1 | Hunderte Jahre Geschichte und wir
Wenn Lehrer von uns erwarten, nach der Mittagspause in der dritten Einheit noch konzentriert zu sein, haben sie sich gewaltig geirrt.
An sich ist Geschichte kein schlechtes Fach. Aber welcher endbescheuerte Mensch packt es neuen High-School-Schülern bitte auf einen Mittwoch, wo die ganze Motivation schon längst dahin ist, in die dritte Einheit?
Wenigstens ist unser Lehrer, Mister Castell, ein halbwegs sozialer Mensch und lässt keine zu schweren Aufgaben lösen.
Stattdessen sollen wir mit unserem Banknachbarn - Jason ist heute krank, also werde ich wohl wem anders zugeteilt - über Ereignisse in der Vergangenheit reden, die wir im Geschichtsunterricht besprechen wollen oder von denen wir schon gehört haben und über die wir dann auch etwas erklären können.
Suchend sehe ich mich um; drei weitere Leute haben keinen Sitznachbarn.
"Quinn, dann gehst du zu Josephine und Carter, du gehst zu Benji", teilt Mister Castell uns auf. Quinn, ein blondes, großgewachsenes Mädchen, steht auf und der Raum scheint schlagartig kleiner zu werden. Sie ist größer als die meisten aus dem Jahrgang, überragt sogar viele der Jungen und schämt sich dann oft dafür.
Doch der dunkelhaarige Junge hinter ihr, den ich noch nicht so gut kenne, da ich kaum Kurse mit ihm habe, ist definitiv mindestens fünf Zentimeter größer als sie.
Als er sich auf den freien Platz neben mir setzt, scheint seine Aura mich zu umgeben - schrecklich finster, aber auf ihre eigene Art wunderschön.
Sein Blick wandert durch den Raum und er scheint sich erst einmal an die neue Aussicht gewöhnen zu müssen.
Irgendwann, nach der gefühlten Ewigkeit von dreißig Sekunden, sehen seine stechend blau-grauen Augen mich an und schlagartig wird mir mulmig zumute.
Der Blick, den er mir zuwirft, ist nicht kalt, die Farbe seiner Augen nicht eisig und doch überkommt mich ein unbeschreibliches Gefühl. Als würde ich von innen heraus erfrieren, nur, um im nächsten Moment wieder aufzutauen und direkt danach zu schmelzen.
Kurz darauf haften seine Augen auf einem leeren Blatt Papier vor meiner Nase, das ich beschreiben werde, sofern er sich dazu herablässt, ein Wort mit mir zu wechseln.
Verstohlen sehe ich mich um und stelle fest, dass alle anderen Arbeitsgruppen bereits fleißig dabei sind, zu argumentieren, zusammenzutragen, zu diskutieren und zu appellieren.
Nur wir beide sitzen da und schweigen uns an, als sei das die Aufgabe.
Abwartend sehe ich in seine Richtung, aber er beobachtet immer noch das Blatt. "Carter?", traue ich mich irgendwann, ihn anzusprechen.
Er scheint mich gar nicht wahrzunehmen, denn selbst als ich seinen Namen das zweite Mal wiederholt habe, sieht er mich nicht an.
Deshalb zücke ich einen Stift und schreibe das Blatt mit geschichtlichen Ereignissen voll, die Carter mit kritischem Blick mustert.
"Die Unabhängigkeitserklärung war aber vor dem Bürgerkrieg", erklärt er mir, als wüsste das nicht jedes Kind. Dabei sieht er nicht einmal mehr lange auf das Blatt, sondern scheint seine Fingernägel plötzlich viel interessanter zu finden.
"Ich habe das ja auch nicht nach Daten geordnet, sondern einfach nur aufgeschrieben, was es zu besprechen gäbe. Aber du kannst froh sein, dass ich das überhaupt gemacht habe, da du dich ja nicht dazu bereiterklärt hast, deinen Mund zu öffnen und sinnvolle Worte zu formulieren." Finster sehe ich ihn an, er jedoch verzieht keine Miene.
