Nay - gefällt mir
Gegen halb drei Uhr morgens habe ich mich dann doch noch mal hingelegt und ein paar Stündchen geschlafen.
Mein Wecker klingelt um fünf Uhr.
Trotz des wenigen Schlafs bin ich sofort hellwach.
Nayjuan.
Ich kann nicht bis heute Nachmittag warten, ich muss noch vor der Schule nachsehen, ob es ihm gut geht.
Ich dusche schnell, ziehe mich an und haste mit einer Scheibe Toast und meinem Haustürschlüssel nach draußen.
Leise muss ich dabei nicht unbedingt sein, meine Eltern sind beide schon auf der Arbeit.
Dann renne ich durch die kalte Morgenluft in den Wald.
Ich habe vergessen, eine Jacke anzuziehen, nach dem Unwetter in der Nacht hat es abgekühlt.
Doch zurück will ich nicht mehr, die Ungewissheit um Nayjuan quält mich und ist schlimmer als die Kälte.
Vorsichtig blicke ich mich um.
Ich habe nicht vor, bis zu unserem - ehemaligen - Treffpunkt zu laufen.
Es ist immer noch gefährlich hier.
Letztes Jahr, bei einem ähnlichen Sturm, kam ein älterer Mann tags darauf ums Leben, weil er von einem Baum erschlagen wurde, der noch in den Baumkronen benachbarter Bäume hing und sich löste, als der Mann vorbeimarschierte.
Als man ihn schließlich fand, war es bereits zu spät.
"Nayjuan!"
Ich gehe vorsichtig weiter, während meine Sorge wächst.
Ich hätte ihn gestern nicht gehen lassen dürfen. Es hat doch alles auf einen nahenden Sturm hingedeutet.
"Nayjuan!"
Warum hat er so einen langen Namen?
Ach, scheiß drauf.
Wenn er mich dafür anmeckert, dass ich seinen Namen abkürze, habe ich ihn immerhin gefunden.
"Nay!"
Ich stapfe weiter.
Er meinte, er würde es hören, wenn ich im Wald stünde und nach ihm rufen würde.
"Nay!"
Ich horche.
"NAY!"
Er antwortet nicht.
"Nayjuan!"
Nichts.
"Nay!"
Was, wenn auch er von einem Baum erschlagen wurde?
"Nay!"
Meine Stimme ist mittlerweile zu einem Brüllen angeschwollen.
"Nay!"
"Hey, alles okay, mir geht's gut, Jara."
Nayjuan kommt - als Mensch - durch das Gebüsch auf mich zu und hebt beschwichtigend die Hände.
Ich liebe es, wie er meinen Namen ausspricht, schießt es mir durch den Kopf und ich wische den Gedanken schnell weg.
Die Freude, dass es ihm gut geht, übermannt mich und ich kann nicht anders als auf ihn zu zurennen und ihn zu umarmen.
Zu meiner Überraschung erwidert er die Umarmung.
Ich hatte erwartet, dass er sich in meinen Armen versteifen oder mich wegstoßen würde.
Er ist so unberechenbar.
Ich schmiege mich in seine Arme und genieße den Moment - wer weiß, wie schnell Nayjuan sich wieder dazu herablassen wird, mich zu umarmen.
"'Nay' also?", flüstert er.
Ich werde rot, was er zum Glück nicht sehen kann und warte, dass er weiterspricht, warte auf die Standpauke.
"Gefällt mir."
Verwundert drücke ich mich mit den Händen an seiner Brust ein Stück von ihm weg, um ihm ins Gesicht sehen zu können.
"Wirklich?"
Nay lächelt. "Ja. Warum denn nicht?"
Ich zucke mit den Schultern und muss wohl etwas ratlos aussehen, denn er lacht.
Dann löst er seine Arme von mir, tritt einen Schritt zurück und fährt sich mit einer Hand durch die Haare.
Sofort fehlt mir seine Nähe, seine Wärme, und mir wird wieder bewusst, dass ich vergessen habe, eine Jacke anzuziehen.
Nay trägt auch keine, doch er scheint nicht zu frieren.
Er trägt heute ein dunkelgraues T-Shirt und schwarze, ausgefranste Jeans.
