❲1❳ Praktikum

,,Der Schuppen sieht aus, als hätte er ein fettes Kakerlaken-Problem", fasste Briar, ihren Kaugummi schmatzend und die Ellenbogen auf Devons zerschlissene Rückenlehne gestützt, treffend zusammen.

Die rot glühende Anzeigetafel des Busses zeigte sechs Uhr dreißig an. Oktober hatte die schönsten Sonnenaufgänge. Wie ein Liebesgeständnis marschierten Gelb, Violett und ein zärtlicher Schatten über den Himmel und auf ein schummriges Waldstück zu, das nicht aussah, als hielte es viel von malerischen Sonnenaufgängen oder Liebesgeständnissen. Selbst leuchtende Farben schienen die Nacht nicht aus ihm vertreiben zu können. Die nicht mehr allzu frische Straße, über welche der Bus huckelte, wurde eingeengt von Reihen aus grimmigen, herbstlichen Nadelbäumen. Von manchen hätte man denken können, dass sie die Anreisenden beobachteten. Skeptisch lehnten sie aneinander wie das Grüppchen Jugendlicher.

Ihre Blicke zielten durch die milchigen Scheiben auf einen Gebäudekomplex. Mächtige, rattengraue Mauern, abgezweigt in mehrere Trakte, hintendran sogar eine Art Turm mit gläsernem Außenaufzug. Wie eine Bastei im Widerstand gegen die sich heimlich vorantastenden, dürren Arme der Fichten und Kiefern.

Das Gebäude als heruntergekommen zu empfinden, war berechtigt. Doch Devon, die am Gang saß und sich daher über Lee beugen musste, hätte es auch als faszinierend beschrieben. Ein schauriges, geheimnisvolles Faszinierend. Denn das dunkle Gemäuer war durchzogen von Neongrün: Neongrünes Blinken an der Glasfassade des Fahrstuhls, neongrüne Laternen auf dem kompakten Parkplatz, in welchem sich ihr Bus einfand, ein neongrüner Scheinwerfer auf dem Turm und ein neongrünes Logo über einer breiten Schiebetür, die der Haupteingang sein musste.
Hat einen gewissen Charme, dachte Devon und raffte ihren mit Buttons übersäten Rucksack aus dem Fußraum auf.

Sie schien die Einzige aus der Gruppe von vier Sechzehn- und Siebzehnjährigen zu sein, die dem Praktikumsplatz nicht ausschließlich mit Entsetzen entgegensah.

,,Sicher, dass wir hier richtig sind?", fragte Lee, deren Stimme eine Oktave höher als normalerweise war. Ihr Knie wippte rastlos auf und ab, die Fingerkuppen mit den langen und säuberlich gefeilten Nägeln hatte sie gegen die Scheibe gepresst, als wäre sie ein Kleinkind und als gebe es dahinter gratis Süßigkeiten.
Briar, die sich mit Lee auf Devons Rückenlehne stützte, schob zwischen die Fensterscheibe und die ungläubigen Gesichter ihr Handy mit einem hell aufleuchtenden Internet-Artikel.

,,Du hast hier Netz?", war Lees erste Reaktion.
,,Gerade so". Briar rückte den beiden Mädchen noch mehr auf die Pelle, weil keines den Blick von dem neongrün-dunkelgrauen Spukschloss auf ihr Display richtete. ,,Das ist die Forschungseinrichtung, die im Verdacht stand, das Erdbeben neulich ausgelöst zu haben! Macht's auch nicht besser".
Bei dem Erdbeben war nichts und niemand beschädigt worden, aber es gab der Stadt Rätsel auf, denn das war in ihrer Gegend extrem ungewöhnlich. Dass Devons Praktikumsplatz, welcher ihr gestern unverhofft zugewiesen worden war, darin verwickelt sein könnte, war ihr neu. Selbst an grundlegenden Informationen hatte das Internet ihr nicht viel über dieses Labor sagen können. Die Webseite machte einen veralteten Eindruck und hatte Devon dazu bewogen, schnell wegzuklicken und den heutigen Tag einfach auf sich zukommen zu lassen.

,,Dieser Verdacht wurde zurückgezogen", kam es argwöhnisch von zwei Sitzreihen weiter vorn. Unter einem braunen Lockenschopf spiegelte sich ein unergründliches Augenpaar in den vom Wald verdunkelten Fenstern. Ethan, mit dem Devon nur zwei Stunden Biologie in der Woche hatte. ,,Ist doch bescheuert, das zu glauben. Wie soll denn ein Labor ein Erdbeben-"
,,Lass stecken, Ethan", funkte ihm Lee dazwischen und schob die Fingerkuppen mit den langen und säuberlich gefeilten Nägeln unter die Träger ihrer Tasche. Zischend öffneten sich die Türen des Busses.

