Clementines Geschenk
In der Nacht vom dreiundzwanzigsten auf den vierundzwanzigsten Dezember war Schnee gefallen und hatte die Dächer der altehrwürdigen Häuser Oxfords mit einer ansehnlichen, weißen Schicht versehen. Und auch jetzt tanzten dichte Flocken durch die graublaue Dunkelheit.
Mortimer saß am Fenster und beobachtete die Straße, auf der gelegentlich noch eine Droschke mit den Gästen eines Weihnachtsempfangs oder heimkehrenden Familienmitgliedern vorbeizog. Der Alltagsverkehr hatte die weiße Schicht auf den Pflastersteinen größtenteils zu einem hässlichen, graubraunen Matsch werden lassen, doch in den Pfützen spiegelte sich der goldene Schimmer der Gaslaternen und auch aus den Fenstern der Nachbarhäuser drang sanfter Lichterschein.
Mortimer hoffte sehr, dass der Schnee liegen bleiben und den baldigen Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts versilbern würde, aber das war vermutlich unrealistisch. Dennoch erfüllte die Vorstellung von weißer Weihnacht das Herz des alten Mannes mit einer kindlichen Freude.
Ein wehmütiges Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, als er den Schneemann betrachtete, den seine Enkelkinder im Vorgarten gebaut hatten - hauptsächlich Florences wegen, die mit ihren fünf Jahren noch zu klein war, um ganz alleine einen zu bauen. Die anderen fühlten sich für derlei bereits zu erwachsen und waren heute außerdem ganz und gar nicht zu Kinderspielen aufgelegt.
Überhaupt wollte im Hause Crawford in diesem Jahr kaum Festtagsstimmung aufkommen. Mortimer hätte zwar Stein und Bein geschworen, dass er Evangeline und Emily, die Dienstmädchen, leise in der Küche hatte singen hören, aber sie vermochten die erdrückende Stille in den mit Stechpalmzweigen geschmückten Hallen kaum zu durchbrechen. Selbst jetzt, da sich die Kinder und Enkel im Wohnzimmer um Kamin und Tannenbaum geschart hatten, war die Stimmung betrübt.
Auch ihm schnürte sich die Kehle zu, als seine Gedanken zu Clementine, seiner lieben Ehefrau, schweiften.
Sie hatte geglaubt, dass sie stark genug wäre, das Weihnachtsdiner wie von langer Hand geplant, - wenn auch in kleinerem Rahmen - durchführen zu können. Jedoch hatte sie feststellen müssen, dass sie es nicht ertrug, all die Lichter, Geschenke und Leute um sich zu haben, und sich daher in ihr Zimmer zurückgezogen, wo sie nun saß und weinte.
Mortimer konnte es ihr kaum verdenken. Das Einzige, was schlimmer als ein Todesfall in der Familie war, war ein Todesfall in der Familie fünf Tage vor Weihnachten, wenn doch alle Welt zusammenkommen und gemeinsam fröhlich sein sollte.
Daher hatte man die stillschweigende Übereinkunft getroffen, Clementine nicht mehr als notwendig zu behelligen, obwohl es ihnen allen schwerfiel.
„Warum kommt Großmutter nicht zu uns?", beschwerte sich Florence, die mit einem Bilderbuch auf den Knien neben ihm auf der breiten Fensterbank saß. „Ich hab Hunger ..."
„Weißt du, Schätzchen, deine Großmutter ist sehr traurig und möchte darum niemanden sehen. Dabei sollte sie gerade jetzt eigentlich nicht alleine sein ... ", versuchte Mortimer, das Problem zu erklären, doch er fürchtete, dass der Tod ein noch zu abstraktes Konzept für ein so kleines Kind war. Es war ja sogar für ihn ein sehr abstraktes Konzept, dabei hatte er sich Zeit seines Lebens mit Geistern und somit auch mit dem Sterben auseinander gesetzt.
Florence sprang von der Fensterbank.
„Ich gehe jetzt und hole Großmutter Wenn wir alle zusammen feiern, ist sie bestimmt nicht mehr traurig!", verkündete sie so laut, dass alle Anwesenden im Wohnzimmer sie hören konnten.
Anne, ihre Mutter, stand auf und nahm Florence auf den Arm.
„Nein", sagte sie sanft, aber bestimmt, und strich ihrer Tochter die dunklen Haare aus dem Gesicht. „Lass Sie in Ruhe, Liebes. Wenn du Hunger hast, geh und frag Evangeline, ob sie dir etwas herrichtet."
„Ich will aber mit Großmutter am schönen Tisch sitzen!", protestierte das Kind.
„Lass Florence doch gehen, Anne", meinte Mortimers Sohn James und legte seiner Frau die Hand auf die Schulter. „Mutter wird es bestimmt gut tun, etwas unter Leute zu kommen, und sei es nur zum Essen. Sie sitzt schon viel zu lange alleine da oben."
„Großvater findet es auch nicht gut, dass sie so traurig und alleine ist!", stimmte Florence ihrem Vater zu.
Anne runzelte überrascht die Stirn, doch bevor sie etwas sagen konnte, hob James ihre Tochter aus ihren Armen und stellte sie auf den Boden.
„Na, wenn Großvater sagt, dass es in Ordnung ist, dann wird es wohl so sein, nicht wahr?", meinte er lächelnd. „Wir machen es so: Du gehst und holst Großmutter und ich sage Evangeline und Emily, dass sie das Abendessen auftragen können. Abgemacht?"
„Abgemacht!" Florence nickte und streckte ihrem Vater die Hand entgegen, die er schmunzelnd schüttelte.
„Aber wenn sie nicht herunterkommen will, dann lässt du sie in Ruhe, verstanden?", warf Anne ein.
