Zweisamkeit
Nanna konnte sich auf nichts konzentrieren. Der Nachmittag war eine Tortur. Seit Carlas Besuch hatte sie immer noch mit ihrer Konzentration zu kämpfen und nun auch noch Laylanis Anwandlungen.
Nanna starrte auf den Bildschirm und sämtliche Buchstaben und Zahlen verschwammen zu einem Gemisch aus leuchtenden Punkten. Wer weiß, was für Schaden sie an diesem Tag anrichtete, als sie all die ihr vorliegenden Daten abtippte. Egal, Nanna kümmerte das nicht mehr. Es war sowieso alles verloren.
Die Jacke! Was hatte es damit auf sich? Vor allem die Taschen! Taschen, sie hatten doch gar nicht über irgendwelche Taschen gesprochen. Nanna griff tief in ihre Jackentasche und stieß mit ihren Fingern auf ein Stück Papier. Es fühlte sich an wie ein Zettel. Es war äußerst ungewöhnlich, ein Stück Papier zu fühlen. So etwas gab es hier nicht. Nannas Puls raste. Ihr Herz überschlug sich, so sehr schoss ihr die Erkenntnis in die Nervenbahnen. Als hätte ihr jemand eine Spritze in den Arm gejagt.
Sie zog das Zettelchen heraus und konnte es kaum fassen, als sie etwas darauf geschrieben fand. Ein Brief! Es war kaum zu glauben. Was stand darauf? Nanna wusste nichts - absolut nichts, was das hätte bedeuten können. Doch immer wieder flackerte Laylanis Gesicht vor ihr auf. Laylani? War sie es gewesen?
Nanna las:
Heute Mitternacht warte ich vor deiner Tür - Türcode: flüster folgendes Wort: Pamana - Es gibt einen Ausweg - unsere letzte Chance - sei pünktlich - zerstöre dieses Papier
Nanna ließ den Zettel sinken. Die Zahlen auf dem Bildschirm vor ihr wuselten wie Ameisen vor ihren Augen. Es knisterte in ihrem Kopf und sie wusste, dass sie noch immer unter Drogen stand. Denn sie fühlte nichts. Sie wusste um die Bedeutung dieser Nachricht, doch nichts regte sich in ihrem Inneren. Sie fühlte sich wie ein Vogel, dessen Käfig geöffnet wurde, doch er kannte die Freiheit nicht. Wo sollte er hin? Konnte er überhaupt fliegen? Konnte Nanna fliehen? Spielten ihre Nerven mit oder würde sie nach nur wenigen Minuten scheitern? Ihr Vorhaben würde nicht unentdeckt bleiben, das war gewiss, was erwartete sie? Konnte alles noch schlimmer kommen? Doch andererseits - sie musste diese Chance nutzen, Laylani zuliebe und vor allem für Marius und Saraya.
Nanna konnte sich nun gar nicht mehr auf ihre Arbeit konzentrieren. Die Zahlen und Wörter tanzten wild durcheinander, sahen alle gleich aus und wollten nicht stillstehen. Es war zwecklos - Nanna beendete das Programm, nun war sowieso egal, welche Konsequenzen dies hätte - heute Nacht geschah weit Schlimmeres.
Wenn sie es rechtzeitig zum Vollmond auf den Hügel schaffte, würde Marius' Plan doch noch vollendet werden. Sie musste es wagen, auch wenn sie der Zweifel quälte. Nanna verließ den Raum und ging ins Schlafzimmer. Eigentlich hätte sie noch ihr Fitnessprogramm machen müssen und zu Abend essen, doch sie konnte es auf ihren momentanen Zustand schieben. Seit sie bei Carla gewesen war, hatte sie ständig Müdigkeitserscheinungen. Niemand würde dies anzweifeln.
