Broken (22)


Er hatte die Geschichte bisher nie vollständig erzählt. Nicht seine ganze. Gewisse Dinge über das Aufwachsen in diesem Anwesen, in dieser Hölle, hätte er erwähnen sollen. Damit man verstand, warum er so war, wie er eben war.
Punkt eins. Als er neun Jahre alt war, es war ein Jahr nach Tag X gewesen, hatte ihm Edawn ein Stück Haut von seinem Arm geschnitten, um zu testen, ob seine Gestaltwandlerfähigkeiten auch Wunden verschwinden ließ. Er hatte sich nicht in eine andere Gestalt getraut, weil seine Mutter gesagt hatte, er dürfe es niemals wieder tun ohne nicht hundertprozentig sicher zu sein, dass niemand ihn sah. Daraufhin wurde er in den Keller gesperrt. Mit einer Wunde die anfing zu Eitern.
Punkt zwei. Als er elf Jahre alt war, zerrte ihn ein Angestellter des Anwesens auf das Dach des Gebäudes und sagte er solle sich verwandeln. Er hatte es nicht getan. Der Angestellte schubste ihn die Kante runter und hätte er sich nicht festgehalten, wäre er nun tot. Der Typ band seine Hände an die Dachrinne und ließ ihn da oben einen ganzen Tag hängen. Schmerz war kein Wort für das Ausmaß dessen, was er gespürt hatte.
Punkt drei. Als er Vierzehn war und die Schwester von Edawn Achtzehn, hatte sie ihn in ihr Zimmer gelockt, wo er an ihr Bett gefesselt wurde. Über diese Nacht sprach er nicht, er dachte nicht einmal daran. Es waren grauenvolle Dinge geschehen. In dieser Dunkelheit dachte er, Sterben wäre eine Umarmung, ein Trost, Schönheit und Freiheit zugleich. Doch er starb nicht. Nicht an diesem Tag und auch nicht am Nächsten.
Und darum erzählte er diese Geschichten niemandem. Sie betonten, dass er gebrochen war. Das er ein zersplittertes Glas in einer "heilen" Welt war.
Ein Niemand.

Seine Pfoten trugen ihn zurück zur Schule. Die Angreifer waren verschwunden und man begann die Verletzten zur Krankenstation zu bringen. Es sah so aus, als wäre niemand gestorben, was dem Geparden gerade etwas Luft zum Atmen gab. Niemand war tot. Ein gutes Zeichen. Aber auch ein schlechtes, denn die Gegner waren alle verschwunden. Und sie würden wiederkommen. Die staunenden und teils beängstigenden Blicke zogen nicht an dem Schwarzhaarigen vorbei. Ein Nachteil des Gestaltwandelns war, dass Klamotten einem nicht erhalten blieben. Demzufolge musste er erstmal neue Sachen auftreiben, bevor er sich irgendwem zeigte. Das erfolgte in einem relativ zügigen Tempo, weswegen sich alle Nicht-Verletzten in der Cafeteria versammelten.
"Alter, was ist das für ne krasse Kriegsbemalung?", begrüßte ihn Changkyun an der Tür. Jimin und die Rektorin, sowie Yoongi und Taehyung drehten sich zu ihm. Der Rest der Fae starrte eh schon. Jungkook zog fragend eine Braue hoch und fasste sich ans Kinn. Als er seinen Finger betrachtete, fiel ihm die Rotfärbung sofort auf. Im Glas der Tür spiegelte sich sein Gesicht wieder und ihm stockte der Atem. Sein ganzer Hals bis zur seiner Nasenspitze war voller getrocknetem Blut.
Heilige Scheiße.
"Am besten du gehst dich noch schnell waschen", sagte Frau Park nüchtern und gefasst. Der Schwarzhaarige war nur zum Nicken fähig, dann drehte er sich um und suchte das Bad auf. Wie konnte er das krustige Blut nicht fühlen? Anderseits schlich sich eine obszöne Frage in seinen Kopf. Hatte Edawn seine abgebissene Hand mitgenommen oder lag sie noch da? Bedenken schlichen sich in seinen Kopf. Was hielten die anderen davon, dass er Edawns Hand so brutal abgeschlachtet hatte? Oder hatten sie es nicht mitbekommen? Verachteten sie ihn? Ängstigte er sie? Diese Gedanken spielten eine erhebliche Rolle, als er sich zurück zu den anderen begab.
Doch etwas anderes zog seine Aufmerksamkeit auf sich, nachdem er den Raum betreten hatte. Jetzt waren es deutlich mehr Fae. Einige Lehrer standen oder saßen an einem Tisch. Er stellte sich neben Yoongi, direkt gegenüber von Jimin, der neben der Rektorin stand. Er starrte ihm in die Augen.
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz. Jetzt verstand er, warum er seit seiner Halbverwandlung dieses wohlig warme Gefühl in der Nähe des orangehaarigen Faes verspürte. Jetzt ergab die Nettigkeit von ihm einen Sinn. Die Nacht im Tempel, als Jimin mit ihm tanzen wollte, um sich etwas klarzuwerden. Er wusste es vor ihm. Er hatte es vor ihm gespürt. Und scheinbar akzeptiert. Jungkook begann zu schwanken. Sein Körper handelte von selbst.
"Alles okay?", hörte er Yoongi fragen, welcher seinen Oberarm festhielt. Die Blicke waren erneut auf ihn gerichtet. Jedoch hatte er nur Augen für Jimin. Innerlich suchte er nach einem Anker für seine Gedanken, etwas, womit er sich jenseits der Geschehnisse beschäftigen konnte. Jenseits der Erkenntnis, die er gerade hatte.
Jimin war sein Manacara. Sein Seelenverwandter.
Der Orangehaarige kam auf ihn zu. Jungkook hingegen übergab sich auf seine Füße. Wieder einmal.
"Das wird hier langsam zur Gewohnheit oder?", fragte Taehyung scherzhaft, aber das drang nicht zu Jungkook durch. Er drehte sich um und rannte davon. Wie er es jedes Mal tat. Wegrennen war für ihn ein Allheilmittel, obwohl er tief in seinem Inneren wusste, dass er vor seinem Schicksal nicht wegrennen konnte.