„Ich nehme Großvater mit! Dann kommt sie bestimmt!", rief Florence, während sie schon zur Treppe rannte.
Mortimer folgte ihr nach oben und tätschelte dem alten, ausgestopften Beutelwolf, der auf einem kleinen Podest im Flur stand, den Kopf, als er an ihm vorbei ging.
„Nicht anfassen!", rief Florence mit Entsetzen. „Der ist gefährlich!"
Mortimer lachte.
„Ach was, der ist nicht gefährlich, Florence. Er ist doch schon lange tot. Und außerdem ist das ein Wachwolf", erklärte er mit gewichtiger Miene. „Wie ein Wachhund, der ein Haus vor Einbrechern und anderen Bösewichten beschützt."
Florence legte den Kopf schief.
„Aber wenn er schon tot ist, dann kann er doch nichts mehr machen ...", stellte sie dann fest.
Mortimer war entzückt über die Schlussfolgerung seiner Enkelin.
„Ja", sagte er bedächtig, „aber der Wolf beschützt das Haus ja nicht vor normalen Übeltätern, sondern vor bösen Geistern. Da hilft es nämlich, wenn man selber auch tot ist."
„Ach so ..." Florence verschränkte die Arme und nickte verstehend. Dann machte sie einige vorsichtige Schritte auf das Tier zu und tätschelte seinen Hals. Aus dem sandfarbenen Fell stieg eine leichte Staubwolke auf.
„Du musst ganz gut auf Großmutter aufpassen, hörst du?", sagte sie dann mit einem ernsten Ausdruck in ihren großen, grünen Augen.
„Das wird er ganz bestimmt und ich bin ja auch noch da, um ihm zu helfen", sagte Mortimer lächelnd. „Na komm, wir wollen sehen, ob deine Großmutter schon fertig ist."
Die Spuren der Tränen auf Clementines Wangen waren noch gut sichtbar, als Florence die schwere Schlafzimmertüre mit Hilfe ihres Großvaters öffnete.
„Großmutter!", rief das Mädchen und rannte lachend auf sie zu.
Clementine rang sich ein Lächeln ab.
„Hallo, Florence, mein Schatz", sagte sie und nahm das Kind in die Arme.
Mortimer betrachtete seine Frau mit einem liebevollen Blick. Er war erleichtert, zu sehen, dass sie zwar auf Schmuck verzichtet, jedoch, statt eines Trauerkleides mit Schleier, die pfauenblaue Abendrobe gewählt hatte, die sie nach langem hin und her für das Weihnachtsessen hatte nähen lassen. Obwohl Clementines Haar mit der Zeit grau und ihr Gesicht faltig geworden war, brachte ihr der elegante Farbton einen Hauch von Jugend zurück und ließ ihre trüben, grüngrauen Augen hinter der kleinen, goldenen Brille erneut mädchenhaft strahlen.
Sanft beugte er sich vor und hauchte einen Kuss auf ihre feuchte Wange.
„Du siehst wundervoll aus, mein Schatz", murmelte er.
Die restlichen Familienmitglieder hatten sich inzwischen an die reich gedeckte Festtagstafel gesetzt.
„Weißt du, James, ich finde, du hättest Florence noch einmal erklären müssen, dass ihr Großvater gestorben ist. Wir können sie schließlich nicht einfach machen lassen, was sie will, nur weil sie behauptet, Mortimer gäbe ihr Recht ...", meinte Anne mit einem besorgten Gesichtsausdruck. „Das tut er schließlich nicht. So hart es auch klingt: Er ist tot."
„So, wie ich meinen Vater kenne, wird er sich nicht einmal von seinem eigenen Tod davon abhalten lassen, mit der Familie Weihnachten zu feiern", sagte James und lachte. „Du weißt doch, er hat sich mit solchen Dingen beschäftigt. Wenn es also irgendeine Möglichkeit gibt, dass er noch da ist, dann wird er sie gewiss genutzt haben. Vielleicht sieht Florence in ihrer kindlichen Unschuld einfach noch mehr als wir Erwachsenen."
Anne wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment trat ihre Schwiegermutter ins Esszimmer, die kleine Florence an der Hand.
„Geh und setz dich hin, Schätzchen", sagte Clementine zu dem Mädchen, das sogleich zu dem freien Stuhl zwischen ihrem Vater und ihrer ältesten Cousine Bethany eilte. Clementine selbst blieb am Kopfende des Tisches stehen.
„Bevor wir essen, ist es, denke ich, angebracht, dass ich ein paar Worte sage", begann sie mit etwas zitternder Stimme und tat einen tiefen Atemzug. „Bestimmt wundert ihr euch über diese Aufmachung, in der ich heute hier erscheine. Ich gebe zu, es ist unorthodox; manche würden vielleicht sogar sagen, es sei respektlos und skandalös, sich so herauszuputzen, wo man sich doch nach dem Tod des Ehemannes bedeckt halten soll. Aber wie ihr wisst, ist mein Morty immer ein lebenslustiger Mann gewesen und hätte nicht gewollt, dass ich hier in Trauerkleid und Schleier erscheine; es ist schließlich ein Weihnachtsdiner und keine Beerdigung.
Ich bin mir sicher, er hätte gewollt, dass wir zu Weihnachten fröhlich sind, auch wenn er keinen Teil mehr daran haben kann. Also lasst uns unseren Kummer für eine Weile bei Seite schieben, gemeinsam feiern und dankbar sein für uns alle, die wir noch daran teilhaben können."
Mit diesen Worten setzte sie sich und gab damit das Zeichen, dass das Festmahl beginnen könnte.
Mortimer machte es sich indes wieder auf der Fensterbank gemütlich.
Dieses letzte Weihnachtsessen war fast genauso geworden, wie er es sich gewünscht hatte.
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