2 | Der Brief

Der Saal ist brechend voll und es dauert, bis ich Sue und Day in einer der vorderen Reihen sitzen sehe. Eilig schließe ich zu ihnen auf und lasse mich neben Sue nieder.

„Hey, wo warst du?", fragt sie besorgt. „Wir dachten, du seist direkt hinter uns."

„Echt, Jay! Du kannst doch an so einem wichtigen Tag nicht trödeln!", mahnt Day, doch ich höre eine leichte Ironie in seinen Worten. Wahrscheinlich will er damit seine eigene Unsicherheit überspielen. Doch das ist mir gerade völlig egal.

Flüsternd erzähle ich den beiden, was ich soeben auf meiner Anzeige gelesen habe. Sue schüttelt ungläubig den Kopf. „Das ist nicht möglich! AIRA kann keine Gedanken lesen. Und selbst wenn, du hast nicht gelogen!" Sie stockt kurz, zieht eine Augenbraue nach oben. „Hast du nicht, oder, Jay?"

Etwas zu heftig schüttele ich den Kopf. „Natürlich nicht! Ich freue mich seit Wochen auf diesen Tag! Vielleicht war ich so aufgeregt, dass meine Haut ein Signal gesendet hat, das dem einer Lüge ähnelt." Diese Erklärung scheint mir zumindest sinnvoll zu sein.

„Das kannst du ja leicht prüfen", meint Day und grinst mich breit an. „Du musst nur erneut lügen. Dann weißt du, ob es daran lag."

„Ich werde mich hüten!" Ich werde doch nicht freiwillig meine hart erarbeiteten Stellungspunkte aufs Spiel setzen, nur um eine Theorie zu prüfen. Nicht mal für Day!

„Meine lieben Absolventen und Absolventinnen! Schön, Sie alle hier zu sehen!"

Mit einem Mal verstummt das Murmeln in der Halle. Nur das leise Surren des Frischluftbereiters erfüllt noch den Raum. Auf der Bühne steht ein Mann, den wir alle kennen: Xerox, der älteste und wohl bedeutendste Mensch unter der Kuppel. Sein Stellenwert ist der höchste von allen, sein Ruf makellos, und er selbst das Vorbild vieler.

Auch ich sehe ehrfürchtig zu Xerox hinauf. Seinen Namen hat er selbst wählen dürfen, als er die letzte Stufe unserer Wertepyramide erklommen hat. Das muss etwa acht Jahre her sein. Die Zeremonie war beeindruckend. Die ganze Stadt stand an diesem Tag still, alle waren eingeladen, mit Xerox zu feiern.

Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als er seinen Namen verkündete. Ein Raunen ging durch die Menge – ein Name, selbst gewählt, ist eine Ehre, die nur wenigen zuteilwird. Ich war dort, mit meinen Eltern und Kay, und durfte ihn aus nächster Nähe sehen. Sein makelloses Auftreten, seine ruhige, durchdringende Stimme – ein Mann, der die Werte unserer Gesellschaft in sich vereint. Er hat sich durch seine Taten verdient gemacht. Er zeigte uns, was es bedeutet, wahrhaftig Jemand zu sein.

Nun steht er wieder auf der Bühne, sein Blick wandert über uns hinweg. Die Stille in der Halle ist fast beängstigt, jeder Atemzug gedämpft. Ehrfürchtig sehe ich zu ihm auf und lausche seiner Rede. Die Worte klingen von Verantwortung und Gemeinschaft, von Werten wie Zusammenhalt und Nächstenliebe. Er spricht auch von den Shadow Soldiers, von Aria Blackwell, die gegen die Unterdrückung und für die Ordnung in New World gekämpft hat.

Ich kenne die alten Geschichten und unsere Werte, seit ich klein bin. Doch in diesem Moment wird mir bewusst, dass ich vielleicht irgendwann genauso bedeutend sein kann wie Xerox oder – was noch unwahrscheinlicher erscheint – wie Aria!

„Ich weiß, ihr seid alle sehr aufgeregt, darum möchte ich euch nicht weiter auf die Folter spannen!" Xerox hebt seinen linken Arm, und wir tun es ihm gleich. Bei einer Handvoll Absolventen färbt sich das Armband, das wir tragen, rosa.

„Willkommen, Gruppe 1. Bitte begebt euch in eure Räume."

Neben mir erhebt sich Sue und geht an mir vorbei zum Mittelgang. „Viel Erfolg", flüstere ich ihr zu und ernte ein kleines Lächeln. Brav folgt sie den anderen zu einem Raum am Ende des Ganges.

Ich habe nicht so viel Glück wie Sue. Es dauert bis zum Schluss, bis ich endlich als einer der letzten aufgerufen werde. Gemeinsam mit einem halben Dutzend anderer betrete ich einen Raum, in dem man uns bereits erwartet. Eine Frau in einem weißen Kittel kontrolliert unsere Transponder und schickt uns dann in verschiedene Zimmer.

Da sitze ich nun, allein und nervös auf einer Krankenliege, und warte auf meine Ergebnisse.

Zu meiner Erleichterung lässt die Ärztin nicht lange auf sich warten. „Hallo, junger Mann", begrüßt sie mich freundlich, schließt die Tür hinter sich, und schaut dann auf ihr Tablet. „Du bist dann also 2443-H-23-JC64, ist das korrekt?"

