Kapitel 19 - Erfolgreiche Versuche
Ihre Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit im Vergleich zu den Hallen und an das flackernde Licht der Fackeln, die die Gänge vereinzelt erhellten. Thanghadar erwartete sie an der Wachstube, und gemeinsam gingen sie tiefer in die Tunnel der Kerker hinein.
Lange bevor sie ihn sehen konnten, hörten sie Gollum. Er flüsterte, dann wieder kreischte er, dann wieder würgte er in den Lauten, die ihm seinen Namen eingebracht hatten. Thanghadar verzog das Gesicht und auch Tulkastor war nicht angetan von dem, was er hörte, doch er hielt an seinem Plan fest, mit dem festen Wunsch im Herzen, auch dieser gebrochenen Kreatur etwas bereiten zu können, das es mit viel gutem Willen vielleicht als schön bezeichnen mochte.
»Wir werden ihn finden, mein Schatz, wir werden ihn finden.«
»Es hat ihn uns gestohlen, gestohlen! Gollum, gollum!«
»Immer mit der Ruhe, mein Lieber. Wir werden uns etwas ausdenken.«
»Garstiger fetter Hobbit!«
Tulkastor schloss kurz die Augen und wünschte, er hätte eine Flasche Wein mitgenommen. Aus den Schatten heraus beobachteten die Elben Gollum, sahen, wie er das Gesicht zu schauerlichen Masken verzog, wie sich die knochigen Arme und Hände bewegten, als wären sie eigenständige Lebewesen und nicht mit seinem restlichen Körper verbunden. Erst, als er eine kurze Sprechpause machte, traten sie in den Lichtschein einer flackernden, beinahe heruntergebrannten Fackel. Sofort wich Gollum an die hintere Wand seiner Zelle zurück.
»Was wollen sie von uns, mein Schatz? Was wollen sie?«
»Geduld, sie werden es uns gleich sagen, nicht wahr? Ja, sie werden es uns gleich sagen!«
»Tulkastor, bist du dir in dem, was du tust, auch wirklich sicher?«
»Ich bitte dich, mellon nín, ich hatte wahrlich genug Zeit, darüber nachzudenken. Wenn ich ihn sehe, habe ich Mitleid mit ihm. Wie viel muss einem Wesen zustoßen, dass es sich so verhält? Es hat unser aller Erbarmen verdient, auch wenn wir das noch nicht sehen mögen.«
»Nun, maethoer, ich weiß nicht recht, wie Ihr dieser Kreatur Herr werden wollt, doch bin ich gespannt, Euch dabei zuzusehen«, sagte Legolas, und ein leichtes Lächeln umspielte seine Züge. Tulkastor warf Thanghadar einen kurzen Blick zu, und erst, als dieser das Schwert gelockert hatte, schloss er die Zelle auf und trat ein.
»Weg! Weg mit euch, gollum, gollum!«, kreischte Gollum und drückte sich an die Wand. Tulkastor hob die Hände und ging in die Knie, in der Hoffnung, Gollum damit weniger einzuschüchtern.
»Du weißt, dass ich dir nichts tun will. Ich will dir helfen.«
»Es lügt! Es lügt!«
»Ich habe dir schon gesagt, dass Elben nicht lügen, mein Schatz!«
»Vielleicht hilft es uns, wenn es uns tötet!«
»Es will uns töten? Gollum, gollum!«
»Nein, ich will dich nicht töten!«, rief Tulkastor und rang um seine Beherrschung. Das geflüsterte »Ich schon« von Thanghadar hinter seinem Rücken half ihm dabei allerdings nicht weiter. Er warf seinem Freund einen kurzen Blick zu, und der verfiel wieder in Schweigen. Tulkastor atmete tief durch, bevor er sich wieder der erbarmungswürdigen Kreatur vor ihm zuwandte.
»Pass auf, Gollum. Ein Kerker ist kein Ort für irgendein Lebewesen. Ich will dich nach draußen bringen, wenigstens für ein paar Stunden, damit du den Wind und die Wärme der Sonne spüren kannst und das Leben dort draußen siehst. Ist das nicht ein Angebot, das du annehmen möchtest?«
»Es ist eine Falle!«, flüsterte Gollum.
