Verlangen

Wie gestern sitzen wir zusammen auf dem Sofa, doch diesmal ist die Atmosphäre wesentlich entspannter.

Nayjuan erzählt mir von sich, seinem einsamen Leben.
Lesen und Schreiben und alles, was er sonst noch so weiß, was eigentlich in einer Schule gelehrt wird, hat er irgendwie aus dem Internet gelernt.
Ich bewundere ihn für seine Kraft und Stärke, das alles alleine durchzustehen.
Die Höhle, die er sein Haus nennt, hat er selbst entdeckt und eingerichtet.

Nay scheint immer noch nicht ganz überzeugt davon, dass ich nicht den Bastard in ihm sehe, den er selbst dort erkennt.
Doch wie könnte ich ihn dafür verachten, er trägt keine Schuld.
Nay trägt so viel Gutes in sich, was er selbst gar nicht zu sehen vermag.

"Du hast dich die ganze Zeit so zurückgehalten, weil du Angst hattest, ich würde es bereuen, Zeit mit dir verbracht zu haben, wenn ich irgendwann von deinen Eltern und allem erfahren würde, oder?", frage ich vorsichtig.

Nay greift nach einer losen Haarsträhne und spielt damit herum. Es kommt mir vor, als wäre das total selbstverständlich.

"Ja. Du willst nicht wissen, was für Vorwürfe ich mir gemacht habe, nachdem ich dich gestern geküsst habe."
Er bedenkt mich mit einem schiefen Grinsen.

"Ich bereue es nicht, dich so lange bedrängt zu haben, bis du es getan hast", meine ich und sehe auf meine Hände, da ich es nicht wage, ihn anzusehen.
"Du hättest dir keine Gedanken machen brauchen."

"Das hätte ich nie gedacht", flüstert er leise und sieht mich nachdenklich an.

Ich strecke meine Hand aus und berühre ihn vorsichtig am Arm, als sich sein Gesicht plötzlich verzerrt.
Sofort ziehe ich meine Hand zurück. "Was ist los?"

Hab ich irgendwas falsch gemacht?

Ein beruhigendes Lächeln huscht über Nays Gesicht, als er mich so erschrocken sieht.
"Nichts schlimmes. Es ist nur so, dass mein Wolf sich ein bisschen vernachlässigt vorkommt.
Mehrere Jahre lang hatte fast einzig er deine Aufmerksamkeit und jetzt ist er ein wenig eifersüchtig.
Das hört sich ein wenig komisch an", grinst er, "aber ich kann das auch nicht besser erklären. Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich...."
Nay scheint kein passendes Wort einzufallen.

Ich grinse nur und nicke ihm zu, woraufhin Nayjuan aus dem Zimmer verschwindet.
Wahrscheinlich zieht er sich im Bad aus.

Sekunden später schiebt sich sein Wolfskopf durch den Türspalt ins Wohnzimmer herein und ich hocke mich auf den Boden, damit Nay nicht aus Versehen mit seinen Krallen das Sofa zerkratzt.

Es will immer noch nicht ganz in meinen Kopf, dass Nayjuan und der Wolf ein und dieselbe Person sind - das Nayjuan der Wolf, mein Wolf ist.

Jetzt kommt er schwanzwedelnd auf mich zu und ich muss lachen, als ich ihn umarme.
Ich habe ihn so lieb.

Tief sauge ich seinen Geruch ein, der nicht nur nach Tier riecht.
Als ich seine Zunge an meinem Hals spüre, muss ich schon wieder lachen und weiche zurück.
Sie war rau und hat gekitzelt.

"Nay!"
Sanft streiche ich ihm über den Kopf und er schließt die Augen.

Erneut kann ich nicht anders und muss ihn umarmen.
Er reibt seinen Kopf an meinem Hals und lässt sich meine Umarmung seit Monaten, vielleicht sogar Jahren, endlich wieder gefallen.

Schließlich weicht Nay zurück und tapst wieder zur Tür hinaus.
Ich setze mich aufs Sofa und warte auf ihn.

Als er als Mensch wieder hereinkommt, sind seine Haare total verwuschelt und ich grinse.
"Alles wieder gut?"

