Kapitel 2



Ich bemühe mich, meine Gedankenvollständig darauf zu lenken, den Großteil meines Zimmers inTaschen und Koffern zu verstauen, doch diese Aufgabe ist wederkörperlich noch geistig fordernd genug, um das zu erreichen. Immerwieder, wenn ich einen Moment abschweife, erwische ich mich Sekundenspäter mit aus dem Fenster gerichtetem Blick, unterdrückten Tränenin den Augen und zitternden Händen auf dem kalten Boden sitzend.Nachdem ich mich gefühlte hunderte Male dazu gezwungen habe, wiederaufzustehen, bin ich mit meiner Geduld am Ende. Fieberhaft suche ichnach einer Ablenkung und laufe wie gehetzt von einer Seite meinesZimmers zur anderen. Erst als meine Sicht schon beängstigendverschwommen und mein Atem gepresst ist, wie sonst nur nach einemKilometerlangem Dauerlauf, findet meine Hysterie ein jähes Ende. Nureinen kaum fassbaren Moment knickt eines meiner Beine ein, doch erreicht um mich stolpern zu lassen. Auf meinem Regal finden meineHände keine Halt, also macht mein Kopf zwangsläufig schmerzhaftBekanntschaft mit dessen Kante. Leise fluchend halte ich mir die mitSicherheit rot anlaufende Stelle auf meine Stirn, wobei mir ein Bildauffällt, das ich wohl aus Versehen vom Regal gewischt haben muss.Es zeigt mich als Kleinkind, wie ich nachdenklich aussehend am Randeines Teiches sitze, den ich als meinen Lieblingsort in unserem Waldidentifizieren kann. Lächelnd erinnere ich mich daran, dass wir unsfrüher stets darüber lustig gemacht haben, wie meine Stirngekräuselt und meine Nase gerümpft sind, als würde ich ernsthaftüber den Sinn der Existenz sinnieren. Nach einer Weile, in der ichgedankenversunken das Bild anstarre fällt mir ein Detail dessen auf,welches ich vorher noch nie zur Kenntnis genommen habe. Das Photoentstand an einem späten Herbstnachmittag, weswegen der Einfall derSonnenstrahlen auf mein Gesicht fast horizontal ist. Eines meinerAugen hat den für mich typischen, undefinierbaren, normalenBraunton, das andere jedoch, welches direkt vom Licht getroffen wird,leuchtet in einer hellen, fast goldenen, Honigfarbenen Nuance diesich stark von meiner bleichen Haut abhebt. Kopfschüttelnd lege ichdas Bild schließlich wieder aus der Hand, überlege kurz und steckees dann in eine meiner verstreuten Taschen, die zwischenKleiderhaufen und Bücherstapeln nach meiner Aufmerksamkeit schreien.Seufzend mache ich mich wieder an die Arbeit und kann kurzzeitigtatsächlich alles andere aus meinen Gedanken verbannen.

Schneller als mir lieb ist holtmich der Rest der Welt wieder ein. Einen guten halben Tag spätersind alle Koffer fertig gepackt und stehen abfahrbereit im Flur,meine Eltern warten ungeduldig darauf, dass ich es schaffe meineSchuhe anzuziehen, wohingegen ich mich bemühe so viel Zeit wiemöglich dabei herauszuschlagen. Die Stimmung ist gedrückt, wirschweigen uns an während wir gemeinsam unser Gepäck im Kofferraumstapeln. Als die Tür mit einem dumpfen Knall zufällt, fühlt essich an wie ein Schnitt in meinem Leben. Das Haus, in dem ichaufgewachsen bin, steht direkt vor mir, aber es scheint so weitentfernt zu sein wie nie. Um es nicht weiter ansehen zu müssen wendeich mich ab und steige ins Auto. Auch die Fahrt verläuft still, sievergeht viel zu langsam und könnte gleichzeitig noch stundenlangdauern. Die letzten Augenblicke mit meinen Eltern bekomme ich nurvage mit, als würde mein Wahrnehmen durch einen Schleicher von allemgetrennt sein. Meine Mutter schließt mich in die Arme undverabschiedet sich mit erstickter Stimme von mir, es dauert eineWeile bis wir uns aus der Umarmung lösen können, dann legt meinVater mir die Hände auf die Schultern und sieht mir nachdrücklichin die Augen. „Bis Bald, Nessa" sagt er. Es klingt wie einVersprechen, vielleicht auch nur weil ich hoffe es wäre eines.Alles, woran ich mich später erinnern werde, sind die traurigenAugen meine Mutter, die mich ansieht als würde sie versuchen meinenAnblick in sich aufzusagen um ihn nicht zu vergessen, bevor derdunkle Wagen hinter der nächsten Kurve verschwindet.

Mit Sicherheit wäre ich indiesem Moment in Tränen ausgebrochen, wenn nicht genau in demAugenblick ein dunkelbraun gefärbter Berg Fell auf mich zu gestürmtgekommen wäre, der meine Aufmerksamkeit sofort für sichbeansprucht. Ehe ich mich versehen kann, liegen zwei schwere Pfotenauf meinen Schultern und ich finde mich Auge in Auge mit demaufgeregt hechelnden Rüden meiner Tante wieder. Der vierjährigeMischling aus dem Tierheim hat meine Gegenwart, im Gegensatz zu denender meisten anderen, nie gescheut. Im Gegenteil, seit ich ihn daserste Mal getroffen habe, hat er mich ohne lange zu zögern als Teilseines kleinen Rudels aufgenommen.
„Nessa!", schreit meineTante mir von weitem zu, „Da bist du ja endlich!" Lachend laufeich ihr entgegen und ignoriere geflissentlich die Tatsache, dass icheigentlich viel zu früh hier bin. Elisa lebt nach ihrer eigenenZeitrechnung. So ziemlich alles an ihr ist ein Unikat, angefangen beiihrem übertrieben schwungvoller Gang, der nicht zu ihrerbeeindruckenden Größe passen will, bis zu ihren blauen, langen,gelockten Haaren die sich auf die für sie typische Art mit ihrerknalligen, favorisiert roten, Kleidung beißen. Ihr unordentlicherZopf, aus dem mindestens die Hälfte der Haare heraushängt, schwingtbeim Gehen von einer Seite zu anderen. Als ich genau vor ihr stehe,muss ich den Kopf in den Nacken legen um ihr ins Gesicht sehen zukönnen. Über ihren grünen, von Lachfalten eingerahmten Haarenklebt angetrocknete Erde, die von ihrer Angewohnheit herrührt, mitden Handschuhen, die sie benutzt um Pflanzen umzugraben, über ihreStirn zu streichen wenn sie überlegen muss, wo der beste Ort ist umeines ihrer geliebten Gewächse neu zu platzieren. Schwungvoll drehtsie mich einmal herum, um mich genau zu betrachten. „Du bistgewachsen", merkt sie grinsend an. Ihre Laune ist derartansteckend, dass ich mich auf der Stelle bedeutend besser fühle.


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