3 | Ein glückliches Match
Als ich endlich nach draußen trete, sind die meisten meiner Mitschüler bereits verschwunden. Auf dem großen Platz entdecke ich meine Familie, die geduldig auf mich wartet.
Ich bin froh, dass sie hier sind, doch mit jedem Schritt wächst meine Unsicherheit. Was werden sie sagen, wenn sie erfahren, was die Ärztin mir offenbart hat? Und wie soll ich damit umgehen, dass sie für die mir zugeteilte Aufgabe meinen Microchip vollständig entfernt hat – weil mein neuer Chip anders sein wird und erst später eingesetzt werden kann?
Soll ich mich freuen, dass ich doch kein Techniker werde? Aber zu welchem Preis habe ich das Angebot angenommen?
Meine Mutter lächelt, als sie auf mich zukommt. „Ist alles gut gelaufen, mein Sohn?" Ihre Augen sehen mich fragend an, doch ich kann hier und jetzt nicht darüber reden. Darum erwidere ich ihr Lächeln und nicke. „Alles bestens, Em. Ich erzähle es euch beim Essen."
Ich ignoriere die sanfte Vibration an meinem Handgelenk. Jetzt bin ich mir sicher: AIRA erkennt mein Hadern. Aber die fünf Minuspunkte sind mir egal. Zu viele Neuigkeiten müssen verarbeitet werden.
Das Restaurant Lukullus, das unweit der Kongresshalle liegt, befindet sich in einem der obersten Stockwerke des Hope Towers. Als wir aus dem Fahrstuhl treten, erwarten uns die Familien Xu und Diaz Abel. Meine Freunde sitzen an einem großen Tisch, der mit einer Vielzahl von Speisen gedeckt ist. Der Duft lässt mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Wir gehen selten essen, fast nie, doch an diesem besonderen Tag dürfen wir uns etwas gönnen.
Ich schalte AIRA per Klick für die nächsten Stunden aus. Es ist nur für eine begrenzte Zeit am Tag erlaubt, doch ich möchte diesen Moment mit meiner Familie genießen, ohne von der KI ermahnt zu werden, dass ich zu viel oder das Falsche esse. Neben mir sehe ich, wie Kay dasselbe tut.
Nach einer kurzen Begrüßung lasse ich mich gegenüber von Day und Sue nieder, bedauernd, dass ich zu spät gekommen bin und nicht neben ihnen sitzen kann. Ihre Familien haben sich an ihre Seiten gesetzt, sodass wir die letzten freien Plätze einnehmen mussten. Doch der Nachteil wird durch den Ausblick mehr als wettgemacht.
Von hier oben erstreckt sich die Skyline unserer Stadt in voller Pracht. Hohe Türme aus Glas und Stahl schimmern im Doppellicht der neonfarbenen Stadtbeleuchtung und den Sonnenstrahlen, die unregelmäßig durch die Kuppel brechen. Die dichten Rauchschwaden, die die Stadt einst verdunkelten, gehören längst der Vergangenheit an, und doch habe ich noch nie den Himmel gesehen. Vierhundert Jahre ohne Fensterputzer haben ihre Spuren auf unserem Dach der „Neuen Welt" hinterlassen.
„Wenn ich um ihre Aufmerksamkeit bitten dürfte?" Sues Vater ist aufgestanden und hält sein Glas in die Höhe. Das Gemurmel verstummt und ich greife ebenfalls nach meinem Wasser. „Ich möchte die Gelegenheit nutzen um meinen Dank aussprechen."
Mr. Xu sieht in die Runde, bleibt kurz an meinem Gesicht hängen und schaut dann zu seiner Tochter. „Ich bin dankbar, dass diese Welt uns beschützt und versorgt. Ich danke dem System, dass es auf uns achtet und uns lenkt. Und heute danke ich dem Komitee, dass es meine Tochter mit jemandem gemachted hat, den sie seit langem kennt und schätzt."
Er macht eine Pause, während die Spannung in mir wächst. Dann lächelt er. „Wir dürfen uns glücklich schätzen, dass unsere Familien weiterhin eng verbunden bleiben. Zu eurer Verlobung gratulieren wir euch von Herzen: Sue und Day!"
Für einen Moment fühlt es sich an, als hätte jemand die Luft aus meinen Lungen gepresst. Meine Gedanken stocken. Das Rauschen in meinen Ohren übertönt die ersten Glückwünsche. Dann sehe ich es – wie Day und Sue sich anlächeln, wie ihre Hände sich finden und ihre Finger sich ineinander verschränken, bevor sie ihre verbundenen Hände symbolisch in die Höhe halten.
Und erst da trifft es mich mit voller Wucht.Sue und Day werden heiraten! Meine beste Freundin. Mein bester Freund. Für immer miteinander verbunden, durch das Band der Ehe.