»Wir trauen ihm nicht!«
»Es will uns hereinlegen und uns töten!«
»Es weiß, was wir gefunden haben. Es will ihn für sich, mein Schatz!«
»Es muss Beutlin töten, wenn es ihn haben will, nicht uns. Gollum, gollum!«
»Ich will weder dich noch irgendeinen Beutlin töten«, sagte Tulkastor ruhig. Er richtete sich wieder zu seiner vollen Größe auf. »Das ist die letzte Gelegenheit, Gollum. Ich biete es dir noch einmal an, mein Angebot anzunehmen. Wenn du nicht nach draußen willst, wenn du die Sonne nie mehr sehen willst, dann soll es so sein, und dann lasse ich dich ab nun in Frieden. Wisse nur, dass du dein Leben dann in dieser Zelle beenden wirst, ohne noch einmal die frische Luft des Waldes geatmet zu haben.« In seiner Stimme lag keine Drohung, kein Drängen. Tulkastor war innerlich wie äußerlich völlig ruhig. Er wollte das Beste für Gollum, er sah selbst in diesem Wesen ein Wesen, das es verdiente, zu leben und in diesem Leben Freude zu erfahren. Doch er wollte es nicht zwingen, und wenn es nicht erkennen konnte oder erkennen wollte, dass er ihm eine Möglichkeit dazu bot, dann betrübte ihn dieses Wissen, doch er würde Gollums Wunsch annehmen.
Ganz vorsichtig löste sich Gollum ein wenig von der Wand. Seine großen, blauen Augen sahen zweifelnd zu Tulkastor auf.
»Niemand will etwas Gutes für uns, mein Schatz.«
»Es ist ein Elb. Es hält, was es verspricht.«
»Verspricht es uns, uns nicht zu töten?« Tulkastor sah sich kurz zu seinen Begleitern um, und Legolas nickte leicht.
»Ja, ich verspreche dir, dass ich dich nicht töten werde. Und auch keiner der anderen beiden.« Gollum kam noch ein wenig näher.
»Und es wird uns nicht wehtun, mein Schatz?«
»Ich will dir auch nicht wehtun, Gollum.«
»Das wird schwierig«, murmelte Thanghadar. Legolas musste trotz der Anspannung, die in der Luft lag, schmunzeln ob der kleinen Neckereien zwischen den beiden Wachen.
»Er gibt sein Bestes, lasst es ihn versuchen«, erwiderte er leise auf Thanghadars Einwurf.
»Das weiß ich. Und mir ist eben etwas eingefallen, das ihm bei seinem Versuch helfen könnte. Gebt mir einen Augenblick.« Thanghadar wartete Legolas' Antwort nicht ab, sondern verschwand lautlos in den dunklen Gängen. Legolas nahm seinen Platz ein, auch wenn er unbewaffnet gekommen war, doch dass Gollum an ihm und Tulkastor vorbeikäme, erschien ihm recht unwahrscheinlich.
»Nur eine Sache, Gollum, du musst verstehen, dass wir dir nicht genug trauen, um dich ganz frei herumlaufen zu lassen. Ich fürchte, du musst für eine kurze Zeit unser Seil in Kauf nehmen«, sagte Tulkastor gerade, als Legolas ihm wieder seine Aufmerksamkeit zuwandte.
»Unser Seil, mein Schatz?«
»Es ist ein Elb, und es hat uns schon einmal mit seinem Seil wehgetan!«
»Kein Elbenseil!«, rief Thanghadar in diesem Augenblick. Er rannte zur Zelle und hielt Tulkastor ein aufgerolltes Seil hin. »Gollum wurde doch von Mithrandir hergebracht. Das Seil, das er verwendete, lag noch herum.« Tulkastor nahm ihm das Seil mit einem dankbaren Blick ab und knüpfte mit geschickten Fingern eine Schlinge hinein.
»Komm her, Gollum. Hab keine Furcht.« Nun kniete er sich wieder auf den Boden, und nach einiger Zeit kam Gollum langsam auf ihn zu. Vorsichtig, angespannt und immer bereit, sofort wieder zurückzuweichen. Seine Augen zuckten hin und her, die sich darin spiegelnde Flamme verlieh ihnen einen schaurigen Ausdruck. Doch als er schließlich vor Tulkastor kauerte, war davon nichts mehr übrig. Er sah nur noch gebrochen und verängstigt aus, beinahe schwach, doch Tulkastor war nicht so töricht, seine Kraft zu unterschätzen. Vorsichtig legte er Gollum die Schlinge um den Hals und zog sie ein wenig zu, sodass sie nicht über seinen Kopf rutschen konnte, aber auch nicht zu eng um seinen Hals lag. Voller Erstaunen sah Gollum auf das Seil herunter.
