Sieben Jahre zuvor
Ich war mal wieder im nahe gelegenen Wald unterwegs, als ich ihm das erste Mal begegnete.
Naja, eigentlich begegnete ich ihm nicht wirklich - er fand mich, in einer seiner Fallen im Baum hängend.
Ich war gerade 10 Jahre alt geworden und hatte kürzlich damit begonnen, den Wald neben unserem Dorf auf eigene Faust zu erkunden.
Zu dieser Zeit begleitete mich meine beste Freundin Mila noch manchmal, doch meistens war es ihr im Wald einfach zu langweilig und ich mochte es ohnehin lieber, wenn ich die Ruhe des Waldes alleine genießen konnte - sobald ich mit Mila zusammen dort war, konnte man nicht mehr von Ruhe sprechen.
Ich machte mir einen Spaß daraus, immer wieder neue, mir unbekannte Wege einzuschlagen, um dann später irgendwie zurück zum Dorf zu finden.
Mein Orientierungssinn ist gut, weshalb ich es bis zu diesem Tag auch immer geschafft hatte, ohne größere Probleme zurück zu mir bekanntem Terrain zu finden.
Nun, wie gesagt, an diesem Tag - mittlerweile ist er schon sieben Jahre her - verlief ich mich.
Der Waldabschnitt, in dem ich mich bewegte, war dunkler als die, in die ich mich normalerweise hinein traute.
Aber ich war 10 Jahre alt geworden. Mein Alter war jetzt zweistellig.
Ich war jetzt mutiger. Dachte ich.
Also schluckte ich meine Angst hinunter und lief mit trotzig erhobenem Kopf den Weg entlang.
Naja, es war nicht wirklich ein Weg. Immer wieder musste ich mich durch Sträucher kämpfen, mich unter tief hängenden Ästen hindurch ducken und über am Boden liegende Baumstämme klettern.
Schon allein das bildete einen Kontrast zu den Waldwegen, die ich normalerweise erkundete.
Diese waren meistens ziemlich ausgetreten - ein Zeichen dafür, dass auch andere Dorfbewohner sie nutzten.
Ich bahnte mir also einen Weg durch das Dickicht und versuchte, mir immer wieder Mut zuzusprechen, als ich plötzlich durch ein Geräusch in meiner Nähe aufgeschreckt wurde und blindlings losrannte.
Mein Blick huschte über meine Umgebung und es kam mir vor, als würden mir die Bäume immer näher kommen und mich unter ihren mächtigen Blätterkronen begraben wollen.
So sehr ich auch versucht hatte, mir meine Angst auszureden, die Schreckhaftigkeit war geblieben, keine Frage.
Mein Herz rutschte mir in die Hose und ich bekam richtig Panik, als sich plötzlich unter mir und um mich etwas bewegte, doch ich hatte noch nicht mal die Zeit, aufzuschreien.
In Sekundenschnelle zog mich die Netzfalle, die ich durchs Hineinrennen aktiviert hatte, nach oben, und das nächste, was ich realisierte, war, dass ich meterweit über dem Waldboden in einer Baumkrone hing.
Mein Atem ging schnell und ließ sich nicht beruhigen, während ich mich immer wieder fragte, was das war.
Aus unserem Dorf stellte keiner hier Fallen auf - irgendwie wäre das zu mir durchgedrungen, da war ich mir sicher.
Ich war mir meiner misslichen Lage durchaus bewusst und fragte mich, wer - wenn überhaupt - mich hier finden und herunterholen würde.
Immerhin hing ich nicht in einer vollkommen verdrehten Position in dem Netz.
Es war eher so, als hätte ich mich hingesetzt und wäre dann in die Baumkrone hochgezogen worden, nur mein eines Bein war irgendwie unter meinem Körper eingeklemmt.
Ich räusperte mich und begann um Hilfe zu rufen.
Doch ich hatte noch nie eine sonderlich laute Stimme besessen und so war meine Hoffnung, dass mich hier, weit entfernt vom Dorf, mitten im Wald, irgendjemand hören würde, ziemlich gering.
Angst und Panik durchfluteten mich. Ich barg mein Gesicht in den Händen und begann zu schluchzen.
Nun machte ich mir doch Vorwürfe, immer wieder allein in den Wald gegangen zu sein und nie irgendjemandem Bescheid gegeben zu haben.
Mila würde zwar ahnen, dass ich im Wald bin, doch sie würde eher auf den ausgetretenen Wegen suchen. Dass ich diesmal etwas neues ausprobieren wollte, hatte ich ihr nicht gesagt.
~ ❤️ ~
Ich weiß nicht mehr, wie lange mein 10-jähriges Ich im Baum hängend ausharren musste.
Irgendwann hörte ich einen Pfiff.
Ich zuckte zusammen und schaute verängstigt nach unten.
Ich konnte nicht viel erkennen, trotzdem rief ich noch einmal um Hilfe in der Hoffnung, dass der jemand da unten mich hören und befreien würde.
Eine Zeit lang blieb es still und nichts geschah.
Ich sah wieder nach unten, doch da war niemand mehr.
Gerade als ich mich wieder in Hoffnungslosigkeit verlieren wollte, durchfuhr mich ein Ruck, als das Netz plötzlich ein paar Meter nach unten rauschte, bevor es wieder abrupt stockte.
