2 | Bis zum Ende haben wir ja uns

Als es klingelt, stürme ich aufgeregt zur Tür, schnappe mir Jacke und Schuhe und rufe eine kurze Verabschiedung Richtung Wohnzimmer, zu meiner Mutter. Diese hat es sich dort vor etwa einer Stunde bequem gemacht - sofern man es sich in einem Rollstuhl bequem machen kann - und schaut irgendeine Komödie.

"Gehst du schon?", fragt sie laut, als ich gerade die Tür öffne, eigentlich um zu Carter nach draußen zu treten.

"Ja?" Das Wort verlässt meinen Mund eher wie eine Frage als wie eine Feststellung, obwohl ich mir in dieser Sache ziemlich sicher bin.

"Wollt ihr nicht lieber hierbleiben?", fragt sie, obwohl mir schon bei ihrer ersten Frage klar war, dass sie darauf hinaus will. Sie muss sich einsam fühlen, seit mein Vater in der Entzugsklinik ist.

Ich winke einen süffisant grinsenden Carter zu mir herein und drücke ihm einen Kuss auf die Wange. Er lacht dagegen lautlos und dreht meinen Kopf zu ihm, um kurz darauf seine Lippen auf meine zu legen.

Wir verharren einige Sekunden in dieser Position, dann zieht Carter sich zurück und lehnt seine Stirn gegen meine. Wir sehen uns in die Augen, eine Weile tun wir nichts anderes als das, bis meine Mutter verwirrt nach mir ruft.

"Bist du schon weg, Benji?" Carter fängt an, zu grinsen und küsst mich dann nochmal, nur um mich anschließend an der Hand ins Wohnzimmer zu führen. Was hat er vor?

Leicht panisch folge ich dem Zug an meiner Hand, als wir jedoch das Wohnzimmer betreten, lässt er meine Hand glücklicherweise wieder los und ich kann einen erleichterten Seufzer nicht zurück halten, was mir irritierte Blicke seitens meiner Mutter einhandelt. Vielleicht liegen diese Blicke aber auch an meinem blauäugigen Freund, der seine Hände in seinen Hosentaschen platziert hat, nachdem er sie von meinem Handgelenk genommen hat.

"Nein, ich bin noch hier. Mom, das ist Carter." Ich weise auf den großen, dunkelhaarigen Jungen, auf dessen Lippen sich immer noch der Hauch eines Grinsens wiederfindet und der meiner Mutter jetzt charmant die Hand reicht.

"Guten Tag, Ma'am." Mit leicht geröteten Wangen sieht sie zu ihm auf und ich kann mein Grinsen nicht zurückhalten. Dieses Bild sieht einfach zu gut aus, als dass ich es nicht mit einem Lächeln hätte quittieren können.

"Oh, bitte, nenn mich Grace." Ihre Augen funkeln, als sie meinen Freund eingehender betrachtet. Dass er mein Freund ist, werde ich ihr jedoch nicht erzählen, einfach, weil es für mich zu früh für ein Outing wäre und Carters Tante auch nichts von der Sache zwischen uns weiß.

"Willst du, dass wir hier bleiben, Mom? Eigentlich wollten wir nämlich noch weg, aber wenn du ..." Ich lasse den Satz unvollendet im Raum stehen und erlange durch das plötzliche Erheben meiner Stimme genug von der Aufmerksamkeit meiner Mutter, dass sie es für nötig hält, mich anzusehen.

"Ja, es wäre schön, wenn ihr wenigstens im Haus bleibt. Geht das? Wenn ihr wollt, könnt ihr später noch raus, aber bald kommt der Postbote und bringt die Medikamente, die ich bestellt habe." Flehentlich sieht sie mich an und kommt dann ein wenig auf mich zugerollt, um meine Hand zu nehmen.

