3 | Vielleicht im nächsten Leben
"Warum weinst du?" Carters Hand findet fast automatisch die meine, aber ich reiße mich von ihm los, auch wenn meine Lippen ein kurzes Lächeln bei der Direktheit seiner Frage umspielt. Diese Lippen beginnen jedoch ziemlich schnell wieder zu zittern, weshalb das halbe Grinsen ebenso schnell wieder verschwindet, wie es gekommen ist.
"Mein Vater ist wieder zurück und du glaubst gar nicht, wie er ausrasten würde, wenn er das mit uns wissen würde." Ich wische mir über mein Gesicht, aber die Tränen nehmen keine Rücksicht.
Er setzt sich neben mich, aber wir wissen beide, dass das ein großer Fehler ist. Ein Fehler, den er nicht zu bereuen scheint. "Das heißt also, dass es sich für dich nicht lohnt, für uns zu kämpfen."
Abwehrend hebe ich die Hände und sehe ihn entschuldigend an, woraufhin er nur die Augenbrauen hochzieht. "Nein, so ist das nicht. Ich habe einfach nur Angst vor seiner Reaktion."
Ein Schimmer von Hoffnung lässt seine Augen noch schöner glänzen, als sowieso schon und urplötzlich fällt es mir noch schwerer, mein Vorhaben durchzuziehen. "Wir können es ihm zusammen sagen."
Ich lege meinen Kopf auf meine Arme, die ich über meinen angewinkelten Knien deponiert habe, und sehe ihn von der Seite an. "Ich weiß nicht, ob ich das will."
"Lass es uns probieren, Benji." Sein Blick ist flehentlich und er scheint es wirklich ernst zu meinen. Scheint es ernst mit mir zu meinen, etwas, dass die meisten Menschen nicht so gut draufhaben.
"Warum sollten wir es probieren, wenn das mit uns sowieso kurz davor ist, zu scheitern?" Seufzend drehe ich meinen Kopf so, dass ich auf den grauen Betonboden des Daches sehe, statt in seine wunderschönen Augen. Wunderschöne Augen, die kurz davor sind, in mir den Wunsch zu wecken, ihn zu zerstören, indem ich mich selbst von meinem Plan abbringe.
Mir war klar, dass ich auf dem Dach 'unseres' Hauses nicht lange allein sein würde. Die letzten Tage bin ich immer hier gewesen, um einerseits meinem Vater und andererseits Carter aus dem Weg zu gehen. Irgendwann musste er mich ja finden. Leider kennt er mich eben zu gut.
"Weil ich nicht aufgeben werde und für uns kämpfe." Entschlossen klingen die Worte und bringen meinen Magen zum Erzittern, während eine innere Kälte ihre eiserne Faust um meinen Hals zu schlingen scheint, um mich zu erwürgen.
Ich keuche. "Auch, wenn du dich dann mit meinem Vater anlegen musst?" Allein die Vorstellung davon, treibt mir wieder die Tränen in die Augen, aber bevor auch nur eine aus meinem Augenwinkel entweichen kann, wische ich mir über mein Gesicht.
"Ich werde immer für dich kämpfen. Für uns und auf deiner Seite." Er nimmt meine - jetzt etwas feuchte - Hand in seine, was ich ihm durchgehen lasse, und zwingt mich dazu, ihm in die Augen zu sehen, was ich zuerst versuche zu vermeiden, dann meinem Bedürfnis jedoch nachkomme.
Nach einem kurzen Blick in seine Augen, distanziere ich mich wieder von ihm und aus dem Augenwinkel sehe ich den Schmerz, den seine Augen widerspiegeln. "Warum solltest du das tun?"
"Ich liebe dich."
"Aus deinem Mund hört sich das wirklich komisch an, fast wie eine Beleidigung." Ich räuspere mich, das Geständnis hat mich hart getroffen. Vorher hat er das nie gesagt. Niemals, nicht ein Mal in den ganzen zwei Monaten.