Nay nickt lächelnd und in meinem Bauch breitet sich Wärme aus.

"Was kannst du als Mensch eigentlich alles, was du als Wolf auch kannst?", frage ich interessiert, während er sich dicht neben mich setzt, so als bräuchte er meine Nähe.
Das wollte ich ihn schon seit einiger Zeit fragen.

"Deine Augen sind dieselben und dein Fell-, beziehungsweise deine Haarfarbe.
Aber hast du als Mensch auch irgendwelche... Wolfskräfte?"

Nay grinst mich an.
"Ich bin sehr schnell."

Ich muss daran zurückdenken, wie er gestern so schnell verschwunden ist, nachdem ich ihn nach draußen begleitet habe und nicke.

"Außerdem habe ich einen ziemlich feinen Geruchssinn. Ich bin gut im Klettern - auch wenn das eigentlich nicht unbedingt zu den Eigenschaften von Wölfen gehört, aber ich kann es. Und natürlich habe ich mein gutes Aussehen weder als Wolf noch als Mensch verloren", meint er und zwinkert mir zu.

"Isst du als Mensch auch nur Fleisch?"

Nayjuan schüttelt den Kopf.
"Nicht immer, aber meistens schon. Ich mag Grünzeug nicht. Alles andere geht ab und zu. Aber Fleisch ist mir doch am liebsten."

"Wenn du könntest - würdest du normal sein wollen?"
Ich weiß, dass das eine sehr schwierige Frage ist.

Als ein merkwürdiger Schatten über Nays Gesicht huscht, wird mir klar, dass ich mich wahrscheinlich falsch ausgedrückt habe.
Ich will nicht, dass er denkt, ich halte in für "unnormal" und "abartig", weil ihm dabei bestimmt nicht in den Sinn kommt, dass ich es positiv meine und bewundernswert finde.

"Ich meine, wenn du einfach ein Mensch sein könntest, hier bei uns in der Gesellschaft leben könntest, auf dir nicht die Bürde läge, dass dein Vater ein Tierschänder gewesen ist - würdest du dein Teilleben als Wolf dafür tauschen?"

Ich hoffe, dass er nein sagt.
Ich hoffe wirklich, dass er sich selbst immerhin soweit gern hat, dass er nicht einen Teil seiner selbst hergeben würde, nur um "normal" zu sein.

Nayjuan beißt sich auf die Unterlippe und scheint kurz nachzudenken, doch er schüttelt recht schnell den Kopf. "Nein", sagt er langsam.
"Du hättest mich andersrum fragen sollen."

Es fühlt sich an, als hätte er mich von sich weggestoßen.
"Du würdest...?"

"Ich würde mein Teilleben als Mensch für ein echtes Leben als Wolf eintauschen."

"Warum?"
Ich kann nichts daran ändern, dass ich verletzt klinge.

Mich trifft Nays erstaunter Blick.
"Warum nicht? Die ganzen Komplikationen zwischen uns gibt - gab - es erst, nachdem ich dir gezeigt habe, dass nicht nur der Wolf in mir steckt. Mit meinem Wolfsteil bist du bedingungslos klargekommen. Außerdem verabscheue ich den menschlichen Part meiner Eltern.
Ich lebe im Wald, wie ein Wolf, es ist viel einfacher, dort Fuß zu fassen, als in der Welt der Menschen.
Warum sollte ich mich also nicht von meinem menschlichen Teil trennen, wenn ich nur die Möglichkeit hätte?"

Nun, ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie ich es ihm klarmachen soll.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Letztendlich tue ich das Einzige, was mir einfällt, und was ich schon wieder tun wollte, seitdem ich ihn heute unverletzt im Wald habe auftauchen sehen.

Ich beuge mich zu Nay und küsse ihn.

Eigentlich sollte es ein kurzer Kuss werden, damit ich das, was ich dann sagen wollte, nicht vergesse, doch mein Vorhaben fällt schnell in sich zusammen.

Als sich unsere Lippen berühren, entfährt Nay ein überraschter Laut, als hätte er so gar nicht damit gerechnet.
Doch dann erwidert er den Kuss und umschlingt mich mit seinen Armen. Ich fühle mich so geborgen bei ihm wie bei niemandem sonst.