Sanft sehe ich sie an und nicke. "Klar, wir können hierbleiben, wenn es dich glücklich macht." Ruhig lächele ich und werfe einen kurzen Blick zu meinem Freund, der zurückhaltend - ein Adjektiv, das ihn insgesamt ziemlich gut beschreibt - dreinblickt, während er verlegen seinen Blick abwendet. Mir ist schon aufgefallen, dass er mit diesem Umgang zwischen Eltern und ihren Kindern nicht so gut klarkommt und oft überfordert ist, aber das liegt mit Sicherheit an der Abwesenheit seiner Eltern in seiner Kindheit.

Nickend scheucht sie uns aus dem Wohnzimmer und spielt den gestoppten Film weiter ab. Carter und ich dagegen machen uns auf den Weg in mein Zimmer, um uns dort aufs Bett zu legen und zu kuscheln.

Brummende Geräusche steigen aus seiner Brust empor, als ich mich über ihn rolle und er so die Position seiner Arme verändern muss. Tief und schwer atmet er ein und schließlich wieder aus, ehe er seine Hände auf meinem Hintern platziert während ich mich noch ein wenig räkele.

Schaudernd infolge der Tatsache, dass ich ihm durch die Haare streiche, sieht Carter mich eindringlich an, als würde er genau wissen, woran ich so den ganzen Tag denke, ohne in mein Gehirn schauen zu müssen.

"Deinem Vater wird es bald besser gehen. Sobald das der Fall ist, kann auch deine Mutter endlich glücklich sein und das hat sie sich redlich verdient." Auch er streicht mir jetzt durch die Haare, während ich ein fast schnurrendes Geräusch von mir gebe und meinen Kopf auf seiner Brust platziere.

Bei der Geräuschkulisse seines flachen, ruhigen Atems könnte ich fast einschlafen, aber ich kann mich davon abhalten, indem ich kleine Kreise auf seine linke Brust male, was Carter sichtlich zu genießen scheint. Im Gegenzug streicht er mir dafür weiter durch die Haare.

Wir tun eine lange Zeit nichts anderes, als einfach da zu liegen, aber ich denke, dass das uns beiden reicht. Zwischenzeitlich war ich oft kurz davor, einzuschlafen, aber irgendwie habe ich es immer verhindern können. Als es dann klingelt, raffe ich mich auf und gehe zur Tür, um das Paket für meine Mutter entgegen zu nehmen und es ihr ins Wohnzimmer zu bringen.

Ihr strahlendes Gesicht, als ich ihr das Paket in die Hand drücke, werde ich so leicht nicht vergessen – und will es auch überhapt nicht. Schließlich sehe ich sie nicht oft glücklich und noch seltender lächelnd. Dass mein Vater der Schuldtragende ist, würde sie persönlich nicht zugeben, aber ich weiß es besser.

"Wir werden jetzt gehen, ja, Mom? Lange wegbleiben werden wir nicht, aber mach dir bitte keine Sorgen, okay? Wir passen auf uns auf", versuche ich, sie zu beruhigen. Trotzdem zieht sie ihre Stirn in Falten und öffnet bereits den Mund, um mich etwas zu fragen oder mich auf etwas aufmerksam zu machen. "Mein Telefon habe ich dabei, ruf mich an, sollte etwas sein, ich werde das gleiche tun, wenn mir was passiert." Sie schließt den Mund wieder und ich lächele, dann küsse ich ihre Stirn und streichele kurz ihren Rücken.

Wieder zurück in meinem Zimmer, ziehe ich an Carters Hand, damit er aufsteht, was er etwas widerwillig dann auch tut. "Es war gerade so schön", grinst er und drückt mir dann einen Kuss auf die Wange, ehe wir aus meinem Zimmer verschwinden und uns im Flur anziehen. Seine Hand halte ich erst wieder, als wir einige Straßen entfernt von meinem Elternhaus sind, damit meine Mutter nichts mitbekommt.

Zwar ist es anstrengend und kraftraubend, Carter vor meinen Eltern zu verstecken, aber wir haben uns darauf geeinigt, dass wir das tun, bis wir beide bereit sind, uns vor unseren Erziehungsberechtigten zu outen. Es ist besser so, denn wenn wir es nicht wollen, hat das ganze ja auch keinen Sinn.