Außer den vier Elftklässlern stieg niemand aus, denn niemand außer sie war bis hierher gefahren. Der Bus passte kaum in den Parkplatz, und nirgendwo ließ sich eine Haltestelle oder ein Schild ausmachen. Der Asphalt war rissig und seine Kälte sickerte durch Devons Turnschuhe, umklammerte flüsternd ihre Knöchel.
Sie konnte es nicht lassen, den Busfahrer von der Seite zu mustern. Anders als Briar oder Lee fuhr Devon nicht regulär Bus und kannte ihn daher nicht. Als sie eingestiegen war und sich ein Ticket gekauft hatte, war er wortkarg gewesen, aber sie schätzte, dass das normal war. Er dürfte circa Vierzig sein, ein blaues Jackett spannte sich über einen Schmerbauch, beide Hände würgten das Lenkrad. Sein rundliches Gesicht wirkte aufmerksam, die Wangenknochen versteift.

,,Wann kommen Sie wieder?", erkundigte Devon sich.
,,Bis zwanzig Uhr zu jeder vollen Stunde".
,,Hier ist kein Plan".
Er zuckte die Achseln, mied es, sie anzusehen. Devon hätte nicht mehr mit einer Antwort gerechnet, dann: ,,Wurde beim Erdbeben beschädigt, denke ich, bald stell'n sie sicher 'nen neuen auf".
Und weil Devon schon draußen stand und der Busfahrer seine wulstigen Arme am Lenker hatte, beendete er das Gespräch, indem er die Türen schloss und davon tuckerte.

,,Komischer Kauz", meinte Briar.
,,Ich wusste nicht, dass hier eine Haltestelle ist. Aber warum sollte ich auch hier hin wollen?", sagte Lee und zuckte mit den Schultern wie der Busfahrer. Mit dem Unterschied, dass ihre Unwissenheit überzeugender war.
Briar war von dem Internet-Artikel zur Mail des städtischen Krankenhauses gewechselt, welche sie gestern alle aus dem Nichts erreicht hatte. Es war ein beliebter Praktikumsplatz bei den Schülern, aber aus Gründen, über die die Mail keine klare Auskunft gab, ,,werden wir sie unsrem geschätzten Partner übermitteLn, dem Forschungslabor Edwood". Der Schreibstil hatte das Vertrauen in diese Mail nicht unbedingt gesteigert, aber es nützte alles nichts, die Telefonleitung des Krankenhauses war ab da permanent belegt gewesen. Zumindest sagte die dubiose Nachricht ihnen, wo sie sich zu melden hatten: ,,Renzeption beim haupteingang. Viel Spaß!"

Zwischen den Jugendlichen und der ,,Renzeption" lag eine beachtliche Doppeltür aus einem stählernen Rahmen und schwarzem, gefrosteten Glas. Von oben leuchteten Devon zwei sich überlappende Kreise in der grellen, einzigen Farbe dieses Gebäudes an. Sie waren auf einem dünnen Stab aufgefädelt und Devon fragte sich, ob das Zeichen eine Bedeutung hatte.
Die Glastüren glitten nicht automatisch auf wie beim Krankenhaus. Die Mädchen schauten sich verstohlen an, was sie nervöser machte, anstatt zu beruhigen. Dass sie eine Woche in diesem Haus zugange sein würden und es dafür auch anfassen mussten, verdrängten sie wohl noch. Ethan hingegen wirkte unbeeindruckt. Bevor er es tun konnte, gab Devon sich einen Ruck, zog vergebens an einem der Flügel und wäre dann beinahe vornüber gekippt, als sie sich dagegen stemmte und die Tür mühelos aufschwang.

Devon kam sich so sehr wie ein Eindringling vor, dass es sie wunderte, dass kein Alarm durch das blank polierte Foyer schrillte. Nicht, dass sie dreckig gewesen wäre, ebenso ihre Schuhe nicht, aber alles war dreckiger als dieser Olymp der Finsternis. Das glänzende Parkett versprühte eine furchtbare Eleganz. Die Rillen zwischen den Quadraten waren dünne Röhren mit giftgrünem Licht, vielleicht auch einer Flüssigkeit, wer wusste das schon- die einzige Lichtquelle. Sie wanderten über die Wände und vereinten sich in einer geschwärzten Glaskuppel, welche den Himmel aussperrte. Vor ihnen erstreckte sich ein Tresen, rechts und links spreizten sich Flure ab, einer davon zu einem Treppenhaus.