Mir entfuhr ein heiserer Schrei.
Es ging noch einige Male so weiter, bis ich schließlich unsanft auf dem Boden landete.
Umständlich stand ich auf und befreite mich aus dem Netz.
Als ich meinen Blick dann wieder hob, sah ich ihm direkt in die Augen.
Sie sahen aus, als wären sie aus flüssigem Silber gegossen.
Ich blinzelte ein paar Mal, dann registrierte ich, wer da vor mir stand. Mein Retter.
Er hatte mich befreit.
Und "er" war ein Junge, etwas älter als ich.
Die erste Frage, die mir kam, war, was er denn so alleine hier machte.
"Meinst du nicht, ein "Danke" wäre angebracht?"
Seine Stimme klang kühl und jagte mir einen Schauer über den Rücken.
"D-danke", stotterte ich.
Abschätzig zog er eine Augenbraue hoch.
Ich fragte mich, warum er sich schon so erwachsen benahm.
Irgendetwas in mir drängte mich dazu, ein Gespräch aufzubauen.
Also räusperte ich mich.
"Wie heißt du?"
Wieder zog er seine rechte Augenbraue hoch.
"Wüsste nicht, was dich das angeht."
Ich wusste nicht, warum, aber seine Worte verletzten mich.
Trotzig wandte ich mich ab.
"Dann halt nicht. Ich gehe jetzt."
Schnurstracks stapfte ich los, merkte jedoch schon nach einigen Schritten, dass ich keine Ahnung hatte, wo ich langgehen musste.
Ich blieb stehen und überlegte.
Sollte ich einfach loslaufen, um mich höchstwahrscheinlich noch weiter zu verlaufen oder meinen Stolz hinunterschlucken und ihn nach dem Weg fragen?
Seufzend drehte ich mich schließlich um.
Als ich sein selbstgefälliges Grinsen sah, musste ich mich zusammenreißen, um nicht doch einfach loszulaufen.
"Weißt du, wie ich heimkomme?"
Mir fiel ein, dass er nicht wusste, wo ich wohnte. "Ich wohne..."
Doch er lies mich nicht mal aussprechen. "Komm mit."
Er lief voraus und sagte die ganze Zeit über kein Wort. Das fand ich sehr schade, denn schon damals liebte ich seine Stimme, auch wenn sie noch eher die eines Kindes war als die eines Mannes.
Ich vertrieb mir die Zeit damit, ihn genau anzuschauen.
Mir fiel seine außergewöhnliche Haarfarbe auf. Pechschwarz, mit grauen Strähnen durchzogen.
Ich fragte mich, wie ein Junge schon graue Haare haben konnte. Opa hatte graue Haare, aber doch nicht ein Kind.
Aber dieses Grau war anders als das von Opa oder alten Leuten.
Ich lief ein bisschen schneller um einen genaueren Blick darauf werfen zu können und bemerkte, dass das Schwarz nicht von Grau, sondern von Silber durchzogen wurde.
Im nächsten Moment prallte ich gegen seinen breiten Rücken, denn er war stehen geblieben.
Ärgerlich drehte er sich um und sah mich aus seinen silbernen Augen an. "Was schaust du so?"
Ich konnte meine Frage nicht unterdrücken.
"Bist du ein Prinz aus einem Märchen? Oder ein Fabelwesen?"
Kurz sah ich etwas in seinem Blick aufblitzen, dann wandte er sich ab und lachte verächtlich.
Ich fragte mich, warum er so gemein zu mir war.
Er sah mich kurz an, dann wies er mit dem Kopf an sich vorbei.
"Wir sind da."
Ich linste um ihn herum und sah tatsächlich die Häuser meines Dorfes, die von hier aus wie Spielzeughäuser aussahen.
"Hey, Kleine."
Es störte mich, dass er mich so nannte, ich war doch gar nicht so viel kleiner als er.
"Geh nicht mehr in den Wald."
"Warum sollte ich auf dich hören? Der Wald gehört niemandem, auch nicht dir. Ich habe genauso das Recht, ihn zu betreten, wie du", gab ich mit kindlichem Trotz zurück.
Ein Funken Erstaunen blitzte in seinen silbernen Augen auf.
"Dann halt dich wenigstens in der Nähe des Dorfes auf, auf Wegen, die du kennst und die sicher sind. Ich will dich nicht schon wieder retten müssen."
Wieder musterte er mich abfällig.
Ich nickte und wusste gleichzeitig, dass ich mich nicht daran halten würde.
Er kniff die Augen zusammen und nickte.
"Mach's gut, Kleine."
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Hi😊
Ich hoffe, die Geschichte gefällt euch - auch wenn bisher ja noch nicht so viel passiert ist, aber ich fand es wichtig, auch zu schreiben, wie Nay und Jara sich kennengelernt haben.
Ab Teil 5 beginnt die Geschichte dann richtig :)
Ich würde mich sehr über Kommentare, Anmerkungen etc. freuen, um zu wissen, worauf ich in Zukunft vielleicht achten sollte oder eben einfach zu wissen, wie ihr's so findet.
Viel Spaß beim Lesen :D
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