generation keine geeignete Partnerin. Meine Freundin Elle musste auch ein Jahr warten."
„Elle?" Ich runzle die Stirn. „Ich habe noch nie von ihr gehört."
Jade grinst und setzt sich zu mir aufs Bett. Ich rutsche ein Stück zur Seite und lehne mich unwillkürlich an sie. In diesem Moment bin ich froh, dass sie da ist. Sie scheint genau zu spüren, dass ich gerade Nähe brauche. Kein Wunder, dass sie als Biologin auserwählt wurde – ihr Gespür für andere Lebewesen ist außergewöhnlich.
„Elle war eine gute Freundin von mir in der Schule", erzählt sie. „Als sie ihre Zuteilung bekam, war sie genau wie du: ohne Match. Ein ganzes Jahr lang musste sie warten, bis sie schließlich doch eine Zuteilung erhielt. Und jetzt? Jetzt ist sie glücklich verheiratet."
„Warum habe ich noch nie von einem solchen Fall gehört?" Meine Stimme klingt erstaunt, fast ungläubig.
Jade zuckt mit den Schultern. „Nicht jeder geht damit so offen um wie du. Es kommt immer wieder vor, dass jemand kein Match erhält. Aber die meisten reden nicht darüber. Wahrscheinlich ist es ihnen unangenehm."
„Du meinst, es gibt noch eine Chance für mich? Auch wenn ich außerhalb der Kuppel arbeite?" Ein Funken Hoffnung regt sich in mir.
„Ich bin mir sicher." Jade lächelt. „Du bist ein guter Mensch. Wenn ich nicht schon mit deinem Bruder verheiratet wäre..." Sie grinst schelmisch, doch diesmal erwidere ich ihr Lächeln nicht.
„Du sagst das nur, um mich aufzumuntern", murmle ich und stelle die Tasse ab.
„Nein, das meine ich ernst. Du bist ein toller Fang."
„Doch, du sagst es, weil du denkst, dass ich es hören will. Aber ich werde in einem Jahr genauso ohne Match dastehen wie jetzt. Wer will schon jemanden, der draußen arbeitet? Jemanden, der sich vielleicht verändert?"
Jade legt den Kopf schief. „Warum denkst du, dass du dich veränderst?"
Ich zucke mit den Schultern. „Na ja... Ich werde vielleicht nicht mehr derselbe sein. Niemand, der in der Kuppel lebt, kann sich vorstellen, wie es draußen wirklich ist. Ich auch nicht. Vielleicht komme ich zurück und passe einfach nicht mehr hierher."
Sie mustert mich nachdenklich. „Oder du kommst zurück und bist genau derselbe, nur mit ein paar neuen Erfahrungen."
„Das glaube ich nicht. Ich werde versagen und ewig da draußen bleiben, bis ich schließlich sterbe!", sage ich bitter und ziehe die Beine an.
Jade seufzt. „Sei nicht so pessimistisch!"
„Du bist zu optimistisch", entgegne ich maulend.
Sie grinst schief. „Ja, das gehört zu meinem Charme. Aber wenn du unbedingt weiter in Selbstmitleid baden willst, dann sag Bescheid. Dann bringe ich dir nächstes Mal eine Decke und heiße Schokolade mit."
Ich verdrehe die Augen, doch ein leises Schmunzeln kann ich nicht unterdrücken.
„Da ist es ja. Dein Lächeln. Ich wusste doch, dass es noch irgendwo versteckt ist."
Ich schüttle den Kopf, aber irgendetwas in mir fühlt sich ein kleines bisschen leichter an. Ich atme tief aus und lasse zu, dass sie ihren Arm um meine Schulter legt. „Ich habe Angst, Jade! Was, wenn ich nicht wieder zurückkomme?"
Sie streicht mir sanft über die Haare. „Hey, wir sind jetzt beide Botaniker. Früher nannte man uns einfach Gärtner, oder ‚Jardinier'. Aber 'Jay' klingt natürlich viel professioneller, oder?. J.D.B und J.J.C" Sie zwinkert mir zu. „Du hast echt Glück, dass du wenigstens deinen Namen behalten darfst. Manchmal vermisse ich Debby", gibt sie zu und schmunzelt, als wäre es eine andere Zeit, die sie nun hinter sich gelassen hat.