Irgendwann kam er zum Stehen. Der Brach floss in einem gemächlichen Tempo vor sich hin. Ein Tempo das sein Körper gar nicht kannte. Sein Herz schrie die ganze Zeit nach Jimin, aber sein Verstand wollte nur seine Ruhe haben. Die letzten Tage war so viel passiert. Selbst Schlaf konnte seine Erschöpfung nicht mindern. Der Brand, eine Verwandlung vor der Schule, der Angriff, die Verletzten, seine Erinnerungen, Edawn. Alles schien über ihm zusammenzubrechen. Er wünschte Sunmi wäre hier. Sie hätte einen Plan.
"Du liebst es dich zu verstecken, oder?"
Jungkook fuhr herum. Jin und Yoongi standen mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen drei Meter von ihm entfernt. Man sollte meinen, als Gestaltwandler hätte man gute Ohren, was teilweise auch stimmte, aber wenn der Schwarzhaarige in seinen Gedanken war, wurde die Welt zu Luft.
"Was wollt ihr hier?"
"Ach weißt du, der, um den es bei der Versammlung geht, ist abgehauen und wir suchen ihn jetzt", erklärte der blonde Fae sarkastisch, während die beiden zu ihm kamen und sich neben ihn setzten. Entschuldigend blickte er sie an. Manchmal waren seine Worte schneller als die Gedanken.
"Er ist dein Manacara, stimmt's?", fragte Jin geradewegs heraus und starrte in seine Augen. Blickkontakt war etwas, worin Jungkook wirklich schlecht war. Er konnte dem nicht standhalten. Nicht solchen observierenden Augen.
Zaghaft nickte er.
"Das ist doch großartig. Warum bist du dann so niedergeschlagen?"
Jungkook fing an und unterbrach sich. Er konnte es sich nicht erklären. Und dann brannten Tränen in seinen Augen. Jin nahm ihn in den Arm. Es war ein angenehmes Gefühl. Ein Gefühl, was er vermisste. Yoongi tätschelte sein Bein.
"Jimin dachte früher, Hoon-jae wäre sein Manacara und dann ist er gestorben. Grauenvoll war gar kein Ausdruck für das Ausmaß an Jimins Schmerz", erklärte der Blondschopf und starrte auf das ruhige Wasser. Jungkook schniefte nur noch und setzte sich wieder aufrecht hin.
"Letztendlich ist diese Beziehung zum Scheitern verurteilt. Er ist unsterblich und ich habe die Lebensspanne eines vielleicht Hundertjährigen. Er wird jung bleiben, während ich älter und älter werde. Und dabei hilft auch das Gestaltwandeln nicht."
Er machte eine Pause, um Luft zu holen.
"Denn mit den Jahren verlieren ich meine Kräfte."
Ein paar Minuten herrschte Schweigen.
"Und was, wenn nicht? Was wäre, wenn ihr zusammenkommt? Glücklich seid? Mehr als nur liebt? Was wäre, wenn alles funktionieren würde?", fragte Jin.
"Genau. Was wäre, wenn ihr beide gemeinsam kleine Jimin und Jungkook Babys bekommt?", grinste Yoongi.
Der Gestaltwandler wischte sich über die Nase und kicherte.
"Babys? Ernsthaft?"
Daraufhin verfielen sie in lautes Gelächter.

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Tja, Taehyung hat Recht. So langsam wird es zur Gewohnheit, dass Jungkook sich immer auf Jimin erbricht. XD

Wisst ihr wie viele Male es schon waren?

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Erin🌸

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