Staunende Rufe schnitten durch die Totenstille, dann ein leises Klicken, sowie Ethan als Letzter eintrat und der massive Flügel ins Schloss fiel. Devons hin und her pendelnde Waage von Anspannung und Faszinations kippte mal wieder zur Anspannung. Sie hatte nicht erwartet, dass man das Grüppchen mit Konfetti begrüßen oder es im Eingangsbereich vor Kittelträgern wimmeln würde, aber dass sie mutterseelenallein waren, gab ihr ein Gefühl großer Verlorenheit.
Auch die Rezeption sah nicht vielversprechend aus. Vermutlich war der Tresen ihr Ziel, doch an diesem stand niemand. 
,,Wie viele Millionen allein dieser Raum wert ist?", fragte Briar geplättet und blies mit ihrem Kaugummi eine Blase.
,,Ich wusste nicht, dass die Area 51 modernisiert wurde", feixte Lee, was ihre Unsicherheit nicht vertuschen konnte.

Auf dem Tresen herrschte, wie im ganzen Foyer, eine minimalistische Ordnung. Ein an Draht befestigter Kugelschreiber lag neben einem Tastentelefon. Neben diesem eine Tischklingel.
Ohne Garantie für Erfolg drückte Devon.

Wie ein Rabenschrei über einem Friedhof flatterte das einmalige Bimmeln durch den leeren Raum, hallte in Devons Ohr wider und verlor sich in den Korridoren. Daraufhin war die Stille zurück.
,,Hm", sagte Briar resigniert.
,,Dann warten wir jetzt die Stunde auf den Bus", entschied Lee, doch Devon rührte sich nicht.
,,Moment", flüsterte sie, was bei normaler Zimmerlautstärke an allen vorbeigegangen wäre. Die anderen hielten inne, erst der Bitte wegen, dann, weil sie es auch hörten.
Dieser spitze, kurze Ton. Er verblasste nicht.
Das war nicht das Echo der Klingel.

Devon fixierte die Fläche hinter dem Tresen, von der sie das Geräusch verortete. Durch das schwache Glimmen der Plexiglasröhren kam es ihr vor, als spielten die Schatten ihren Augen Streiche. Ein winziges Flimmern an der Wand, in regelmäßigen Intervallen wie der spitze Ton. Eine bizarre Melodie.
Devon konzentrierte sich auf den Boden. Etwas Fallendes. Es war, als würde es durchdringender werden, fordernder. Als wöllte es, dass Devon realisierte.

Nadeln. Hauchzart sprangen sie über eines der metallisch glänzenden Vierecke, stetig wie ein tropfender Wasserhahn.
In den Schatten, welche die Wand hinter dem Tresen vereinnahmten, regte sich etwas, ein extrem vager Umriss über den grünen Röhren. Devons Blick schoss nach oben.
,,Hat ja lange gebraucht", sagte die Person auf dem stählernen Dachbalken. Eine weibliche Stimme. ,,Dabei bin ich gar nicht so unauffällig".

Schreiend- oder in Devons Fall, zu geschockt, um einen Laut hervorzubringen- stolperte die Gruppe rückwärts. Zwei Beine baumelten von dem Dachbalken.
,,Macht das noch mal", sagte das Mädchen verzückt.
Devon, Briar, Lee und sogar Ethan starrten sich an, dann die Silhouette jenseits des geisterhaften, grünen Lichts. Als keiner von ihnen das Wort ergriff, tat sie es: ,,Schreien!" Die Silhouette riss die Arme hoch, als hätten die Elftklässler eine Frage nicht beantwortett, welche zum Allgemeinwissen gehörte. ,,Könnt ihr bitte noch mal schreien? Ihr habt euch doch erschreckt, richtig? Hier erschreckt sich fast nie jemand!"

