Gegenwart - RICHTIGER START

Ich schlage die Haustür zu und renne das erste Stück des Weges in den Wald hinein.

Meine Eltern wissen, dass ich mich so gut wie jeden Tag dort aufhalte und ich weiß, dass sie finden, ich solle mich lieber mit Freunden treffen oder lernen.
Aber da in der Schule alles glatt läuft und ich meist nach dem Abendessen noch bei meiner besten Freundin Mila rumhänge, haben sie irgendwann aufgegeben und lassen mich in Ruhe. Ich bin ihnen dankbar dafür.

Natürlich fragen sie ab und zu, was ich denn so ganz allein im Wald treibe, aber meine Antwort lautet eigentlich immer irgendwie ähnlich: Ich mag die Ruhe des Waldes, mag es, die Natur zu beobachten und stundenlang zu warten, bis irgendein Tier meinen Weg kreuzt.

In Wirklichkeit kreuzt jeden Tag dasselbe Tier meinen Weg, und auf das muss ich auch nicht stundenlang warten - der Wolf, mein Wolf, wie ich ihn heimlich nenne, taucht nur Sekunden, nachdem ich am Treffpunkt angekommen bin, ebenfalls auf.

Wir treffen uns immer am selben Ort: unter dem Baum, an dem der geheimnisvolle Junge mich vor sieben Jahren aus der Netzfalle befreit hat. Manchmal träume ich immer noch von ihm, aber ich habe mich mittlerweile damit abgefunden, ihn nie wieder zu sehen.

Meine Freunde ziehen mich manchmal damit auf, dass ich so viel Zeit im Wald verbringe, nennen mich Fuchs, was wohl auch mit meiner Haarfarbe zu tun hat, die leicht ins rot-orangefarbene geht, aber das stört mich nicht.
Ich habe bisher nur Mila von dem wahren Grund erzählt, aus dem ich jeden Tag in den Wald gehe und auch nicht vor, es den anderen zu erzählen.
Füchschen ist unter ihnen zu so etwas wie meinem Spitznamen geworden und mir soll's recht sein.
Außerdem weiß ich ja, dass die anderen akzeptieren, dass ich viel Zeit im Wald verbringe, sie haben es nur einfach nicht lassen können, sich aus dieser kleinen Eigenheit meinerseits wenigstens einen kleinen Spaß zu machen.

Damals, als ich den Wolf kennenlernte und Mila von ihm erzählte, kannte ich die meisten der anderen, die jetzt zu unserer Clique gehören, noch gar nicht, und mit dem Rest war ich noch nicht so gut befreundet.

Ich habe Mila circa eine Woche nachdem er mich vor dem Wildschwein gerettet hat, von dem Wolf erzählt, als ich - wie damals eigentlich fast jedes Wochenende - bei ihr übernachtet habe.

Später hat sie mir mal gesagt, dass sie erst dachte, der Wolf wäre meiner Fantasie entsprungen und entspräche nicht der Realität, aber als ich dann am nächsten Tag ein Foto von ihm und mir machte und ihr zeigte, glaubte sie mir.
Sie ist auch die Einzige, die dieses Foto jemals zu Gesicht bekommen hat.

Der Wolf hat auf dem Bild die Augen geschlossen und die Lichtverhältnisse sind so, dass man seine silbernen Strähnen im Fell nicht sieht.
Davon weiß Mila nichts.
Ich dachte mir, dass die silbernen Augen und das besondere Fell den Wolf nur noch unglaubwürdiger für sie machen würden.

Manchmal erzähle ich ihr von ihm und unseren Treffen.
Ich glaube, sie hätte ihn vor allem früher mal gerne von Nahem gesehen, kennengelernt, aber sie hat mich nie danach gefragt, ob sie mal mit mir kommen könnte.
Sie war dem Wald schon immer nicht so zugetan wie ich und empfindet anstelle der Faszination, die ich für ihn hege, eher ein bisschen Angst vor den größereren Tieren darin.

Außerdem glaube ich, dass sie aus meinen Erzählungen herausgehört hat, dass ich den Wolf lieber für mich haben will.
So egoistisch der Gedanke auch sein mag, ich konnte ihn nie so ganz abschütteln.

Auch jetzt versetzt mir der Gedanke, dass sich der Wolf noch mit jemand anderem außer mir treffen würde, dass er noch eine andere menschliche Freundin, abgesehen von mir, haben könnte, einen kleinen Stich ins Herz. Wahrscheinlich auch, weil mir das Ganze so fantastisch vorkommt.
Die Freundschaft zu einem Wolf...