»Es ... es brennt nicht, mein Schatz. Elb hat sein Wort gehalten!« Tulkastor gestattete sich ein kurzes Lächeln und bedankte sich noch einmal wortlos bei seinem Freund. Dann nahm er das andere Ende des Seils in die Hand. Er wollte Gollum nicht daran führen, er wollte ihn nur daran hindern können, wegzulaufen.
»Komm, Gollum. Folge meinem Freund, er wird uns nach draußen führen.« Thanghadar ging voran Gollum folgte ihm, und Legolas ging neben Tulkastor her.
»Es ist erstaunlich, wie viel Geduld Ihr mit ihm habt«, sagte er leise.
»Ich habe eine Unendlichkeit an Zeit zur Verfügung, es gibt keinen Grund für mich, ungeduldig zu sein«, antwortete Tulkastor. Legolas sah ihn nachdenklich an. Er wusste nicht, ob es daran lag, dass er erst zwanzig elbische Jahre zählte und Tulkastor viel älter war als er, oder ob er ein rastloseres Wesen hatte, doch Ungeduld war ihm wahrlich nicht fremd.
»Nun, ich bewundere Euch dafür«, sagte er schließlich. »Ich fürchte, ich hätte früher aufgegeben.« Tulkastor sah auf Gollum, der vor ihnen ging – sofern man seine Art der Fortbewegung als gehen bezeichnen konnte.
»Wir alle haben unsere Stärken«, antwortete er dann. »Ich sehe etwas in Lebewesen, das Ihr nicht seht, und Ihr seht etwas, das ich nicht zu sehen vermag. Doch wenn sich unsere Sichtweisen treffen, vermögen sie es vielleicht, ein Wesen zu verstehen.« Daraufhin schwieg Legolas. Er dachte über das nach, was Tulkastor gesagt hatte, bis sie aus den Kerkern heraufgestiegen waren. In diesem für ihn ungewohnt hellen Licht verharrte Gollum einen Augenblick und sah sich um. Einige Elben starrten ihn an, doch als Legolas ihnen einen scharfen Blick zuwarf, wandten sie sich ab und gingen wieder ihren Aufgaben nach.
»Komm nur weiter, Gollum«, sagte Tulkastor. »Diese Hallen mögen schön sein, doch das, was draußen auf dich wartet, übertrifft sie bei Weitem. Ich weiß, unser Wald mag auf dich vielleicht bedrohlich wirken, doch der frischen Luft, dem Rascheln der Blätter, dem Gefühl des lebendigen Windes auf der Haut wirst auch du nicht abgeneigt sein.« Er wartete noch einen Augenblick, bis sich Gollums Augen an das helle Licht gewöhnt hatten, dann gingen sie weiter. Irgendwann stieß Eliel zu ihnen.
»Das will ich mir nicht entgehen lassen«, murmelte er und warf Legolas einen kurzen Blick zu.
»Das soll keine Ausstellung werden, Eliel. Komm du von mir aus noch mit, aber ich will nicht, dass sich uns noch mehr Elben anschließen«, antwortete Legolas. Eliel nickte.
»Natürlich.« Nun bereits zu viert setzten sie ihren Weg fort, und die Elben, denen sie begegneten, sahen die Gruppe zwar überrascht oder gar feindselig an, doch wichen alle zurück, ohne dass ein Wort nötig gewesen wäre. Schließlich erreichten sie eine Seitentür, die aus den Hallen führte. Ein wenig entfernt stand eine einzelne alte Eiche, der Wald hatte sich hier ein kleines Stück vom Palast zurückgezogen. Thanghadar stellte sich hinter die Eiche, um Gollum im Falle eines Fluchtversuchs aufhalten zu können, und legte eine Hand an seinen Schwertgriff, Legolas und Eliel blieben ein wenig hinter Tulkastor zurück, als dieser gemeinsam mit Gollum bis zum Stamm ging.