Er sucht mit den Augen meinen Blick und die intensive Zuneigung, die ich in seinen silbernen Augen sehe, lässt mich innerlich erglühen.
Ich liebe seine Augen, dieses silberne Funkeln, den silbernen Fluss, in dem ich ertrinken möchte, genauso wie in seinem Geruch.
Ich liebe diese Mischung aus Wald, Mann und einfach etwas ihm eigenen.
Dabei denke ich immer an Freiheit.

Nays Küsse schmecken genauso himmlisch, am liebsten würde ich mich nie mehr von ihm lösen.
Als seine Zunge in meinen Mund schlüpft und meine berührt, durchfährt ein Stromstoß meinen kompletten Körper und das Verlangen nach ihm überschwemmt mich komplett.

Ich spüre, wie Nay seine Hand tief in meinen Haaren vergräbt und meinen Kopf noch näher zu sich zieht und mir entfährt ein leises Stöhnen, dass Nay zum Schmunzeln bringt.
Er sieht so unbeschreiblich schön aus in diesem Augenblick.
Einen Moment lang gestehe ich es mir noch zu, mich in Nay zu verlieren, dann löse ich mich von ihm, obwohl es mir schwerfällt.

Er sieht mich aus großen Augen an, ich komme mir vor, als würde ich in flüssigem Silber schwimmen.
Seine Wangen sind leicht gerötet und er sieht zum Niederknien aus.

"Das könnten wir nie haben, wenn du deinen menschlichen Teil aufgeben würdest", hauche ich ein wenig atemlos.

Nays Augen halten mich gefangen, als er langsam die Hand hebt und seine schönen schlanken Finger in meinen Nacken legt, um mich wieder an sich zu ziehen.

Er lässt sich rücklings aufs Sofa fallen und ich falle mit ihm, auf ihn, seine starken Arme halten mich fest.
Ich sehe in Nays silbernen Augen wie sehr er meine Gegenwart genießt.

Spielerisch winde ich mich in seinen Armen und versuche, mich zu befreien, doch natürlich habe ich keine Chance, er ist viel stärker als ich.

Das erinnert mich sehr an die Zeit, in der wir früher immer so gespielt haben - bevor er diesbezüglich etwas vorsichtiger geworden ist und sich immer wieder einfach zurückgezogen hat, wenn wir miteinander gerangelt haben.
Ich streiche Nay unter seinem glühenden Blick eine Haarsträhne hinters Ohr und beschließe, ihn danach zu fragen.

"Kannst du mir sagen, warum du das in den letzten Jahren nicht mehr wolltest?"

Mich trifft sein fragender Blick, er scheint noch nicht zu wissen, worauf ich hinaus will.

"Wenn du als Wolf mit mir gespielt hast und ich mich auf dich gestürzt habe", ich muss schmunzeln bei dem Gedanken, "oder wenn ich dich umarmt habe, dann hast du dich immer in meinen Armen versteift, bis ich dich wieder losgelassen habe."

Jetzt huscht ein wissender Ausdruck über Nayjuans Gesicht.
"Ah, das meinst du."

Bilde ich mir das nur ein oder sieht er ein wenig verlegen aus?

"Jaaa...", meint er gedehnt.
"Es ist nicht so, als dass ich es nicht gewollt hätte."

"Sondern?"

Jetzt bin ich neugierig.
Seine Wangen färben sich tatsächlich leicht rot.

"Tja... Ich bin zwar nur Halbzeit Mensch aber Vollzeit Mann.
Du wirkst als Wolf nicht viel anders auf mich als auf Mensch.
Du rufst die selben Gefühle... das selbe Verlangen hervor.
Früher war das ja noch eher freundschaftlich, alles, was ich für dich empfunden habe, aber in den letzen Jahren ist mein Verlangen nach mehr immer größer geworden....
Ich habe mich immer so gefreut wenn du auf mich zu gesprungen bist, über die kleinen Rangeleien und wenn du mich umarmt hast... dabei hast du mich gestreichelt, ich war dir so nah....
Wie schwer es mir fiel, ein Wolf zu bleiben, obwohl ich deine Berührungen auch auf meinem menschlichen Körper indirekt überall spürte.
Ich habe deine Berührungen so sehr genossen aber irgendwann ist das Verlangen und die ganzen Gefühle einfach zu viel geworden und ich musste mich vor dir zurückziehen, damit du aufhörst.
Denn meinst du nicht, es wäre ein wenig schockierend für dich geworden, wenn ich als Wolf auf einmal mit einem Ständer vor dir stünde?"