~ ❤️ ~

Als ich unter dem Baum angekommen bin, setze ich mich hin und lehne mich an den kühlen Stamm.
Es ist Sommer und es tut richtig gut, im Wald unterwegs zu sein, da die vielen Bäume wohltuenden Schatten spenden.
Ich spiele mit einigen abgebrochenen Stöckchen neben mir und warte darauf, das vertraute Knacken des Gebüsches zu hören, das das Kommen meines Freundes ankündigt.

Doch heute ist etwas anders.

Ich werfe einen Blick auf die Uhr.
Ich habe ein ungutes Gefühl, das nicht verschwinden will.

Nach zehn Minuten Warten, ohne dass mein Wolf auftaucht, verstärkt sich das Gefühl.
Er hat mich noch nie so lange warten lassen.

Ob er mich nicht mehr sehen will? Nein, ausgeschlossen. Fünf Jahre lang war er immer pünktlich hier, nun wird er mich nicht versetzen.
Vielleicht ist ihm etwas zugestoßen?

Ich beschließe, noch weitere fünf Minuten zu warten, doch auch als diese vergangen sind, taucht er nicht auf.

Unruhig laufe ich hin und her.
Ich werde ihn suchen gehen, das weiß ich.
Aber eigentlich müsste ich dabei nach ihm rufen. Nur wie?
Nach fünf Jahren nenne ich ihn immer noch "Wolf".
Ihn selbst spreche ich damit ja eigentlich gar nicht an, aber auch wenn ich an ihn denke, denke ich an keinen Namen sondern einfach an den Wolf, meinen Wolf.
Nur so kann ich ihn schlecht rufen.

Außerdem habe ich keine Ahnung, wo er sein könnte.
Ich weiß ja noch nicht einmal, wo er die Nächte verbringt, ob er in einer Höhle schläft und wenn ja, wo diese ist.

"Verdammt!"
Ich richte mich auf und stapfe los. Innerlich werde ich von Sorgen zerfressen.

Was, wenn er von einem anderen Tier verletzt wurde und jetzt irgendwo verwundet im Wald liegt? Was, wenn er tot ist?

Ich kenne ihn jetzt schon fünf Jahre lang - laut Google die ungefähre Lebenserwartung eines Wolfes.
Aber er kann einfach nicht an Altersschwäche gestorben sein.
Wenn er schwächer geworden wäre, hätte ich das doch bemerkt.

Verzweifelt beginne ich zu rufen.
"Hey!" "Hallo!"
Ich weiß nicht, was ich sonst rufen soll.
Meine Stimme hört sich unerträglich laut an in der Stille des Waldes.

Doch schon nach kurzer Zeit höre ich ein entferntes Heulen.
Ob es Zufall ist oder nicht, ich bin maßlos erleichtert.
Ich habe noch nicht mal eine Viertelstunde nach ihm suchen müssen, das hätte ich nie gedacht.

Ohne irgendwelche Orientierungsmöglichkeiten muss ich auf mein Gehör vertrauen und haste dem Heulen entgegen.
Ich höre, dass es von ihm kommt.
Von meinem Wolf.
So gut kenne ich ihn inzwischen.

Als ich schließlich das Gebüsch durchbreche, finde ich mich auf einer kleinen Lichtung wieder.
Und am Rande dieser Lichtung liegt mein Wolf, mein Freund, und schaut mich aus seinen treuen silbernen Augen an.

Ich renne zu ihm hin, umarme ihn und breche in Tränen aus.
"Was ist passiert?", frage ich leise, während er seinen Kopf auf meine Schulter legt.

Ich löse mich von dem Wolf und betrachte ihn näher.
Nun sehe ich die Wunde an seiner Seite. Sie ist noch relativ frisch, das Blut ist noch nicht angetrocknet.

Das Gras, auf dem er liegt, ist schon ganz rot. Ob die Wunde tief ist oder nicht, kann ich nicht sagen.
Ich kenne mich mit so etwas nicht aus.
Doch dass es sehr wehtut, merke selbst ich. Ich sehe es an dem Ausdruck in seinen Augen.

"Oh Gott, was soll ich tun?" Verzweifelt sehe ich ihn an und erschrecke, als der Wolf plötzlich aufsteht.

Seine Beine zittern stark und sein Stand sieht unsicher aus.
Schnell knie ich mich neben ihn und versuche, ihn bestmöglich zu stützen.

"Wo willst du hin?", frage ich ihn, in meiner Stimme höre ich meine Verzweiflung.