»Nun gut, Gollum, die Sonne hat ihren höchsten Stand bereits überschritten, bis die Dämmerung hereinbricht, will ich dich auf den Baum lassen. Klettern kannst du doch?«
»Ob wir klettern können, fragt es, mein Schatz?«
»Wir können klettern, wir können klettern!« Er legte beinahe vorsichtig seine knochigen Finger um den Stamm, soweit er ihn umfassen konnte, und zog sich ein wenig nach oben.
»Gut. Pass auf, ich nehme dir das Seil jetzt ab, aber wenn du versuchst, zu fliehen, wird Thanghadar nicht zögern, sein Schwert zu benutzen. Hast du verstanden?«
»Ja, mein Schatz, wir haben verstanden.«
»Es soll uns das garstige Seil abnehmen! Gollum, gollum!« Tulkastor hob beschwichtigend die Hände.
»Keine Fluchtversuche, ja?« Vorsichtig zog er die Schlinge auf und nahm Gollum das Seil ab, und dieser kletterte flinker, als Tulkastor es erwartet hätte, nach oben in die breiten Äste der Eiche.
»Das war einfacher, als ich dachte«, sagte er und wandte sich Legolas zu. Dieser nickte.
»Es sieht recht ungefährlich aus hier. Ich nehme an, Ihr und Thanghadar übernehmt die Wache hier?«
»Ja, hîr nín. Ob wir hier wachen oder im Kerker, ist uns gleich.«
»Nur dass wir hier etwas davon mitbekommen, was um uns herum geschieht«, fügte Thanghadar hinzu.
»Nun, dann scheint mir das hier ein Gewinn für beide Seiten zu sein«, erwiderte Legolas mit einem leichten Lächeln. »Lasst Euch nur nicht überrumpeln und bleibt stets aufmerksam. Er ist hinterhältig, und auch wenn ich Euer Vertrauen in jedes Wesen schätze, so möchte ich doch nicht, dass Ihr ihm zum Opfer fallt.«
»Wir werden aufmerksam bleiben«, versprach Tulkastor. »Danke für Euer Vertrauen.« Legolas nickte ihnen noch einmal zu, dann gingen er und Eliel zurück in die Hallen.
»Ich dachte, er würde versuchen, zu entkommen«, meinte Eliel.
»Nun, lieber täuschen wir uns in diesem Sinne, als von etwas überrascht zu werden«, erwiderte Legolas.
»In der Tat. Nun sehe ich, dass deine Entscheidung richtig war. Die Sorge über Dinge, die vielleicht geschehen könnten, mögen meinen Blick getrübt haben.«
»Du hast viel gesehen, Eliel, viel mehr als ich. Vielleicht war es nicht die Sorge, sondern die Erfahrung, die deinen Blick lenkte, doch das werden wir erst erfahren, wenn das eintritt, wovor du warntest.«
»Nun, in dieser Sache behielte ich ungern recht.«
»Das weiß ich. Doch nun sei es, wie es sei. Entschuldige mich, Eliel, es gibt Dinge, über die ich nachdenken muss und die mir im Augenblick größere Sorgen bereiten als dieses Geschöpf auf seinem Baum.«
»Natürlich. Wenn du meiner Hilfe bedarfst, zögere nicht, zu fragen.«
»Ich danke dir.« Mit einem Lächeln verabschiedete sich Legolas und eilte durch die Halle, um sich die Aufzeichnungen über die Krieger, die dem Waldlandreich zur Verfügung standen, anzusehen. Er musste nachdenken, was sie tun könnten, er musste rechnen, und er musste zusehen, dass für alle, die im Düsterwald lebten und für ihre Heimat kämpften, das Beste bei diesen Überlegungen herauskam.
*
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, doch die Elben waren bereits wieder erwacht. Nach beinahe vier Tagen hatten sie das erste Mal eine Nacht gerastet. Sie waren nun über dreihundert Meilen gelaufen.
»Ich denke, wir sollten umkehren. Wir sind weit genug nach Süden vorgestoßen. Es wird nur schlimmer werden, und wir sind zu wenige, dagegen vorzugehen. Und wir haben schon einiges bewirkt«, sagte Nethoron. Die anderen Wächter nickten zustimmend, doch ihre Blicke verrieten, dass die Entscheidung wieder einmal bei Thranduil lag.