Warum genau wundert mich das nicht einmal?
Plötzlich, aber mit sofortiger Wirkung, bin ich einfach nur genervt von ihm, dabei haben wir nicht viele Wörter miteinander gewechselt.
Er kratzt sich an der Nase, scheint dann etwas zu bemerken und sieht mich an – sieht mich wirklich an, statt die ganze Zeit nur durch mich hindurch zu blicken, was schon verdammt gruselig ist.
„Tut mir leid, ich wollte nicht fies sein. Ehrlichgesagt habe ich es einfach nur gern chronologisch." Er bringt ein schiefes Lächeln zustande, dann nimmt er mir den Stift aus der Hand und dreht das Blatt zu sich.
Als ich ihn irritiert ansehe, meint er, ohne aufzusehen: „Ich übernehme von jetzt an das Schreiben." Keine Frage, einfach nur eine ganz simple Feststellung, die mich trotzdem vollkommen aus dem Konzept bringt.
Mein Nicken ist er unfähig zu bemerken - außer vielleicht anhand des kurzen Stoffraschelns -, deshalb reagiert er wahrscheinlich auch nicht darauf, sondern befugt sich stattdessen mithilfe des Bleistiftes dazu, auf das linierte Papier zu schreiben.
Sieben Ereignisse der amerikanischen Geschichte folgen, fünf davon sind mir bekannt. Aus welchem Schulbuch er die anderen beiden gezogen hat, ist mir ungewiss, aber ich bin ja auch kein Geschichtslehrer, der das alles wissen muss.
Als die Stunde vorbei ist, bringt Carter das Blatt nach vorn, wahrscheinlich besprechen wir die Ereignisse nächste Stunde. Dann geht er, seinen Rucksack links geschultert, aus der Tür.
Ich kann schnell genug reagieren und packe noch meine Federtasche ein, ehe ich ihm schnellen Schrittes hinterher laufe, um auch nur halbwegs mit ihm mitzuhalten. Da er längere Beine hat, macht er nämlich auch größere Schritte, was dann dazu führt, dass ich fast schon einen Sprint hinlegen muss, um hinter ihm her zu kommen.
Warum ich das tue, vermag in den Sternen zu stehen, vielleicht bin ich einfach völlig fasziniert von ihm - oder von einem Dämon besessen, beides ist nicht sonderlich abwegig.
Als ich ihn eingeholt habe, geht er gerade den oberen Treppenabsatz zum Schülerparkplatz der Älteren herunter, wahrscheinlich, um zu den Bushaltestellen zu gelangen.
Ich nehme den kompletten Absatz mit einem Sprung - fünf Stufen sind noch nicht ganz so gewagt - und lande ein wenig taumelnd neben Carter, was diesen, die Augenbrauen in die Höhe gezogen, zu mir sehen lässt.
Dann weiten sich seine Nasenflügel und er schließt einen kurzen Moment die Augen, ehe er weiter läuft. Als er nach links zu den Bushaltestellen abbiegt, folge ich ihm.
"Carter", murmele ich heiser, als er gerade wieder verschwinden will. Meinetwegen macht er jedoch auf dem Absatz kehrt und sieht mich wieder an.
"Was ist los?" Die Worte klingen fürsorglicher, als ich verkraften kann und ein kleiner Stich im Magen lässt mich kaum merklich zusammen fahren. Ich hatte erwartet, er wäre genervt von mir oder wütend, dass er wegen mir seinen Bus verpasst. Aber weder das eine, noch das andere passiert, stattdessen scheint sein forschender Blick mir tief in die Seele zu blicken - tiefer, als jemals jemand in meine Seele gesehen hat.
Ohne darüber nachzudenken, wispere ich: "Geh mit mir aus."