Er hebt eine zitternde Pfote an und setzt sie ein Stück weiter wieder auf. Ich verstehe, dass er vorwärts laufen möchte.
Irgendwie schaffen wir einige Schritte, dann wendet er seinen Kopf nach rechts.
Ich blicke ebenfalls in die Richtung und schlucke.
Unser Weg führt durch einen zugewucherten Schleichweg der aussieht wie eine Brennnesselplantage.

Ich atme tief durch und begebe mich dann mit dem Kopf voran hinein ins Vergnügen.
Es brennt und juckt am ganzen Körper und ich bin nahe dran durchzudrehen bei diesen Empfindungen.
Da wir dieses Jahr einen sehr warmen Sommer haben ist meine Kleidung dementsprechend kurz und ich spüre die Brennnesseln überall.

Doch ich beiße die Zähne zusammen und kämpfe mich mit meinem Wolf im Schlepptau weiter voran. Für ihn. Er muss den Weg schaffen.
Wohin auch immer er will.
Vielleicht zu einem Bach, um die Wunde zu reinigen.

Nach einiger Zeit und dem Zurücklassen der Brennnesselplantage kommen wir schließlich vor mehreren riesigen Felsen an.
Mein Freund möchte offensichtlich, dass wir darauf zugehen, und als wir schließlich direkt davor stehen, bemerke ich so etwas wie einen Eingang - als ob das hier eine Höhle wäre.

Endlich wird mir klar wo er hinwill - in sein Zuhause.

Er stakst voraus und ich folge ihm. Ich muss nur einmal kurz meinen Kopf einziehen, ansonsten kann ich aufrecht stehen.
Doch als ich schließlich in der Höhle drinnen bin, kann ich meinen Augen nicht trauen.

Hier sieht es so aus... ja, es sieht so aus, als würde hier ein Mensch wohnen.
Ein paar Schränke, eine Art Bett und mehr.
Mein Wolf steuert auf das Bett zu.
Ich laufe schnell zu ihm und versuche mir zu erschließen, was er will.

Es scheint als möchte er sich in das Bett legen.
Unsicher sehe ich zu ihm, doch als er sich zum Sprung zusammenkauert merke ich, dass ich Recht habe.
Er springt - und wäre ohne meine Hilfe wohl nicht auf dem Bett gelandet.
Schmerzerfüllt heult er auf.
Mit beruhigenden Worten streiche ich ihm über den Kopf, bis er wieder einigermaßen still ist.

Dann sehe ich zu, wie er sich zur Seite beugt.
Er scheint unzufrieden zu sein, als er sich auf die andere Seite wendet und es kommt mir vor, als möchte er die Zudecke haben.
Ich decke ihn zu und sein Blick zeigt mir, dass er das wollte.
Doch ich verstehe nicht, was all das soll.

In dieser Höhle, mitten im Wald, die eingerichtet ist wie die Wohnung eines Menschen liegt der Wolf, mein Freund verletzt im Bett.
Das alles erinnert mich ein wenig an Rotkäppchen.
Würde ich mir nicht solche Sorgen um meinen Freund machen und wäre die ganze Situation nicht so verwirrend, würde ich bei dem Gedanken vermutlich lachen.

Aber ich stehe nur unschlüssig vor dem Bett und blicke auf meinen Freund hinunter, der mich mit einem Ausdruck in den Augen ansieht, den ich nicht so recht deuten kann.
Es sieht irgendwie flehentlich aus - fast, als würde er mich um Verzeihung bitten wollen oder so. Dann schließt er die Augen.
Mein Herzschlag beschleunigt sich.

Wollte er sich gerade dafür entschuldigen, dass er stirbt?

Ich schüttle den Kopf über den Gedanken.
Doch bevor ich irgendetwas tun kann, beginnt die Luft vor meinen Augen leicht zu flimmern.
Ich kneife meine Augen zu, denke, dass ich zu Hyperventilieren beginne.

Doch als ich meine Augen wieder öffne, kann ich einfach nicht glauben, was ich sehe.
Denn vor mir liegt nicht mehr mein Wolf.
Nicht mehr der, den ich meinen Freund nannte.

Nochmal das Bild von oben - von Nay und Jara ~ "Die Füchsin"
Vielen vielen Dank dafür an
Tellis-Narevas, es sieht ultra schön aus.😍😍💕💕
Darauf, das auch noch mit ihrem Spitznamen so super in Verbindung zu bringen, wäre ich nie gekommen. ❤😊 So cool!!!

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