»Nethoron hat recht. Wir werden umkehren, doch ich möchte auf unserem Rückweg zu den Ausläufern der Berge gehen. Wir Ihr alle wisst, gibt es dort viele Senken und Höhlen, und es wunderte mich nicht, fänden wir dort das ein oder andere Ork-Versteck. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass auch diese Geschöpfe der Dunkelheit durch unseren Wald streifen. Sicher sind sie in den Bergen selbst um ein Vielfaches zahlreicher, doch ein Stich mitten ins Wespennests könnte unangenehme Folgen nach sich ziehen.«
»Ihr wollt in die Berge? Nun ... ich denke, gegen ein vorsichtiges Ausspähen ist nichts einzuwenden, doch sollten wir es vermeiden, zu viel Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Wir können es uns nicht erlauben, dass sie noch zahlreicher werden.«
»Ich fürchte, das werden sie, ob wir uns nun versteckt halten oder nicht. Vermutlich ist es nur eine Frage der Zeit. Irgendwann müssen wir uns ihnen stellen. Doch Ihr habt recht, denn wir brauchen Zeit, uns vorzubereiten.« Nethoron nickte.
»In der Tat. Für eine offene Schlacht sind wir nicht gut ausgerüstet, und alte Fehler sollten wir nicht wiederholen.« Schweigen breitete sich unter ihnen aus. Nethoron und zwei weitere Wächter hatten in der Schlacht des Letzten Bündnisses gekämpft, und die anderen, die zu jung waren, um sie erlebt zu haben, hatten in vielen Geschichten und Klageliedern davon gehört.
»In der Vergangenheit zu verweilen, kann lehrreich sein«, sagte Thranduil schließlich. »Nehmen wir uns ihren Rat zu Herzen und handeln nun weiser und vorsichtiger. Kommt, wir haben einen langen Weg vor uns.« Die Elben sprangen von den Zweigen des Baumes, auf denen sie gerastet hatten, und suchten sich ihren Weg durch den Wald. Sie wandten sich nach Norden und ein wenig nach Osten. Bald durchbrachen die ersten morgendlichen Sonnenstrahlen den Wald und beleuchteten ihren Weg, doch im Laufe des Tages zogen Wolken auf. Weil sie ihren Rückweg anders wählten als den Weg, den sie gekommen waren, stießen sie auch nun wieder auf Spinnen und ihre Netze.
»Es ist unmöglich, all dem beizukommen«, sagte Cristanu, und die Fröhlichkeit, die die Waldelben für gewöhnlich stets begleitete, war gewichen und hatte der Hoffnungslosigkeit Platz gemacht. Doch konnte keiner der anderen Elben Trost spenden, sie alle konnten die Wahrheit in seinen Worten nicht leugnen, und so schwiegen sie.
Nach vielen Stunden überquerten sie die Alte Waldstraße. Die Dunkelheit war über den Wald hereingebrochen, und die Wolken, die den Himmel tagsüber schon bedeckt hatten, hielten nun das Sternenlicht von den Elben fern. So wanderten sie in tiefer Schwärze weiter, und nur ihren scharfen Augen war es zu verdanken, dass sie überhaupt weitergehen konnten. Denn selbst ihre Sehkraft reichte kaum aus, um die Dunkelheit zu durchdringen, und schnell konnten sie nicht gehen, ohne in Gefahr zu laufen, doch eines der Netze zu übersehen, die sich durch den Wald zogen.
Als der Wald ein wenig lichter wurde, gebot Thranduil den anderen, zu halten. Vor ihnen, als schwarze Schemen vor einem schwarzen Himmel, erhoben sich die Berge des Düsterwalds. Sie wirkten schon bei Tag nicht einladend, doch des nachts erschienen sie beinahe bedrohlich.