„Ich werde auf dich aufpassen", verspricht sie, „und mich mal umhören, ob ich dich doch noch nach New World zurückholen kann. Wir brauchen immer fähige Jardiner und Techniker für die Bewässerung, die Beleuchtungsanlagen oder die Nährstoffzubereiter. Ich frage mal bei meinem Chef, ob er dich anwerben darf. Aber das könnte eine Weile dauern. Ich fürchte, du kommst nicht darum herum, eine Weile an der frischen Luft zu arbeiten."
„Wenn die Luft da mal so frisch ist...", murmele ich.
„Besser als in dem Restaurant, nachdem du abgehauen bist", scherzt sie. „Besonders Day schien es getroffen zu haben, dass es dir so schlecht mit der Entscheidung geht."
„Es ist... kompliziert", gebe ich zu. „Sie sind meine besten Freunde. Und jetzt muss ich sie verlassen, während sie zusammen eine Zukunft aufbauen. Das muss ich erstmal verdauen."
Unbewusst fahre ich mit den Fingern über die kleine Narbe an meinem Handgelenk – ein Überbleibsel aus unserer Kindheit. Day und ich hatten damals geglaubt, wir könnten durch einen alten Tunnel unter der Kuppel in einen gesperrten Bereich gelangen. Ein Abenteuer, das uns keiner erlauben wollte, also mussten wir es heimlich tun. Natürlich ging es schief.
Ich war ausgerutscht und hatte mir die Hand an einem scharfkantigen Metallrand aufgerissen. Blut tropfte auf den Betonboden, und ich weiß noch, wie Day, anstatt in Panik zu geraten, sein Shirt zerriss, um meine Wunde notdürftig zu verbinden. „Jetzt sind wir offiziell Rebellen", hatte er gegrinst. Ich hatte gelacht, obwohl mir schlecht war vor Schmerz.
Seitdem tragen wir beide Narben von diesem Tag – er eine an seinem Knie, ich eine an meinem Handgelenk. Ein Zeichen unserer Freundschaft, unserer gemeinsamen Dummheit und vielleicht auch unserer Unerschrockenheit.
Jade zieht fragend eine Augenbraue hoch, als sie meine Handbewegung bemerkt. Ich lasse meinen Ärmel darüber gleiten und seufze.
„Ich weiß, dass es wehtut. Aber du wirst auch neue Menschen treffen, die dir wichtig werden. Und wir, deine Familie, sind immer für dich da." Ein letztes Mal nimmt sie mich in den Arm und drückt mich an sich. Ich genieße ihre Wärme, die viel zu schnell wieder verschwindet. Früher habe ich nicht so viel körperliche Nähe gebraucht. Wahrscheinlich sind die neuen Hormone daran schuld.
Jade steht auf und geht zur Tür. Doch bevor sie geht, dreht sie sich noch einmal um. „Wie ist denn nun eigentlich dein korrekter Name?"
Ich grinse verlegen. „J.J.C 314."
„314?" Jades Augen weiten sich. „Als Starter? Wie gut waren bitte deine Noten?", fragt J.D.B 223. erstaunt.
„Na ja, so gut waren die gar nicht", gebe ich zu. „Ich vermute, die hohe Punktzahl ist so etwas wie ein Gefahrenzuschuss."
Jade wirft einen kurzen Blick zur Lampe über der Tür. Sie steht noch immer auf Rot. Ihr Tonfall ändert sich. „Hast du mit AIRA darüber gesprochen?", flüstert sie.
Ich nicke. „Wieso fragst du?"
„Nur so... sei einfach vorsichtig, okay?" Sie zögert. Dann ergänzt sie leise: „Nicht alles, über das du dir Gedanken machst, muss in ihrer Gegenwart erzählt werden." Sie lächelt mir noch einmal zu, bevor sie das Zimmer verlässt. Und ich mit mehr Fragen als Antworten zurückbleibe.
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