Im Schlafzimmer legte sie sich aufs Bett und starrte an die Decke. Hier könnte sie für immer liegen bleiben, sie liebte diesen Raum, vor allem, wenn sie allein war. Eine Höhle der Ruhe und Geborgenheit, nichts, außer die Klänge und das blaue Licht des Schlafprogramms. Ab und zu erschienen die Hologramme eines Fisches oder einer Qualle, hier und da hüllte sie eine Koralle ein oder die Tentakel eines Tintenfisches griffen nach ihr. Wie es wohl wäre, in einem echten Meer zu baden? Meereswasser an der Haut, Lebewesen, die man berühren könnte, die atmen. Die Schuppen eines Fisches spüren, seinen Geruch erfahren, sein Herz schlagen sehen. Nannas Vorstellungskraft versagte. Einst war all das möglich gewesen.
War es das womöglich noch immer? An einem fernen, verborgenen Ort - da draußen? Eine Gänsehaut breitete sich aus, vielleicht gab es noch diese klitzekleine Chance. Laylani hatte der Himmel geschickt!
Nanna schreckte auf, als sie Schritte hörte. War ihre kostbare Zeit allein schon vorbei? Sie seufzte und setzte sich im Schneidersitz aufs Bett. Ihre Haare kitzelten ihre Beine. Sie verschränkte die Arme und beobachtete Levi, wie er hereinschlich, als wäre er ein Tier, das nicht entdeckt werden wollte.
„Hey, bist du noch wach?"
Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Er konnte gar nicht schnell genug ins Bett kriechen. Wie ein Schatten huschte er unter seine Decke. „Scheiß Tag! Den ganzen Nachmittag auf nur ein und denselben Knopf drücken, können das nicht die kack Roboter machen?" Nanna fühlte mit ihm, es war in der Tat mehr als sinnlos - all das hier. Für was? Für wen? Sie dienten einem Geist, dem großen Unbekannten, der irgendwo da oben hockte und sich all das ansah, ohne etwas zu erklären. Widerwärtig. Sie wussten nicht mal, ob sich all der Unsinn lohnte. Doch Nanna spielte nicht mehr mit. Sie schluckte.
„Ich bin bald weg", flüsterte sie. Sie war es ihm schuldig, er war in Ordnung und hatte die Wahrheit verdient. Plötzlich vertraute sie ihm voll und ganz.
„WAS?"
Er saß kerzengerade im Bett und starrte sie an. Nanna fühlte auf einmal eine Wärme in sich hochsteigen. Sein zerzaustes Haar, die aufgerissenen Augen und seine Ahnungslosigkeit rührten sie mit einem Mal. Sie lächelte nur.
„Du lässt mich hier in dem Scheißdreck sitzen?" Eine tiefe Falte erschien zwischen seinen Brauen. Er konnte wirklich gefährlich aussehen. Nanna rückte unmerklich zurück. Zuckte mit den Schultern und spürte ihr schlechtes Gewissen aufsteigen. Er hatte es nicht verdient, im Stich gelassen zu werden. „Ich will mit!", forderte er mit einer Stimme wie Rasierklingen.
Wäre es möglich? Sie hatte keine Ahnung, wie das beim Portal ablaufen würde. Wollte Laylani mit durchs Tor oder ihr nur bei der Flucht helfen? Doch die Androiden bemerkten ihre Flucht, ganz gewiss. Was geschah dann mit Laylani, wenn sie hier bliebe? Nanna wollte nicht weiterdenken. Nichts denken. Sie hielt sich den Finger an die Lippen. Sie durften nicht davon reden. Nicht, dass gleich Hendrik hier stünde. Keiner wusste, wie viel die Androiden tatsächlich mitbekamen. „Warte ab, okay?", sagte sie und legte sich auf den Rücken, um wieder an die Decke zu blicken. Ihr Herz raste. Was kam da nur auf sie zu? Sie musste jetzt unglaublich stark sein.
„Ich will bei dir bleiben", flüsterte Levi und seine Stimme klang so unglaublich verletzlich, dass sie in Nannas Herz schnitt wie ein Messer. Warum war er auf einmal so ehrlich? Was ging in ihm vor?