Ich nicke. „Hoffentlich nicht mehr lange", gebe ich zu und ernte ein Lächeln.

„Wollen wir doch mal sehen ..." Die junge Frau vertieft sich kurz in ihre Unterlagen, dann blickt sie mich an. „Gute Noten, körperlich fit ... Ihre Eisenwerte sind nicht ideal, aber nicht besorgniserregend. Ansonsten sehe ich keinen Grund, Sie nicht sofort für einsatzbereit zu erklären."

Ich atme erleichtert aus. Das mit den Blutwerten wusste ich schon. Trotzdem war eine kleine Unsicherheit geblieben.

„Nun sehen wir uns Ihre Zuteilung an." Ihre Augen huschen über das digitale Dokument. „Sie haben die letzten Monate in der Gärtnerei gearbeitet. Hat es Ihnen dort gefallen?"

„Sehr", sage ich ehrlich. „Wenn es möglich wäre, würde ich dort gerne bleiben. Meine Schwägerin ist auch Biologin."

„Ein wichtiger Beruf in unserer Gesellschaft. Viele wollen in die Landwirtschaft. Ich sehe mal, was für Sie vorgesehen wurde."

Ihre Augen wandern weiter über den Bildschirm. Plötzlich verzieht sie leicht die Mundwinkel. Ein unangenehmes Ziehen macht sich in meinem Magen breit.

„Sie wurden der Technik zugeteilt. Ihre Noten in den technischen Fächern waren ausgezeichnet."

Mein Herz setzt einen Schlag aus. „Aber nur, weil ich gut war, heißt das doch nicht, dass ich es machen möchte", entkommt es mir zu schnell. „Ich meine ... kann ich keinen Wunsch äußern?"

Die Ärztin schüttelt bedauernd den Kopf. „Man hat diese Entscheidung nicht ohne Grund getroffen. Sie werden bestimmt gute Arbeit leisten."

Das war's also. Ich kann wohl nicht alles haben. Und unser System macht keine Fehler. Ich versuche, den wachsenden Kloß in meiner Kehle zu ignorieren.

Bleibt noch die Frage nach meiner Partnerin.

„Ich werde nun Ihren Chip modifizieren", kündigt die Ärztin an. „Es tut nicht weh, aber es kann zu unerwartet starken Gefühlsausbrüchen kommen. Das ist normal, kann aber in den ersten Tagen überwältigend sein."

„Gibt es eine Möglichkeit, das zu mildern?" Ich erinnere mich noch gut daran, wie unausgeglichen Kay nach seiner Modifikation war. Selbst meine Mutter war ein paar Wochen, bis sich sein Körper daran gewöhnt hatte, von ihm genervt gewesen. Das möchte ich gerne vermeiden.

„Ich werde Ihnen Hormone mitgeben, falls es Sie zu sehr mitnimmt. Aber Sie werden sich daran gewöhnen. Und glauben Sie mir, es sind auch sehr schöne Gefühle dabei. Lassen Sie sich überraschen." Sie zwinkert mir zu.

Sofort denke ich an mein Gespräch mit Kay. Auch er hat mir damals zugezwinkert, als ich nach den neuen Gefühlen fragte – als ob es ein geheimes Signal wäre. Nur dass ich immer noch nicht verstanden habe, was es bedeutet.

Der Eingriff dauert nur wenige Sekunden. Dann hat die Ärztin meinen Chip – die kleine Platine unter meiner Haut, die bis zu diesem Tag synthetische Hormone in meinen Körper geleitet hat, um meine Emotionen zu regulieren – neu programmiert. Die Blockaden werden gelockert, aber nicht ganz aufgehoben. Zu unserem Wohle.
Zum ersten Mal seit Jahren werde ich Gefühle intensiver erleben. Der Gedanke daran lässt meinen Herzschlag schneller werden. Ist das schon Angst?

„So, das hätten wir", sagt sie, als wäre nichts geschehen. „Fehlt nur noch das letzte Testergebnis zu Ihrer Partnerwahl."

Sie hält mir einen blauen Umschlag mit meiner Auswertung hin. Ein feierlicher Moment. Meine Finger zittern leicht, als ich danach greife.

„Sie können ihn hier öffnen oder später zuhause."

Später? Dafür bin ich viel zu neugierig. Ich will sofort wissen, mit wem ich den Rest meines Lebens verbringen werde!
Ich atme tief ein, spüre, wie mein Brustkorb sich hebt und senkt. Das Siegel bricht mit einem leisen Knacken unter meinen Fingern. Das Papier raschelt in der Stille, als ich es vorsichtig herausziehe.

Ich lese.
Und blinzele.
Lese es erneut. Mein Herz hämmert so laut, dass ich kaum etwas anderes wahrnehme.

„Das kann nicht sein", flüstere ich. Mein Mund fühlt sich trocken an. „Das darf nicht sein!"

Die Ärztin streckt die Hand nach dem Brief aus, und ich reiche ihn ihr wortlos. Auch sie überfliegt die zwei Worte, die darauf stehen.

„Oh", sagt sie erstaunt. „Damit habe ich nicht gerechnet. Ich glaube, wir müssen ihre Berufswahl noch einmal überdenken."

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