Wir lächeln uns an und spazieren ein bisschen durch die Weltgeschichte, ehe wir vor 'unserem' Haus landen. Es ist ein altes Herrenhaus, das unabgeschlossen mitten im Wohngebiet der Stadt steht, welches um diese Uhrzeit fast wie leergefegt wirkt. Gefunden haben wir es kurz nachdem wir zusammengekommen sind und so wie jetzt spazieren waren. Es ist uns aufgefallen, da es größer ist, als die umliegenden Häuser und irgendwie eine seltsam mystische Wirkung auf uns hatte und immer noch hat.

Besonders an dem Haus ist – abgesehen von den Erinnerungen, die mit ihm einhergehen –, dass man ganz leicht auf das Dach kommt und von dort aus in klaren Nächten die Sterne beobachten kann. Eine Tätigkeit, die Carter und ich schon mehr als einmal ausgeführt haben.

Ganz am Anfang haben wir noch davon geträumt, es irgendwann zu kaufen und restaurieren zu lassen, aber jetzt erstmal geben wir uns mit dem zufrieden, was wir haben.

Schleunigst betreten wir das Haus und gehen die imposante Treppe nach oben, ehe wir eine weitere Treppe zum Dachboden nehmen. Von dort aus führt eine, leicht klapprig ausshende Leiter auf das Dach, auf dem wir es uns gemütlich machen. Vor ein paar Wochen noch haben wir uns jede Nacht hier getroffen und einfach nur da gelegen oder über Gott und die Welt geredet.

Auch jetzt müssen zwei Stunden vergehen, in denen wir schweigend den Sonnenuntergang und den Aufgang des Mondes beobachten und die sich wie ein einzelner Wimpernschlag anfühlen. Vielleicht waren es aber auch nur wenige Minuten, die sich wie Stunden hingezogen haben.

Als Carter mich küsst, atme ich aus und umfasse seinen Nacken. Er liegt mit seinem Kopf zu mir, seine Beine hat er aber in die gegenüberliegende Richtung meiner eigenen platziert. Wir starren uns gegenseitig auf die Münder, zwischendurch erbarmen wir uns aber auch mal dazu, uns wirklich anzusehen.

Infolge dessen, dass ich, genau wie Carter, auf der Seite liege und sich ein Stein, der auf dem Flachdach des Hauses seinen Platz gefunden hat, die ganze Zeit in meine Seite bohrt, als suche er Öl, drehe ich mich auf den Rücken, um dem Stein auszuweichen, was Carter sich auf den Bauch drehen lässt, sodass er mich von oben betrachten kann.

Seinen Körper hat er auf seine kräftigen Unterarme gestützt, wodurch es ihm jetzt unmöglich ist, seine Hände zu benutzen, ohne in sich zusammenzubrechen. Schade eigentlich.

Ich lache, als er seine Unterarme gegen seine Handflächen austauscht und so in den Liegestütz geht, nur, um mich besser küssen zu können. Vor lachen kann ich seinen Kuss zuerst nicht erwidern, aber als er kurz davor ist, sich zurückzuziehen, kriege ich mich wieder ein und erwidere seinen Kuss, indem ich meinen Nacken ein wenig anhebe und seinen mithilfe meiner Händer zu mir herunterziehe.

Als wir uns voneinander lösen, dominiert das Luftschnappen und zwischenzeitliche Keuchen die Luft um uns herum. Ich höre Stoff rascheln, als Carter sich ebenfalls auf den Rücken dreht und wir so Kopf an Kopf auf dem Dach liegen, die Beine angewinkelt, die Hände neben unseren Köpfen verschränkt.

Schweigend, so wie die ganze Zeit schon, starren wir also in dem Himmel, an dem sich die Sterne schon breitgemacht haben und so die Wolken, die den ganzen Tag schon vor der Sonne hingen, vertrieben haben. Carter hat mir erzählt, dass klare Nächte meistens kälter sind, da die Wolken die warme Luft am Austreten aus unserer Atmosphäre hindern und ohne Wolken diese Luft nun mal kein Hindernis durchqueren muss, um ins All zu verschwinden.

