1 | Ein neuer Tag im Paradies

„Guten Morgen 2443-H-23-JC64, es ist sieben Uhr. Zeit, dich für die Schule vorzubereiten. Heute ist ein großer Tag für dich!"

„Tja, AIRA, da musst du schon früher aufstehen. Im Gegensatz zu dir habe ich kaum geschlafen!" Ich lache laut und richte mein Hemd, das Em mir gestern Abend ordentlich gebügelt auf den Stapel sauberer Kleidung gelegt hat. Sie ist bestimmt mindestens so aufgeregt wie ich.

„Vier Stunden, elf Minuten und sechs Sekunden. Eine negative Abweichung vom Tagesdurchschnitt von drei Stunden, zweiundzwanzig Minuten und acht Sekunden. Du solltest heute Abend früher ins Bett gehen, um den fehlenden Schlaf auszugleichen."

„Ach AIRA", stöhne ich und verdrehe die Augen. Natürlich weiß ich, dass es sinnlos ist, mit einer KI zu diskutieren. „Sag mir lieber, was es zum Frühstück gibt."

Die künstliche Intelligenz, die unser Haus steuert, reagiert prompt. „Im Kühlschrank fehlen ein halbes Dutzend Eier, Milch und Fett. Aus dem Vorratsschrank wurden Mehl und Zucker entnommen. Eine Herdplatte ist gerade in Benutzung. Ich schätze, die Hausherrin macht zur Feier des Tages..."

„Pfannkuchen!" Ich unterbreche sie und reibe mir voller Vorfreude den Bauch.

„Das wollte ich auch gerade sagen." AIRA klingt gewohnt monoton, aber ich bilde mir ein, ein wenig gekränktes Schweigen herauszuhören. Natürlich Quatsch. Sie ist nur die Benutzeroberfläche einer Künstlichen Intelligenz, die nicht nur unser Haus, sondern die gesamte Gesellschaft unterstützt. Eine unverzichtbare Stütze unserer Welt, die seit über 400 Jahren keinen Krieg mehr erlebt hat. Und darauf sind wir mächtig stolz.

Übrigens," fährt AIRA nüchtern fort, „98 Prozent der Jugendlichen deines Jahrgangs registrieren heute einen erhöhten Puls. Möchtest du Entspannungsübungen aktivieren?"

Ich schüttle unwillkürlich den Kopf und grinse. „Nein, danke. Ich bin einfach nur... freudig erregt."

Die KI verstummt. Ich blicke ein letztes Mal in den Spiegel in meiner Kabine. Sorgfältig kämme ich meine blonden Haare zurück und lasse meinen Blick prüfend über das Hemd und die schicke Hose gleiten. Normalerweise trage ich in der Schule eine Uniform, aber heute ist etwas Besonderes. Der eine Tag, auf den ich und meine Freunde unser Leben lang gewartet haben. Unser Tag. Mein Tag!

Heute werde ich offiziell in die Gesellschaft eingeführt. Endlich erfahren ich und meine Freunde welchen Beruf wir bald ausüben werden und wer unser Partner oder unsere Partnerin werden wird. Auch wenn mir das Herz bis zum Hals schlägt, freue ich mich. Endlich werde ich eine vollwertige Rolle für unsere Gemeinschaft übernehmen. Endlich werde ich meine Nummer los und bekomme eine neue Kennung, die meinen Stand in der Gesellschaft widerspiegelt.

Der Herd ist nun aus. Ich denke, du solltest dich in die Küche begeben, 2443-H-23-JC64", meldet sich AIRA zurück. „Ich habe deine Tagesration aufgrund deines Kalorienbedarfs nach oben angepasst. Lass es dir schmecken."

Diesmal glaube ich fast, ein freundliches Lächeln im Tonfall herauszuhören. Wir verbringen eindeutig zu viel Zeit miteinander.

„Danke AIRA. Vielleicht lasse ich dir was übrig. Over and out!"

