Kapitel 1.2

Das grelle Licht der ersten Sonnenstrahlen legt sich wie eine zweite Haut über mein Gesicht und lässt meine Lider in Rot- und Orangetönen leuchten, die vage Gefühle, welche ich nicht einordnen kann, wieder aufleben lassen. Müde seufzend blinzle ich ein paar Mal, bevor meine Augen aufhören zu brennen und sich an die Helligkeit gewöhnt haben. Während ich versuche, meine noch schlafenden Muskeln anspannen und zur Arbeit zu bringen, fällt mein Blick auf meine Mutter, die mit hochgezogenen Augenbrauen im Türrahmen steht und ein wenig amüsiert meinen Bemühungen folgt. Dennoch glaube ich zu spüren, dass sie etwas beschäftigt. Meine Vermutung bestätigt sich, als noch im selben Moment ihre Gesichtszüge versteinern und sie mich bittet, so schnell wie möglich nach unten zu kommen. Einen Moment wartet sie unschlüssig, dreht sich dann aber ruckartig um und verschwindet aus meinem Sichtfeld.
Verunsichert schwinge ich meine Beine aus dem Bett und greife blind nach ein paar auf dem Boden liegenden Sachen.

Als ich wenige Minuten später und bedeutend munterer, wenngleich mir die Nacht noch immer in den Knochen sitzt, die dunkle Holztreppe betrete, höre ich das leise Gespräch meiner Eltern aus der Küche. Mein Magen wird mit jedem Schritt schwerer, ein nicht zu missachtendes, beißendes Gefühl breitet sich mit jedem Meter stärker in mir aus. Es kommt selten vor, dass sie versuchen etwas vor mir zu verheimlichen, aber nie hören sich ihre Stimmen dabei so ängstlich an, nie ist die Atmosphäre so angespannt. Als würden mich unsichtbare Ketten halten fällt es mir immer schwerer, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Endlich unten angekommen, zittern meine Beine. Obwohl ich irgendwo in mir weiß, dass nichts hiervon meiner in der Tat nicht zu verachtenden Vorstellungskraft entspringt, rede ich mir ein, selbst noch als ich die verzerrten, grauen Gesichter meiner Eltern sehe, die mir stumm entgegensehen, meine Fantasie würde mit mir durchgehen. "Guten Morgen", flüstere ich. Die Worte schweben im Raum, und zum ersten Mal in meinem Leben scheint mir der Regen draußen, mit den sonst so wunderschönen dunklen, aufgebauschten Wolken, wie ein grausames, verhöhnendes Schauspiel und Omen zugleich. "Nessa", die Stimme meines Vaters klingt gebrochen, "setz dich bitte." Inzwischen höre das Blut in meinem Kopf rauschen. Nickend ziehe ich einen Stuhl unter dem alten Holztisch hervor. Weitere schwindelerregende Minuten verstreichen, bevor diesmal meine Mutter das Wort ergreift. "Wir werden dich heute zu Elisa bringen. Den Rest der Ferien kannst du dort verbringen." Sie schaut mir nicht in die Augen. Ihre Aussage hallt in meinen Gedanken wider wie ein tristes, inhaltsloses Filmzitat. Auch wenn es für mich kein Problem darstellt, ein paar Wochen auf dem Hof meiner Tante zu leben, fühlt es sich an, als hätte mir jemand ein tödliches Urteil vorgelegt. "Und?", frage ich vorsichtig. Nervös versuche ich Augenkontakt aufzubauen, aber keiner von beiden scheint mich ansehen zu können. "Ich weiß nicht wie ich es sagen soll, aber wir müssen für eine ziemlich lange Zeit verreisen", sagt mein Vater. "Um es genau auszudrücken, für die nächsten zwölf Monate." Mir wird heiß und kalt zugleich. Alles woran ich denken kann, ist das stechende Gefühl in mir, dass mir vermittelt ich würde sie nie wieder sehen, wenn ich sie jetzt gehen lassen. Wahrscheinlich benehme ich mich albern, in meinem Alter sollte es in Ordnung sein, nicht gewöhnlich für eine Familie wie unsere, aber dennoch akzeptabel, vor allem in Zeiten der Globalisierung. Es würde ohnehin so sein, rede ich mir ein, als wären sie hier, nur eben durch Videoanrufe oder Nachrichten getrennt von mir. "Eine Dienstreise", fügt meine Mutter hinzu. Ich merke, dass sie versucht die Tränen zu unterdrücken, als gäbe es etwas noch bedeutend Schlechteres, dass sie mir nicht sagen kann. Mit bebender Unterlippe presse ich ein leises "Okay" hervor. Abgesehen davon, dass ich selbst wenn ich es wollte nicht mehr hätte sagen können beschließe ich, es ihnen nicht schwerer zu machen. Innerlich fühle ich mich wie erstarrt, als wäre für mich die Zeit stehen geblieben, wenn sie auch außerhalb meines Denkens normal weiterläuft.
Mein Vater greift nach meinem Arm und drückt ihn, während er versucht beruhigt auszusehen. "Du schaffst das", murmelt er. Mir kommt es vor, als müsste ich die Botschaft hinter diesen einfachen Worten verstehen, als gäbe es etwas, dass er mir miteilen würde wollen, es aber nicht konnte. Der Augenblick verstreicht und während ich mich umdrehe um nach oben zu gehen und meine Sachen zu packen, lege ich fest, dass es eine einfach Aussage ohne weiteren Hintergrund gewesen sein muss.



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