»Wir wollen nicht weitergehen, bevor sich die Sonne nicht erhoben hat«, sagte Thranduil leise. »Die Nacht gereicht nur unseren Widersachern zum Vorteil. Lasst uns hier wachen, bis zum Sonnenaufgang ist es nicht mehr lang.« Die Wächter neigten kurz die Köpfe, dann erkletterten die Elben erneut einen mächtigen Baum, von dem aus sie ihre Umgebung gut im Auge behalten konnten und dennoch nicht leicht zu erspähen waren. Bald taten sich Lücken in den Wolken auf, und dünnes Mondlicht schien auf sie herab. Nethoron wandte sein Gesicht dem weißen Licht zu und lächelte leicht, fand er doch ein wenig Trost darin. Thranduil blickte ebenfalls zum Himmel, und auch er war froh, dass die Wolken ihnen Gnade erwiesen und ein wenig aufrissen. Das Licht spiegelte sich auf einigen Felsen, die im Wald lagen und nicht überwuchert waren, und ab und an blitzte es in den Augen der Elben auf, wenn sie den Kopf drehten, um sich umzusehen. Doch von unten hätte man sie ebenso gut für die Augen eines Tieres halten können. In der dunkelsten Stunde der Nacht, als der Mond schon untergegangen war, kurz bevor die Dämmerung hereinbrach, hörten die Elben schließlich das Klirren von Rüstzeug und Waffen. Thranduil zog die Kapuze seines Umhangs über den Kopf, um sein helles Haar zu verbergen, das das Restlicht der Sterne einfing und sie vielleicht verraten hätte.
»Sie kommen von Süden«, flüsterte Nethoron. Thranduils Augen vermochten die Dunkelheit kaum zu durchdringen, und dennoch versuchte er, die Orks zu sehen, die herankamen. Er umfasste seinen Bogen fester und zog lautlos einen Pfeil aus dem Köcher. Er spürte mehr, als dass er es sah, dass die Wächter es ihm gleichtaten.
»Wie viele sind es?«, flüsterte Cristanu. Mittlerweile war das Klirren deutlich zu hören und das Geräusch rücksichtsloser Füße kam hinzu.
»Ein Dutzend, wenn nicht gar mehr«, antwortete Nethoron ebenso leise. Dann hörten sie die schweren Atemzüge der Orks. Sie warteten einen Augenblick, richteten ihre gesamte Aufmerksamkeit auf die Gruppe, die dort durch den Wald auf sie zukam.
»Vierzehn«, sagte Nethoron schließlich.
»Wir können keine Möglichkeit verstreichen lassen, auch nur eine dieser Kreaturen zu töten.« Die Wächter verstanden Thranduils leise Worte und spannten lautlos ihre Bögen. Das Schnaufen der Orks dröhnte in ihren Ohren, die quietschende und klirrende Rüstung und die klappernden Waffen verrieten ihnen genau, wo sich jedes der Ungeheuer befand. Dann verließen fünf Pfeile die Bogensehnen, fünf Orks brüllten auf, und gleich darauf erklangen fünf dumpfe Schläge.
»Neun«, sagte Nethoron. Wieder erfüllte das Zischen ihrer Pfeile die Luft, wieder trafen die Pfeile ihre Ziele, doch diesmal fielen nur zwei der Orks. Sie hörten, wie eines der Ungeheuer einen knappen Befehl in einer verstümmelten Sprache brüllte, und noch bevor sie ein weiteres Mal schießen konnten, flogen Pfeile der Orks an ihnen vorbei.
»Sie haben uns noch nicht gesehen, doch das ist nur eine Frage der Zeit. Schnell jetzt!« Nethoron schoss erneut, doch die Orks waren nun gewarnt und hielten ihre Schilde bereit. Wirkungslos prallte Nethorons Pfeil davon ab.