Ein letztes Mal atme ich tief durch, ziehe mein Jackett über und gehe zur Tür. Der Duft von frischen Pfannkuchen liegt bereits in der Luft.

Auf dem Weg durch den Versorgungstrakt achte ich kaum auf die glatten, weißen Wände oder die elektrischen Türen, hinter denen die Schlafkabinen meiner Familie liegen. Meine Gedanken sind bereits bei der Zeremonie, auch wenn ich nicht hundertprozentig weiß, was mich erwartet. Der Film, den man uns gestern gezeigt hat, hat uns zwar erklärt, was passiert, aber nicht wie.

Mein Bruder Kay hatte seine Einführung in die Gesellschaft vor zwei Jahren. Als ich ihn einmal danach gefragt habe, hat er nur gelächelt und gemeint: „Du wirst es früh genug erfahren, JayCe." Danach war das Thema für ihn erledigt. Meine Mutter Em hat ebenfalls nur gegrinst und geschwiegen. Meinen Vater De habe ich gar nicht erst gefragt — er hätte mir sicher auch keine Antwort gegeben.

In der Küche sitzen De und Em bereits am Tisch. Der Duft von frischen Pfannkuchen erfüllt den Raum. „Guten Morgen, liebe Eltern", begrüße ich sie respektvoll und warte, bis meine Mutter auf den Platz neben sich zeigt. „Setz dich, JayCe. Du hast bestimmt Hunger."

Ich nicke und rolle gut gelaunt einen Eierkuchen mit der Gabel auf. Zum Glück hat AIRA meine Kalorienration erhöht. Sonst würde sie mir später wieder den Kühlschrank absperren.

„Dein Vater und ich werden nach der Zeremonie pünktlich in der Kongresshalle auf dich warten", erklärt meine Mutter. „Kay und Jade werden auch kommen, und danach feiern wir gemeinsam mit deinen Schulfreunden im Lukullus."

„Wenn Kays Frau auch kommt, würde ich mich gerne mit ihr über die Gärtnerei unterhalten. Ich hoffe so sehr, dass ich ebenfalls für diesen Bereich ausgesucht werde."

„Gute Idee, mein Schatz!" Em lächelt und streichelt mir über die Wange. Eine seltene Geste, die ich umso mehr zu schätzen weiß. Ein kleines Lächeln huscht über meine Wange. Würde ich AIRA fragen, würde sie vermutlich einen erhöhten Herzschlag feststellen und mich fragen, ob ich mich fit fühle. Und ich würde ihr erklären, dass ich Bäume ausreißen könnte. Auch wenn das verboten ist.

Nach dem Frühstück zieht es mich hinaus in das Labyrinth aus Gassen, die sich wie Adern durch unsere Stadt schlängeln – und das ganz ohne den sanften Stupser meiner Eltern. Die engen Wege verlaufen zwischen hoch aufragenden Gebäuden, die wie stumme Zeugen des Fortschritts in den Himmel ragen, während das Licht der Kuppel über uns immer wieder durch die Lücken zwischen den Gebäuden bricht.

Einst war die Kuppel unser Garant für das Überleben. Doch über 400 Jahre nach dem Gleichberechtigungskrieg und 300 Jahre nach der Öffnung ist sie nur noch ein Dach für unsere Gesellschaft. Seit wir Teile der Natur außerhalb der Kuppel zurückgewonnen und kultiviert haben, geht es mit den Menschen wieder bergauf.

Unsere Regeln sind einfach – sie sorgen dafür, dass wir uns in einem kontrollierten Maß vermehren und versorgen können. Das unkontrollierte Wachstum der ersten Generation wurde gerade noch rechtzeitig eingedämmt. Seitdem wir bewusster mit der Paarung und unseren Gefühlen umgehen, wächst unsere Bevölkerung nur noch langsam. Mehr könnten wir uns auch nicht leisten, wenn wir alle versorgen wollen. Das Überleben dieser Welt beruht auf Ordnung. Und ich bin, wie alle anderen, ein Teil davon – ein kleines Rad im großen Getriebe, mit der wohlklingenden Bezeichnung 2443-H-23-JC64. Geboren im Jahr 2443, im Ring H zuhause, dreiundzwanzigster Sohn der Familie JC und vierundsechzigster Nachkomme dieser Linie. Eine Nummer, die mich definiert. Ein Teil des Systems, das alles bestimmt – auch mich.