"Ich wollte dich nicht beleidigen, Benji. Ich liebe dich. Deshalb werde ich mich auch mit deinem Vater anlegen, solltest du das wollen." Jetzt klingt er sanft, als wolle er mich beruhigen - als hätte er vor, mein inneres Chaos zu beseitigen.
"Das musst du nicht tun." Ich sehe ihn immer noch nicht an, weil ich es einfach nicht aushalten könnte. Stattdessen mustere ich die grauen Häuser in der Umgebung, hinter deren Fenstern hin und wieder Schatten im Licht, das aus den Wohnungen in die Nacht hinaus strahlt, auszumachen sind.
"Aber ich kann und ich werde, denn du bist es wirklich wert."Ich weiß nicht, was er tut, aber aus dem augenwinkel kann ich beobachten, wie er seine Hand hebt. Entweder will er sich wieder an der Nase jucken oder mich anfassen und Letzteres kann ich gerade nicht gebrauchen, auch wenn das Jucken ebenfalls nicht gut für ihn ist.
"Nein, das bin ich definitiv nicht. Ich bin ein schlechter Mensch, dass du das noch nicht gesehen hast, erscheint mir wirklich komisch." Langsam spreche ich die mit Bedacht gewählten Worte aus und hoffe, dass er nichts dagegen sagen kann, das die Mauer meines Widerstandes weiter einreißt.
Natürlich werden meine Hoffnungen wie immer nur enttäuscht. "Du bist kein schlechter Mensch. Dein Vater ist ein schlechter Mensch."
Ich seufze herzzerreißend auf und sehe gequält in seine Richtung, wodurch ich die Vorsicht, die in seinen Augen glänzt, nur allzu deutlich ausmachen kann. "Aber ich habe ihn zu einem schlechten Menschen gemacht." Mein Gesicht verziehe ich zur Unterstützung meiner Worte zu einer Grimasse, die wirklich mitleiderregend zu sein scheint, da Carter in jedem Fall kurz davor ist, mich in den Arm zu nehmen.
Ein Stück von ihm wegrutschend höre ich ein Seufzen von seiner Seite, das alles andere in den Schatten stellt. Wie kann ich ihn nur verletzen? "Das glaube ich dir nicht", erwidert er dann und sieht mich mit plötzlich ernster Miene unter gesenkten Lidern an. Fast fühle ich mich, als würde er mir drohen, bei dem Unterton, der in seinen Worten mitschwingt, aber es ist unmöglich, dass diese eine Drohung sein sollten.
Meine Zweifel meine Idee betreffend halbwegs gut versteckend sage ich so neutral es geht in seine Richtung: "Und das ist mir herzlich egal."
Er schnaubt, aber seine nächsten Worte haben nicht viel mit Abwertung zu tun. "Warum bist du plötzlich so verletzend?" Wieder dieser Schmerz in seinen Augen, der mir jedes Mal ein weiteres Messer in mein Herz rammt.
Auch ich schnaube, muss aber einen Moment lang die Augen schließen, da mir statt des Schnaubens fast ein Keuchen oder gar Schluchzen entwichen wäre. Aber ich rede mir weiter ein, dass es wohl nicht so wehtun wird, wenn ich das Pflaster mit einem Ruck abziehe, wie es das sowieso schon tut. "Wir sind einfach nicht füreinander bestimmt, Carter. Verstehst du das?" Ich sehe ihn flehentlich an und fühle mich augenblicklich wie ein Häufchen Elend. Wie kann ich auch nur darüber nachdenken, das durchzuziehen und es jetzt auch noch wirklich tun?