»Ihre Schilde können sie nicht schützen. Nicht auf Dauer. Nicht, wenn wir sie von mehreren Seiten beschießen«, sagte Thranduil grimmig. Die anderen Wächter verstanden. Flink kletterten sie weiter nach oben, wo die Äste der Bäume einander näher kamen. Denn obwohl der Wald hier vor den Ausläufern der Berge lichter wurde, standen die Bäume doch noch dicht genug aneinander, um mit der Geschicklichkeit eines Elben von einem auf den anderen klettern zu können. So bewegten sie sich geschwind durch die Äste, und nur manchmal verriet ein leises Rascheln, wo sie sich befanden. Die Orks unterdessen schossen weiterhin blindlings in den Wald, während die Elben ihren Kreis um sie immer enger zogen. Als sie bereit waren, hatten ihnen drei der Orks den Rücken zugewandt, diese starben zuerst. Die anderen vier hatten sich Rücken an Rücken aufgestellt, doch nur drei von ihnen trugen Helme. Nethorons Pfeil durchbohrte den Schädel des vierten. Die verbleibenden Orks jedoch waren gut gerüstet, ihre Schilde waren breit und sie hatten die Elben nun entdeckt. Ein schwarzer Pfeil flog gefährlich nah an einem der Wächter vorbei, ein weiterer streifte Thranduils Schulter. Noch einmal versuchten die Elben, den Orks mit ihren Pfeilen beizukommen, doch als auch diese von den Rüstungen abprallten, zogen sie ihre Schwerter und sprangen auf den Boden. Für einen winzigen Augenblick waren die Orks überrascht und hielten in ihren Schüssen inne. Diese Zeit nutzten die Elben, um so nah an sie heranzukommen, dass sie ihre Bogen nicht mehr einsetzen konnten. Mit einem wütenden Brüllen zogen sie ihre Schwerter.
Die Orks waren daran gewöhnt, im Dunkeln umherzustreifen, und dies gereichte ihnen nun zum Vorteil, doch sie waren in der Unterzahl. Thranduils Schwert krachte auf einen Schild und der Aufprall sanfte eine kurze Welle dumpfen Schmerzes durch seinen Arm, doch Nethoron hatte diesen Hieb ausnutzen können, die Deckung seines Gegners unterlaufen und ihm die Klinge unter dem Arm in den Körper gerammt. In seinem Todeskampf schlug der Ork mit seinem Schild nach Nethoron und traf ihn im Gesicht, sodass er mit einem Aufschrei zu Boden ging, doch auch der Ork fiel schließlich. Die beiden übrigen Ungeheuer waren mit den drei anderen Elben in einen heftigen Kampf verwickelt. Die Hiebe der Orks waren kräftig, doch ungenau, und die Elben konnten ihnen ausweichen. Doch es war schwer, ihre weniger gut geschützten Stellen zu treffen. Warum diese Orks so gut gerüstet waren, vermochten sie nicht zu sagen. Einer der Wächter geriet unter einem heftigen Ansturm ins Straucheln und es gelang ihm nur noch mit großer Mühe, sein Schwert zwischen sich und die Klinge des Orks zu bringen. Ein schauriges Grinsen verzerrte das hässliche Gesicht der Kreatur. Doch bevor sie ihr Werk vollenden konnte, durchschnitt ein heller Ruf die Nacht. Cristanu sprang hinter dem knieenden Wächter ab, und in wortloser Abstimmung riss dieser sein Schwert nach oben. Der Ork stieß einen verärgerten Laut aus gab für einen kurzen Augenblick seine verwundbare Kehle frei, und Cristanus Hieb beendete sein Leben. Der Körper des Orks sackte zusammen, Cristanu rollte sich ab, sprang wieder auf die Füße und stieß dem letzten Ork von hinten die Klinge in den Leib. Mit einem grausigen Brüllen ging er zu Boden, und einige Atemzüge später war der Wald wieder in völlige Stille gehüllt. Thranduil eilte zu Nethoron und kniete sich neben ihn.
»Mir ist nichts geschehen, aran nín«, sagte Nethoron, doch brauchte er Thranduils Hilfe, um aufzustehen. Er rieb sich mit der Hand die Wange, an der er vom Schild des Orks getroffen worden war, und berührte dann vorsichtig seine Nase. Blut rann über seinen Mund und sein Kinn und tropfte von dort auf den Boden. »Nichts, was nicht heilen würde«, meinte er. Er nahm seine Flasche und goss sich ein wenig Wasser übers Gesicht.
»Wir sollten aufbrechen«, drängte einer der Wächter. »Ein Wunder, dass nicht schon längst weitere Orks aus den Bergen gekommen sind, leise war unser Kampf nicht.«
»Ihr habt recht. Wir wissen nun, was wir wissen wollten, lasst uns gehen«, erwiderte Thranduil. »Seid Ihr bereit?«, fragte er Nethoron. Dieser nickte und wischte sich beinahe trotzig mit einem Ärmel das Blut vom Kinn.
***
Cristanu: Schwertmann
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