Und ich?
Ich bleibe allein.
Es dauert eine Weile, bis ich an der Reihe bin, den beiden meinen Glückwunsch über den Tisch hinweg auszusprechen. Vielleicht ist das besser so. Ich brauche die Zeit, um meine Stimme unter Kontrolle zu bringen, um mein Gesicht nicht allzu ausdruckslos wirken zu lassen. Denn so sehr ich es versuche – ich kann mich nicht wirklich freuen. Am liebsten wäre ich gerade ganz weit weg, irgendwo anders, bloß nicht hier.
Unter großer Anstrengung zwinge ich mich zu einem Lächeln, sage mir, dass es gute Neuigkeiten sind. Sie haben Partner bekommen, die sie kennen und mögen. Das ist großes Glück. Und doch ... irgendetwas in mir weigert sich, es ihnen zu gönnen. Es ist ein seltsames Gefühl, ein unbekanntes. Ich frage mich kurz, ob es die Auswirkungen des veränderten Chips sein könnten. Die Ärztin sagte, dass meine Emotionen intensiver werden würden – aber das hier? Das ist anders. Roh. Ungefiltert.
Sue nimmt meinen Blick auf, und ich sehe, wie sie zögert, bevor sie sagt: „Ich hoffe, dein Match wird dich genauso glücklich machen."
Ich schlucke. Meine Kehle schnürt sich zusammen, und plötzlich brennen meine Augen. Eine erdrückende Schwere legt sich auf meine Brust, drückt mir die Luft ab. Ich schaffe es gerade noch zu nicken, weil jedes Wort, das ich jetzt sagen würde, mir nur als ersticktes Schluchzen entweichen würde.
Verdammt! Reiß dich zusammen.Wann habe ich das letzte Mal geweint?
In der Grundschule, als mein Opa gestorben ist, kamen paar einsame Tränen, aber das hier ... das ist anders. Das ist nicht nur Traurigkeit. Es ist Wut. Und etwas Neues, das stärker ist als beides zusammen.
Ich will aufstehen, einfach weg von diesem Tisch. Doch genau in diesem Moment erhebt meine Mutter die Stimme.
„Jay, erzähl doch bitte auch etwas über deine Ergebnisse. Wer ist dein Match?"
Das Gemurmel am Tisch verstummt. Plötzlich sind alle Augen auf mich gerichtet.Ich spüre, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildet. Ich sehe die erwartungsvollen Gesichter am Tisch – meine Mutter, mein Vater, Sue, Day, ihre Familien. Alle warten auf meine Antwort. Sie warten auf eine freudige Nachricht.
Ich öffne den Mund. Schließe ihn wieder. Ein einzelner Herzschlag vergeht, dann noch einer.
Sag es einfach!
Aber wie?
Wie sagt man seiner Familie, dass das System, das unser Leben bestimmt, mich für einen Fehler hält? Dass ich keine gewöhnliche Zukunft innerhalb der Kuppel habe? Und dass sie mir stattdessen etwas anderes angeboten haben – etwas, das sich wie ein Exil anfühlt?
Ich setze mein Glas etwas zu fest ab. Das Wasser schwappt über den Rand. Dann hebe ich den Blick und zwinge mich zu sprechen. Die Worte kommen unfreiwillig aus meinem Mund. Doch ich muss es tun. Sie werden es ohnehin bald erfahren.
„Ich ... ich habe kein Match."
Die Stille, die folgt, ist fast nicht zu ertragen. Einen Moment lang scheint niemand zu atmen. Dann runzelt mein Vater die Stirn. Meine Mutter öffnet leicht den Mund, als hätte sie sich verhört. Sue blinzelt irritiert, und Day rutscht unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her.
„Kein Match?", wiederholt meine Mutter, als würden die Worte keinen Sinn ergeben. „Das kann nicht sein."
„Doch", sage ich, meine Stimme klingt eigenartig fern in meinen Ohren. „Das Komitee hat keine passende Partnerin für mich gefunden."
Ich sehe, wie sich in den Gesichtern der anderen Verwirrung, und dann Besorgnis breitmacht. Kein Match zu haben, ist beinahe unvorstellbar. Jeder bekommt ein Match. Das System irrt sich nicht. Und wenn doch?
„Aber das ist nicht alles." Mein Puls hämmert in den Ohren. „Sie haben mir ... eine Alternative angeboten."
Ich merke, wie mein Atem schneller geht und die Hände zittern. Dies ist der Moment, in dem alles anders wird. Der mein komplettes Leben verändern wird.
Day hat sich von dem ersten Schreck erholt und starrt mich ungläubig an. „Das ist doch ein Scherz, oder?" Doch ich schüttelte den Kopf. Ich will nicht schon wieder lügen müssen.
„Kein Scherz. Ich werde die Kuppel verlassen."
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