Meine Augen weiten sich, als ich ihn ansehe.
Er liegt immer noch unter mir und sieht mich mit einem schiefen Grinsen im Gesicht an.

"Damit hätte ich jetzt nicht gerechnet", sage ich und muss ebenfalls lächeln.
"Ich dachte immer, ich hätte irgendwas falsch gemacht."

"Zu viel richtig", murmelt Nay und sieht mich versunken an.

Seine Arme liegen locker auf meinem Rücken und ich sehe die Chance für mich gekommen, mich zu befreien. Ein bisschen Spaß zu haben.
Wie früher.

Abrupt drehe ich mich zur Seite, gleichzeitig schwinge ich meine Beine auf den Boden und stoße mich vom Sofa und Nays Körper ab, dann ergreife ich lachend die Flucht.
Ich wage es nicht, mich umzusehen, Nay wird ohnehin schon dicht hinter mir sein - überraschend, dass ich überhaupt schnell genug war, um ihm zu entkommen.

"Na warte, ich krieg dich!"

Nun sehe ich doch zurück und wäre fast über die Stufen die Treppe nach oben gestolpert.
Kreischend vor Lachen renne ich nach oben und warte darauf, dass Nay oben ankommt.
Kaum setzt er den ersten Fuß auf dem Boden auf, springe ich triumphierend aufs Geländer und rutsche mit Schwung die Treppe nach unten.

Das hat mir als kleines Kind schon so viel Spaß gemacht - und mindestens genauso viele Ermahnungen meiner Mutter eingebracht.
Lachend rutsche ich auf dem glatten Holz nach unten, doch mein Glaube, mir etwas Vorsprung verschafft zu haben, wird zu Nichte gemacht, als Nay sich plötzlich mit einem Hechtsprung auf mich stürzt und ich vom Geländer kippe.

Ich bin zwar schon unten an der Treppe angekommen, doch trotzdem wird der Aufprall hart werden, schätze ich, während ich erschrocken aufschreie.

Aber anstatt mir auf dem Fußboden blaue Flecken zu holen lande ich auf Nay, der es irgendwie geschafft hat, sich im Sprung so zu drehen, dass er eher aufkommt als ich und ich direkt auf ihm lande.
Für einen kurzen Augenblick bleibt mir trotzdem die Luft weg.
Mein Teilzeitwolf hat aber auch eine stählerne Brust.

Sofort schlingen sich seine Arme um meinen Körper, diesmal darauf bedacht, mich nicht mehr loszulassen.

Das hätte ich gestern auch nicht gedacht, dass ich heute in Nayjuans Armen am Fuße unserer Treppe vor der Haustür liege.

Ich drehe mich in Nays Armen um.
Er ist offensichtlich nicht gewillt, wieder aufzustehen, geschweige denn, mich aufstehen zu lassen und scheint sich nicht daran zu stören, dass wir mitten im Flur rumliegen.

Stattdessen sieht er mich nur an und lächelt.
Seine silbernen Augen strahlen vor Glück, Freude und Zuneigung.
Und mir geht es nicht anders.
Ich bin so froh, ihn zu haben.

Der Moment zwischen uns wird jäh zerstört, als es an der Tür klingelt.

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Hi - es geht mal wieder weiter😉

Mir kam so ein Gedanke😅
Falls ihr Ideen habt, wie Nay aussieht  und ihr Lust habt ein Bild, Foto oder sonst was zu ihm zu entwerfen - ob als Menschen oder als Wolf, ganz wie ihr wollt - könnt ihr mir sowas gerne schicken, dann würd ich die als Bild oben bei den einzelnen Kapiteln einstellen😊😊
Fänd ich voll cool❤

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