Seine zwischenzeitich geschlossenen Augen öffnen sich ruckartig und er wirkt, als stünde er kurz vor einem Herzinfarkt. "Nein, ich verstehe es nicht. Warum auf einmal?" Mit vor Entsetzen verzerrtem Gesicht sieht er mich an und es kommt mir fast so vor, als könne ich einen kurzen Moment Ekel in seinen Augen hervorblitzen sehen. Fast so, als wäre er angewidert von mir.
Fast entweicht mir ein Schluchzen. Es wäre so angebracht, wenn er angewidert von mir wäre. Schließlich bin ich selbst es ja auch.
Ich schüttele verzweitelt den Kopf, dann vergrabe ich ihn in meinen Händen, wodurch meine nächsten Worte gedimmt klingen. Das kann aber auch an der Tatsache liegen, dass mein Blut in meinen Ohren rauscht und ich so alles wie durch Watte höre. "Nicht auf einmal. Das war schon immer so und das wussten wir beide, wollten es aber nicht wahr haben." Tief ein- und ausatmend kann ich meine Nackenmuskulatur dazu bewegen, meinen Kopf wieder anzuheben, um Carter ansehen zu können. Ob das eine gute Idee ist, hat in diesem Moment keine Bedeutung für mich.
Sein Blick ist empört, die Augenbrauen hat er in einer stummen Insurrektion zusammengezogen, als wollte er mir nicht ganz glauben. "Das entspricht mit Sicherheit nicht der Wahrheit." Fast hätte ich vergessen, worauf er da eingeht, zu sehr faszinieren mich seine Augen.
Als es mir wieder einfällt, verenge ich meine Augen zu Schlitzen und hätte ihm am liebsten in die Seite gepikt. „Willst du mich jetzt als einen Lügner darstellen?" Nun bin ich derjenige, dem die Entrüstung ins Gesicht geschrieben steht. Auch wenn ich eigentlich nicht wütend auf ihn bin, kann ich es nicht haben, wenn er mich als einen Lügner bezeichnet – wenn auch indirekt.
"Du verdrehst mir die Worte im Mund." Jetzt ist es wieder diese schreckliche Verzweiflung, die sich in seine wunderschönen Augen ätzt, um dort ihr Unwesen zu treiben. Am liebsten hätte ich sie ihm aus dem Gesicht gewischt, aber ich muss mich ja schon dazu überwinden, diese Sache hier durchzuziehen, da kann ich das nicht auch noch tun, das würde alles nur komplizierter machen.
Als ich die Verzweiflung nicht mehr ertragen kann, wende ich mich von ihm ab und rutsche noch ein Stück weg. "Und du solltest jetzt besser gehen." In den Sternenhimmel hinaufstarrend und nicht weiter auf Carter achtend frage ich mich, wie ich so einen wundervollen Menschen wie ihn so sehr verletzen kann.
Ich höre seine Schritte, die sich von mir entfernen und fange wieder an zu weinen. Selbst nachdem ich mir selbst gesagt habe, dass es besser für uns beide ist, kann ich nicht anders. Bitterlich weine ich, weine um Carter, der alles für mich tun würde und den ich jetzt so sehr verletzen musste, weil ich ihn liebe. Weine um meinen Vater, der mir nie das geben konnte, was ich brauchte, sich aber trotzdem mein Erzeuger schimpft. Weine um mich selbst und darum, dass ich jeden vergraule, der versucht, mir Liebe zu schenken.
Kurz nachdem die Schritte verklungen sind, seufze ich laut auf und stöhne dann, während ich mir grob über die Nase fahre. Es ist so ätzend, schwach zu sein.
Wie lange ich da sitze, ohne auch nur einen Muskel zu rühren, kann ich nicht sagen, aber es ist mir völlig egal, als hätte Gleichgültigkeit von jetzt an alles von mir in Besitz genommen und würde mich beherrschen.
Ich blinzele, geschwächt von den vergossenen Tränen, deren fast getrocknete Überreste immer noch auf meiner Haut spürbar sind. Meine Augen müssen gerötet sein; so viel habe ich noch nie geweint, nicht mal, als das mit Dads Alkoholkonsum eskaliert ist und er in die Entzugsklinik musste oder als Mom das Bein hat amputiert bekommen.
