Leseprobe aus ,,Im freien Fall''
Mein Stiefbruder richtete sich wieder auf und als er sich meinem Ohr näherte, wich ich automatisch ein paar Zentimeter zurück, weil mir diese plötzliche Nähe dann doch zu viel war.
Das hinderte ihn allerdings nicht daran mir ins Ohr zu hauchen: „Du hast recht: Vielleicht hast du ja genug gehört und gesehen, Gänseblümchen. Aber wenn du mich fragst, ist es langsam an der Zeit, endlich mit all deinen Sinnen zu spüren."
Das hatte er jetzt nicht gesagt, oder?
Dieser Junge konnte es aber auch nicht lassen! Er konnte es nicht lassen, bei jeder Gelegenheit an Sex zu denken. Aber vor allem konnte er es nicht lassen, mich ständig damit in Verlegenheit zu bringen.Meine Wangen glühten und ich war mir sicher, man könnte sie in diesem Augenblick als Grill verwenden.Diese Situation war mir so unangenehm und irgendwo wünschte ich mir, dass er doch sauer auf mich gewesen wäre. Damit hätte ich leben können, immerhin wäre das durchaus berechtigt gewesen.
Als Tyson sich wieder zurücklehnte und meine Reaktion sichtlich genoss, gab ich meinem Drang, auch seinen Haaren Ordnung zu verleihen, endlich nach, einfach um von meiner Verlegenheit abzulenken oder vielmehr von meiner nun verstörten Wenigkeit.Verblüfft ließ Tyson zu, dass ich binnen vier Sekunden eine halbwegs zufrieden stellende Frisur aus seinen Haaren machte, und schaute mich dann verdutzt an. Das war mir viel lieber, als dieses anzügliche Grinsen.
„Tut mir leid, aber ich kann bei Unordentlichkeit nicht anders, als diese zu sofort zu beheben", murmelte ich und damit nicht nur seine Haare.
Dabei stellte ich überrascht fest, dass ich immer noch die Packung Schlaftabletten in der Rechten hielt. Zu früh gefreut, denn kaum hatte ich den Satz beendet, war das übliche Grinsen wieder da. Oh Gott, bitte nicht, dachte ich nur, als Tyson den Mund öffnete, um höchstwahrscheinlich abermals einen perversen Kommentar von sich zu geben.
Doch ehe er etwas sagen konnte, ergriff ich rasch das Wort über das Erstbeste, das mir kurz vorher ins Auge gefallen war: „Wozu brauchst du eigentlich Schlaftabletten?"
Das Grinsen verblasste. Aber um ehrlich zu sein, wusste ich nicht, ob das jetzt gut oder schlecht war. Tyson wandte den Blick von mir ab und ließ diesen nachdenklich durch das Zimmer schweifen. Allerdings merkte ich, dass er sich nicht sein Zimmer anschaute, sondern das nur tat, um meinem Blick auszuweichen. Zwar gefiel mir das Thema selbst nicht, doch diesmal hatte ich mich gut unter Kontrolle und konnte so vermeiden, zu Tysons Witzfigur zu werden.
So residierten wir quasi auf der gleichen Ebene. Es vergingen einige Sekunden, in denen ich darauf wartete, dass Tyson endlich etwas sagte. Eigentlich erwartete ich keine Antwort von ihm, zumindest keine konkrete. Eher erwartete ich, dass er sofort abblockte und mich aus seinem Zimmer warf. Das würde ich zumindest an seiner Stelle tun. Irgendwann wurde mir selbst die Stille zu unangenehm, weshalb ich aufstand. Es war wohl am besten, wenn ich wieder in mein Zimmer ging. Die Packung legte ich vorsichtig aufs Bett. Tyson riss seinen Blick von seinem aufgeräumten Schreibtisch los und blickte nachdenklich zu mir auf. Mein Blick huschte kurz durch den Raum. Ich musste sagen, ich hatte wirklich gute Arbeit geleistet – jetzt konnte Tyson nicht nur sorglos Gäste mit aufs Zimmer nehmen, sondern auch selbst ohne Befürchtungen hier drin leben.
Ich gebe es, im Grunde genommen tat es mir nicht leid, dass ich einfach, ohne zu fragen, sein Zimmer aufgeräumt hatte – von alleine hätte er selbst es nie getan. Als ich den Mund öffnete, um Bescheid zu geben, dass ich jetzt gehen würde, hinderte Tyson mich allerdings daran.
„Ich greife nur sehr selten danach, wenn ich nachts nicht schlafen kann", murmelte er, nahm die Schachtel in die Hand und begutachtete sie. Überrascht schaute ich ihn. „Das letzte Mal, als ich eine Tablette davon eingenommen habe, ist schon ein paar Wochen her."
Dann wurde die Schachtel anscheinend uninteressant, denn er warf sie achtlos auf seinen Nachttisch. Ich wollte ihn gerade fragen, warum er nachts nicht schlafen konnte, ob es vielleicht sogar mit seinem Vater zu tun hatte, aber auf der einen Seite traute ich mich nicht – auf der anderen Seite fuhr er kurz darauf schon fort, als wolle er verhindern, dass ich nachfragte.
„Aber sag mal, woher weißt du eigentlich, was das ist?"
„Mein Arzt hat mir das vor längerer Zeit auch verschrieben, als ich an starkem Schlafmangel litt", erklärte ich und Tyson nickte verständnisvoll. Keiner fragte den anderen nach dem Grund, und das war auch gut so, denn niemand von uns wollte darüber sprechen, zumindest jetzt nicht. Und plötzlich war die Stille, die nun folgte, nicht mehr angespannt wie zuvor, sondern sogar willkommen. Denn wir beide teilten sie mit jemanden, der anscheinend ähnliche Probleme hatte und uns somit verstehen konnte.
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