Manchmal fühle ich mich klein in dieser Ordnung der Zahlen. Aber das wird sich bald ändern. Bald werde ich meine Nummer gegen eine Kennung tauschen – eine Identität, die mehr ist als nur eine Ziffernfolge.

Meine neue Kennung wird zeigen, welchen Wert ich für die Gesellschaft habe, wie bedeutend mein Beruf sein wird und welche meiner Fähigkeiten der Stadt einen Vorteil bringen. Kurz gesagt: Sie wird bestimmen, wie viel ich zähle. Und ich habe mir die letzten Jahre alles abverlangt, um einen möglichst hohen Einstiegswert zu erreichen.

Ich atme tief durch, als ich die Kreuzung zur Kongresshalle erreiche, wo unsere Einführung in die Gesellschaft stattfindet. Auf dem Platz vor dem Rathaus entdecke ich Sue und Day. Sie tragen wie ich ebenfalls Spitznamen angelehnt an ihren Familiennamen, und sind in meinem Jahrgang. Sie sehen genauso aufgeregt aus wie ich mich fühle. Als sie mich bemerken, winke ich ihnen zu und gehe auf die andere Seite. Sue lächelt freundlich, als ich sie erreiche. Ich hoffe, dass ich mit ihr gematcht werde. Ich halte uns für durchaus kompatibel – auch wenn das erst genau bestimmt werden kann, wenn unsere Emotionsblocker deaktiviert werden.

„JayCe, wie geht es dir?" Sue streicht sich eine schwarze Strähne aus dem Gesicht, ihre dunklen Mandelaugen blitzen aufmerksam.

„Ich bin aufgeregt, aber meine Werte liegen im Normalbereich", antworte ich sachlich, erwidere ihre Frage und nicke auch Day zu, meinem besten Freund seit Kindertagen. Mit ihm aufzuwachsen war eine Konstante in meinem Leben – vertraut, zuverlässig. Unsere Kompatibilität war immer hoch, fast wie in einer Familie.

Zusammen betreten wir die breite Straße, die zur Halle führt. Um uns herum strömen immer mehr Schüler und Schülerinnen unseres Jahrgangs auf das imposante Gebäude zu, dessen hohe Glaswände die Stadt hinter mir spiegeln. New World – einst Zufluchtsort der letzten Menschen – ist längst mehr als das. Es ist der Neuanfang einer besseren, vielleicht sogar perfekten Welt, in der jeder Mensch eine Aufgabe, einen Partner und ein erfülltes Leben hat.

Und heute werde ich meinen Platz in dieser Welt einnehmen. Gemeinsam mit meinen Freunden und meiner Familie werde ich diesen Schritt feiern. Heute werde ich meinen Emo-Blocker los, werde eine Partnerin zugewiesen bekommen und eine Aufgabe erhalten. Ab heute Mittag bin ich ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft. Dessen bin ich mir sicher.

Ein plötzliches Piepen an meinem Handgelenk reißt mich aus meinen Gedanken. Irritiert werfe ich einen Blick auf meinen Transmitter, während ich mich hinter Sue und Day in die Schlange vor dem Eingang einreihe. Eine Nachricht von AIRA blinkt auf:

Status – Du wurdest bei einer Lüge ertappt. Bitte passe dein Verhalten unseren moralischen Werten an. Es werden 5 Minus-Punkte auf deiner Stellenwertskala vorgemerkt."

Mein Herz setzt einen Schlag aus – dann rast es los. Eine Lüge? Was hat das zu bedeuten?

⭐️ 2.000 Wörter ⭐️

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