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Zitternd vor Nervosität sitze ich ein paar Tage später in einem ortsansässigen Café und warte auf Carter, mit dem ich mich in einer halben Stunde verabredet habe.
Irgendwie hege ich die Hoffnung, er wäre ein ähnlich fanatischer Zu-Früh-Kommer, wie ich, während ich meinen zweiten Milchshake in zwei Zügen leere und gebannt auf die Tür starre - was ich bereits seit geraumer Zeit tue.
Dass Carter dem Ganzen hier überhaupt zugestimmt hat, ist schon ein wahnsinniges Ding, aber dass das jetzt alles so schnell passiert, ist noch surrealistischer, da ich ihn schließlich im weitesten Sinne um ein Date gebeten habe, das er nur zu gerne bereit war, zu veranstalten.
Noch während ich diesen Gedankengang zu Ende führe, ertönt die Klingel über der Tür und Carter tritt ein, gekleidet mit einem grauen Kapuzenpullover und einer relativ eng liegenden schwarzen Jeans. Ich würde fast wetten, dass mir sogar der Atem gestockt hätte, wenn er in Lumpen aufgekreuzt wäre, aber da er in diesen Sachen so schon – wirklich – sexy aussieht, ist meine Reaktion klar.
Kurz fährt er sich durch die dunklen Haare, als er mich dann jedoch erblickt, sieht er ein wenig irritiert auf die Uhr an seinem Handgelenk, kommt dann aber leicht grinsend auf mich zu. Ich glaube, dass ich ihn noch nicht einmal lächeln gesehen habe in der Zeit, seit der ich ihn nun schon kenne und jetzt würde ich ihn gern dafür verklagen, dass er nicht schon früher gelächelt hat.
"Hey", lächele ich und räuspere mich dann, nur um kurz darauf unruhig umher zu rutschen, da es mir jetzt als eine weniger gute Idee erscheint, ihn eingeladen zu haben. Ein wenig zu spät, wie mir einen Moment später auffällt. Bis vor zwanzig Minuten hätte ich noch kneifen können, auch wenn das ziemlich mies ihm gegenüber gewesen wäre, schließlich war ich ja derjenige, der ihn eingeladen hat.
Als würde er meine Gedankengänge unterbrechen und mich vom zu vielen Nachdenken abhalten wollen, setzt er sich hin, wodurch ich ein wenig ruhiger werde und mein eher grimassenartiges Lächeln endlich in ein echtes verwandeln kann.
"Hallo." Sein Grinsen verstreicht nicht und seine Mundpartie wirkt irgendwie fast ... weich, anders als in Geschichte. "Musstest du lange warten?", schiebt er seiner vorangestellten Begrüßung hinterher, als wäre er eine halbe Stunde zu spät gekommen und nicht eine viertel Stunde zu früh - so, wie das eigentlich der Fall ist.
Ich winke ab, statt auf seine Frage zu antworten und tausche mit einem Kellner kurze Blicke aus, woraufhin er zu uns kommt, damit Carter seine Bestellung aufgeben kann. Seine Augen wandern rasch zu mir und er bestellt einen Milchshake, wahrscheinlich, weil ich auch einen genommen habe.
Der junge Mann verschwindet wieder und Carter schnappt sich eine Speisekarte aus dem Halter, der in der Tischmitte steht. Er studiert jedes Gericht zuzüglich der Zutaten und wirkt dabei so konzentriert, als würde er eine Klausur schreiben. In einer unbewussten Geste beißt er sich auf die Unterlippe und hält mir dann die Karte hin, sein Finger auf dem Abbild eines Gerichtes befindlich.
"Was hältst du davon?", fragt er und ihn scheint meine Meinung wirklich zu interessieren. Da ich diese Tatsache weder von Zuhause noch von sonst irgendwo gewohnt bin, muss ich erstmal damit zurechtkommen, bevor ich ihm antworten kann.