Fast hätte sich ein Grinsen auf meine Lippen geschlichen, aber kein freudiges. Nur durch Dad musste ich Carter so verletzen, auch wenn ich von Anfang an wusste, dass er zurückkommen und alles zerstören würde. Ich hätte Carter genauso gut ignorieren können, statt mich in ihn zu verlieben. Wenn ich ihm nicht hinterhergerannt wäre, nach dieser verdammten Geschichtsstunde, dann wäre das alles nie passiert.
Aber ich denke, dann hätte ich auch etwas vermisst. Einen Teil meines Lebens.
Ich will mich hinlegen und einfach hier und jetzt auf dem verdammten Dach, das mich eigentlich viel zu sehr an Carter erinnert, einschlafen. Die letzten Tage haben mich so ausgelaugt und ich habe nur so wenig geschlafen, dass ich jetzt wahrscheinlich sogar auf einem Schlachtfeld schlafen könnte.
Beim Gedanken an die Kriege, die zurzeit auf dieser Welt bestehen und in denen so viele Leute ihr Leben lassen, hätte mich die Hand auf meiner Schulter im Normalfall zusammen fahren lassen, aber ich erschrecke mich nicht, obwohl ich den Besuch nicht erwartet habe und dieser ebenfalls ein verfeindeter Soldat oder sowas sein könnte.
"Ich werde nicht einfach so gehen." Mit diesen Worten zieht Carter mich in seine starken Arme und erst, als ich an seiner Brust zusammenbreche, bemerke ich, wie sehr ich mir das die ganze Zeit gewünscht habe.
"Ich liebe dich auch", flüstere ich leise. Er muss grinsen, das weiß ich, da er es immer tut, wenn ich diese Worte sage. Nur vorher war das 'auch' nicht nötig, da er selbst ja nie ein Ich liebe dich von sich gegeben hat. "Aber wir wissen beide, dass es jetzt vorbei sein muss." Die letzten Worte gehen fast in einem Wimmern unter, aber er muss sie verstanden, da ich ihn tief einatmen höre.
Sein Herzschlag an meinem Ohr wirkt seltsam beruhigend und irgendwie habe ich das Bedürfnis, jetzt sofort und genau hier einzuschlafen. Nicht auf einem Schlachtfeld, sondern in den Armen des Menschen, in dessen Arme ich nun mal gehöre.
"Ja, du hast Recht. Wenn du das beenden willst, kann ich schließlich nichts dagegen sagen." Er streicht durch mein Haar und mir entweicht fast ein Schnurren. "Es ist nur schade, weißt du? Diese zwei Monate mit dir waren die schönste Zeit, die ich bisher in meinem Leben hatte und das nur deinetwegen." Liebevoll sieht er zu mir herunter, dann wird sein Blick neutral. "Aber ich weiß, dass es besser für dich ... für und beide ist, wenn da zwischen uns nichts mehr ist. Oder zumindest nichts, was über Freundschaft hinaus geht." Auch wenn seine Lippen nicht lächeln, strahlen seine Augen, was mich, gepaart mit seinen schrecklich schönen Worten, wieder zum Weinen bringt.
Eine lange Zeit passiert gar nichts, außer, dass Carter mir weiter durch die Gaare fährt und mich einfach nur im Arm hält, als würde er wissen, dass genau das es ist, was ich gerade brauche.
Immer noch weinend schniefe ich: "Danke, Carter." Ich klammere mich fest an seinen Körper und bin mir sicher, dass ich in mir selbst versinken würde, wenn er mich losließe.
"Wofür?", fragt er, Irritation dominiert seine Stimme, aber alles in allem ist sie eher sanft als verwirrt.
"Dass du mein Licht warst."
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