Zuerst wollte ich ihm das nicht glauben, aber jetzt bemerke ich, wie schnell sich die Luft abgekühlt hat, seit die Wolken abgezogen sind, was nicht daran liegen kann, dass die Sonne untergegangen ist.

Aber es ist ja auch nicht weiter wichtig, dass es kalt ist. Ich mag einfach den Anblick, des  Mondlichtes über uns, welches mich dazu inspiriert, aufzustehen und wilde Bewegungen zu machen – wahrscheinlich versuche ich, irgendwie zu tanzen, obwohl ich das überhaupt nicht kann.

„Was machst du da?" Die ersten Worte, die seit Stunden gesprochen wurden, werden von seinem Lachen begleitet, das lauter wird, als er zu mir aufsieht. Außerdem ist es echt und allein dafür könnte ich ihn küssen.

„Wonach sieht's denn aus?" Auch ich lache und schnappe mir seine Handgelenke, um ihn hochzuziehen. Wenn auch widerwillig steht er keine Minute später neben mir, statt immer noch auf dem Boden zu liegen, wie wir es zuvor getan haben.

„Als wärst du ein kleines Kind, das damit angibt, dass es Laufen gelernt hat." Das nächste Lachen wirkt kehlig und rau und er zieht mich in seine Arme, um mir in die Augen sehen zu können. Ich beiße mir auf die Lippe und sehe unter gesenkten Lidern zu ihm auf.

„Du bist fies." Ich löse meine Zähne von meiner Unterlippe und mache einen Schmollmund, dann lache ich jedoch wieder und habe das Gefühl, dieses Lachen würde an den umliegenden Häusern abprallen und zurückkommen.

„Das stimmt wahrscheinlich." Unsere Nasen sind lediglich wenige Millimeter voneinander entfernt und unser Atem beginnt, sich zu vermischen. Sein gewöhnlicher Geruch nach Wald und einem Hauch von Deodorant wird vom Rauch, der in der Luft hängt, fast überdeckt, aber da ich ihn so gut kenne, bemerke ich fast nur seinen Duft.

„Meinst du, dass wir für immer zusammen bleiben werden?", stelle ich eine zufällige Frage, die schon eine längere Zeit durch meinen Kopf irrt. Er wird mir nicht antworten, da bin ich mir sicher, schließlich habe ich ihn nicht auf die Frage vorbereitet. Aber das ist vollkommen okay, denn eigentlich ging es mir nur darum, diesen Gedanken mit ihm zu teilen.

Wir starren uns immer noch an und der regelmäßige Atem, den wir ausstoßen, unterstreicht die minutenlange Stille, die zwischen uns herrscht und die auf meine Frage folgt.

Carter streicht abwesend durch meine Haare und lässt sich dann langsam wieder auf den Boden sinken, ich mit ihm. Jetzt sehen wir uns nicht mehr an, sondern starren irgendwo hin. An einem Ort weit, weit weg von Madison - weit weg von meinem Vater und anderen Problemen.

Wir unterbrechen weder unsere Blicke noch unseren regelmäßigen Atem, sondern lauschen einfach nur der Stille, die uns wie eine Blase umgibt, während wir in die Luft starren, unter uns der Nebel in den Straßen dieser gottverdammten Stadt, über uns die Sterne in all ihrer Pracht.

"Am Ende sind wir eben immer mit uns selbst allein." Carter sieht mich nicht an, aber seine Worte gelten eindeutig mir. Ich habe nicht erwartet, dass er mir noch antwortet, deshalb überrascht mich das umso mehr.

"Was ..." Seine Hand greift nach meiner und er zieht mich an der Schulter auf seine Brust.

"Aber bis zum Ende haben wir ja uns." Sein Mund auf meinem überfordert mich, aber ich erwidere den Kuss fast sofort. Zusätzlich dazu verschränke ich noch unsere Hände ineinander und bin nun offiziell der glücklichste Mensch in der Geschichte.

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