Nachdem ich meine Fassungslosigkeit weitestgehend überwunden habe, sehe ich mir das Bild des Nachtisches an. Er ist in einem kleinen Schälchen zubereitet worden und sieht von der Konsistenz her aus, wie Götterspeise, farblich ist er jedoch sehr an Vollmilchschokolade angelehnt.
"Sieht gut aus", bringe ich hervor und lächele ihn an, was er erwidert. Dann stützt er seine Unterarme auf die Tischkante und lehnt sich ein wenig zu mir. Seine Augen absorbieren das Licht, das von der Deckenlampe aus zu uns herunter geworfen wird und reflektieren es schließlich, sodass die Illusion entsteht, sie würden glitzern. Beim genaueren Betrachten seiner Augen fällt mir auf, was für eine schöne Farbe sie haben: Dunkelblau mit silbernen Sprenkeln – zumindest jetzt im Licht –, wodurch sie fast aussehen, wie funkelnde Saphire.
Auch ich lehne mich jetzt zu ihm vor und es beginnt unabgesprochen ein Starr-Wettbewerb. Worum es geht, wissen wir wahrscheinlich beide nicht genau, aber das Grinsen, das sich auf unser beider Lippen abzeichnet, scheint Zeichen genug für den Spaß zu sein, den wir bei diesem Match haben.
Ein Glas gefüllt mit Milchshake, das direkt in unsere Blickfelder gestellt wird, beendet unsere Starrerei und wir werden beide losgelöst von den Augen des anderen. Der Kellner will schon fast verschwinden, aber Carter macht ihm mit wenigen Worten klar, dass er gern einen von diesen Nachtischen hätte.
In der zu wartenden Zeit wechseln wir kaum Worte, sondern sehen uns stattdessen einfach nur an. Es ist, als würden wir schweigend kommunizieren und es gefällt mir sehr, wie glücklich ihn das zu machen scheint – und nicht nur ihn, sondern auch mich selbst.
Er lässt das Lächeln auf meinen Lippen echt werden, das schon so lange nur eine Hülle war.
Als der Nachtisch kam, waren Carters Augen immer noch auf mich fixiert, was den Kellner, wie ich aus dem Augenwinkel beobachten kann, irritiert zwischen uns hin und her blicken lässt. Dann verschwindet er, als hätte er nie existiert.
Ohne sich von mir abzuwenden, schnappt Carter sich den bereitliegenden Löffel und nimmt sich ein wenig von dem götterspeiseartigen Schokoladendessert. Das darauffolgende Stöhnen gepaart mit dem Schließen seiner Augen, lässt mich meine überrascht aufreißen. Ich hatte nicht erwartet, dass dieses unscheinbare Dessert eine solche Geschmacksexplosion bei ihm hervorrufen könnte.
"Ich werde heiraten", verkündet er, seine Augen immer noch geschlossen. Als er sie öffnet, starrt er nach unten auf das kleine Schälchen. "Das schmeckt so gut. Ich fühle mich high. Sind meine Pupillen groß?" So viele Worte habe ich ihn aneinandergereiht noch nie sprechen hören, deshalb bin ich kurz verwirrt, ehe ich ihn genauer betrachten kann.
"Du bist nicht high, Carter." Ich lache, greife den Löffel, der zufälligerweise einen Weg zu meinen Platz gefunden hat und will ihm das Schälchen aus der Hand nehmen. Er jedoch zieht es näher zu sich, sodass ich nicht mehr herankomme und sieht mich halb grinsend, halb wütend an.
"Wolltest du gerade meinen Ehemann essen?" Mit zusammengekniffenen Augenbrauen stiert er mich an, bis wir beide in Gelächter ausbrechen.
Froh darüber, dass er mein winziges Grinsen beim Wort 'Ehemann' nicht gesehen hat, seufze ich auf und genieße den Abend mit meinem zukünftigen Freund.
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