Die Löcher darin waren vermutlich nicht beim Kauf vorhanden und gewollt, wie bei den meisten Leuten, die Jeans mit Löchern tragen, sondern kommen von seinem Lebensraum - dem Wald.
An Nay sieht das jedoch so gut aus wie an vermutlich niemand anderen.
An ihm sieht aber wahrscheinlich auch alles super aus, denke ich neidisch.
"Ich habe mir Sorgen um dich gemacht."
Keine Sekunde, nachdem ich sie ausgesprochen habe, möchte ich meine Worte am liebsten zurücknehmen.
Nays Blick verdunkelt sich und seine ganze Haltung wird wieder abwehrend, wie gestern, bevor er ging.
"Um einen Bastard solltest du dir keine Sorgen machen. Du solltest froh sein, wenn ich weg bin."
Nay dreht seinen Kopf weg von mir und schaut nach unten, während er mit den Füßen im Waldboden scharrt.
"Egal, wie oft du das sagst und wie viele Male du mich vom Gegenteil überzeugen willst, ich werde mir immer Gedanken um dich machen."
Oh nein, das habe ich jetzt gerade nicht wirklich gesagt, oder?
Nays Kopf schießt nach oben, doch hinter den ganzen schlechten Gefühlen, die ich in seinen Augen erkennen kann, blitzt ganz kurz noch etwas auf: Freude.
Schnell, bevor er wieder einen bissigen Kommentar voller Selbsthass einbringen kann, spreche ich weiter.
"Und warum bezeichnest du dich eigentlich die ganze Zeit als Bastard?"
Nay zieht grimmig die Augenbrauen zusammen. "Weil ich einer bin."
Mir wird klar, dass er das wirklich ernst meint, dass er wirklich so über sich denkt, denn seine Stimme klingt vollauf ehrlich.
"Wieso denkst du, dass du ein Bastard bist?"
"Ich denke es nicht, ich weiß es."
"Hör auf damit, dich so zu nennen."
"Wieso?"
"Weil du weder mir noch dir das ständig zu sagen brauchst.
Du glaubst eh schon daran und ich werde nie daran glauben, egal wie oft du dich noch wiederholst."
Nay sieht mich nur stumm an.
In seinen Augen liegt eine Spur Bewunderung.
"Was hast du nur für ein Problem mit dir?"
Nun wendet er seinen Blick von mir ab.
"Ich habe gesagt, dass ich dir nichts erklären werde. Und dabei bleibt's auch."
Doch plötzlich verändert sich sein Gesichtsausdruck.
"Wobei... vielleicht würde dich das dann von mir fernhalten."
Seine Worte verletzen mich mehr als er ahnen kann.
"Du willst mich nicht.
Du willst mich nicht hier bei dir haben."
"Der eigene Wille muss manchmal zurückgesteckt werden. Ich bin nun mal so. Ein Bastard. Besser, wenn du das schnell akzeptierst und gehst."
"Warum kann ich es nicht akzeptieren und bleiben?"
"Du solltest dir deine Zeit für jemand Besseres als mich aufheben."
Ehe ich etwas erwidern kann, sieht Nay mich wieder an.
"Du musst los, sonst kommst du zu spät zur Schule."
Schule.
Die habe ich ja komplett vergessen.
Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche.
Zum Glück habe ich Empfang - trotz des Waldes um mich herum.
Ich tippe schnell eine SMS, dann stecke ich mein Handy wieder ein.
"Alles geklärt. Meine Eltern entschuldigen mich."
Nay blickt mich erstaunt an.
"Meine Eltern sind beide schon auf der Arbeit. Bis sie von der Arbeit kommen, bin ich längst wieder daheim. Sie werden nie merken, dass ich nicht krank daheim rumlag.
Darf man nur nicht zu oft machen, sonst fällt's wirklich irgendwann auf. Und jetzt will ich endlich eine Erklärung."
Nay sieht nach oben.
"Wir sollten erst mal weg hier.
Die Bäume sehen nicht gut aus.
Komm mit zu mir, ich habe bereits die angeknacksten Bäume nahe meines Heims gefällt."
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