Eine Stille entstand, ausgekleidet von wummernden Herz, und bevor einer der Vier sich doch irgendetwas über die Lippen zwängen konnte, senkte sich der Schatten auf sie herab. Devon, die noch immer an vorderster Front stand, schaffte es gerade noch rechtzeitig, zurückzuweichen, bevor die Plattform-Stiefel sie ins Jenseits beförderten.
Sie waren ledern und schwarz, knallorangene Schnürsenkel wanden sich zwischen Nieten bis unter die Knie. Darüber war ein Flickenteppich von Strumpfhose aus Kaktusgrün und Ockerbraun, falls Devon die Farben in der Beleuchtung des Foyers richtig deutete. Das Oberteil mit Ösen und eingenähten Knöpfen könnte mal ein Laborkittel gewesen sein, doch das meiste wurde sowieso verdeckt- durch Gürtel über Gürtel. Sie schlangen sich um die Hüfte des Mädchens und wie gekreuzte Schärpen schichtweise über ihre Brust. Und weil ihr Äußeres nach oben hin mit den Zentimetern proportional unglaubwürdiger wurde, hatte sie mittellange, kreischend orangene Haare.

Geschmeidig wie ein Wiesel beugte sie sich nach vorn, um Devon eindringlich zu mustern. Ihr Haar umspielte dabei sanft ihre Wangen wie im Wind raschelnde Gardinen. Rechts reichte es bis zum Kinn, mit einer kleinen Welle an den Spitzen, und auf der anderen Seite war es vermutlich genau so lang, aber mit Haarnadeln nach hinten geklemmt. Ihre Haut war unnatürlich rein, irgendwie schimmernd, sodass Devon hätte schwören können, sich sogar im Halbdunkeln darin zu spiegeln.

Sie wusste nicht, wieso sie nicht geradewegs aus der Tür rannte. Vielleicht, weil Devon nicht begreifen konnte, dass ausgerechnet sie in einem solchen Absurdistan gelandet sein sollte. Vielleicht, weil alles normal werden würde, wenn sie normal tat.
,,Wir-Wir sind die Praktikanten. Uns wurde gesagt, wir sollen zur Rezeption gehen, also... sind wir hier richtig?"
Die Faszination des Mädchens wuchs ins Unermessliche. ,,Absolut richtig!" Plötzlich schnellte ihr Zeigefinger auf Devons Lippe. ,,Warte, sag mir nicht deinen Namen. Ich rate".

Nun streiften ihre Augen weiter zu Briar, Lee und Ethan, knüpften sich jeden einzeln vor. Sie deutete auf Briar, die nicht mehr auf ihrem Kaugummi kaute, seit sie eingetreten waren. ,,Lee. Top, Jeans, Cap, alles einsilbige Wörter, was du da trägst". Sie klatschte bei jedem in die Hände. ,,Du wirkst kurz. Lee".
,,Danke?", erwiderte Briar unverständnisvoll. ,,So heiße ich aber nicht".
,,Warum?"
Sie blinzelte. ,,Weil es so ist?"
,,Egal, Lee passt zu dir". Sie ging zu Ethan über. ,,Deine Haare sind so... wirr. Briar. Wirr. Zwei ,r'. Du musst Briar sein".
Er zog die Augenbrauen hoch.

,,Das macht keinen Spaß!", beklagte sich das Mädchen und beugte sich wieder zu Devon vor. ,,Ein letzter Versuch".
Sie kniff die Lider zusammen und näherte sich Devon. Diese zuckte zurück, als zwischen ihren Nasen bloß noch ein Tuch gepasst hätte.
Wo um alles in der Welt war sie hier reingeraten?
,,Devon", sagte ihr spezieller Empfang schließlich. ,,Du bist Devon".

Schritte schallten aus dem Korridor mit dem Treppenhaus. Devons Erleichterung wurde in der nächsten Sekunde von Misstrauen untergraben. Würde man sich gleich für die Unannhemlichkeiten entschuldigen und sie normal ins Praktikum einweisen, oder hatte dieses Institut noch so einen Exzentriker zu bieten?
,,Neon? Neon, mit wem sprichst du da?", rief eine pikierte, rauchige Männerstimme.
Damit war die Frage wohl beantwortet.

Um die Ecke bog ein vielleicht fünfzigjähriger Mann mit knielangem Laborkittel. Sein strenger Seitenscheitel war unsorgfältig zurückgegelt, an der Schläfe entflohen ihm einige Zwirbel. Er blieb stehen, sowie er das Szenario erblickte. Seine Mimik war so nichtssagend wie ein unbenutztes weißes Blatt, als wüsste er nicht recht, was Schockiertsein war.
,,Oh, und das ist"- Neon schmachtete überzogen- ,,Joaquin C. Edwood! Der Erschaffer, das Genie!" Übermütig grinste sie den Mann an, der nicht zurück grinste. ,,Er will mich übrigens töten".

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