Sie drehte ihren Kopf zur Seite und seine Augen waren tiefschwarz und voller Panik. „Wir sind Abschaum für die anderen. Nichts als Dreck, den keiner haben will."
„Wer ist wir?"
Die Spannung zwischen ihnen wuchs und Nanna fühlte sein Wesen, sein Innerstes so stark wie nie zuvor. Hatte sie zuvor Angst vor ihm empfunden, Angst vor dem Unbekannten und vor seiner Impulsivität, so fühlte sie in diesem Moment nichts als Zuneigung. Er war ein gebrochener Mensch, ein traumatisiertes Kind - sie wollte niemals erfahren, was dort geschehen war, was er gesehen und erlebt hatte, denn sie sah die Dunkelheit in seinen Augen und dass es ihn für immer verfolgte. Sie griff nach seiner Hand. Er zuckte, doch zog sie nicht zurück.
„WIR sind die, die niemals zum Mars reisen werden."
„Aber wieso? Woher weißt du das?"
Er schwieg, legte den Finger auf die Lippen und drückte ihre Hand, bis sie protestierte. „Lassen wir das Gerede, sonst steht unser Freund gleich hier auf der Matte", zischte Levi und zog seine Hand weg. Seine Härte und das schnelle Switchen zwischen zwei Wesenszügen war wohl sein Schutz. Er durfte nichts an sich heranlassen, nichts, was ihn schwächen könnte. Nanna verstand ihn mittlerweile und konnte damit umgehen. Sie nickte.
Dann legte sie sich zurück, hob ihren Arm vor die Augen und stellte sich eine Erinnerung um kurz vor Mitternacht. Sie konnte es immer noch nicht glauben, dass der Plan von Laylani funktionierte. Käme sie überhaupt? Woher kannte sie den Code, konnte sie ihr vertrauen? Es schien ihr mit einem Male unwahrscheinlich, dass Laylani den Code der Tür kannte. Woher wusste sie das?
Nanna scheuchte die Gedanken weg wie eine lästige Fliege. Sie durfte nicht grübeln oder zweifeln. Die Wahrheit war: Sie hatte keine Wahl. Sie MUSSTE es wagen.
Levi beobachtete Nanna, sie spürte seine Blicke. An Schlaf war nicht zu denken. Sie rechneten jederzeit damit, dass Hendrik kam. Sie alle hatten zu viel geredet, zu viel Verbotenes gedacht, zu viel Pläne geschmiedet. Es musste auffallen, alles andere wäre verdächtig. Nanna spürte jede Nervenbahn pulsieren.
Da drückte Levi ihre Hand. Ein Stromschlag fuhr durch ihren Körper, aufgrund der ungewohnten Berührung. Er strahlte etwas aus, was Nanna nicht verstand. Er berührte sie, nicht nur äußerlich, und plötzlich waren sie sich näher als je zuvor. Das erste Mal in Nannas Leben gab es diesen einen Moment, wo sie nirgendwo sonst sein wollte. Nur hier, bei Levi, Hand in Hand. In ihrem Bauch kribbelte es und jede Faser vibrierte. Eine tiefe Zufriedenheit legte sich auf ihr Bewusstsein. Es war, als läge sie draußen in der Sonne an einem wunderschönen Ort. Sie gab etwas und sie bekam etwas. Nähe, Geborgenheit, Vertrauen. Nichts zuvor schien ihr so wertvoll wie dieser Moment.
Nanna rückte näher, wollte seine Wärme an ihrer Seite spüren, wollte ihm ihre Wärme schenken. Sie roch seinen Duft nach Orangenseife und spürte seinen Atem an ihrer Wange.
Beide ahnten, dass eine Menge auf sie zu käme. Die Ängste und Hoffnungen verbanden sie. Ihr Schicksal lief parallel, irgendwann würden sie sich wieder entfernen, doch nicht jetzt. Die Intensität des Augenblickes nahm mehr und mehr zu. Es war Energie, natürliche Elektrizität. Und dann geschah es. Levi hielt der Spannung nicht mehr stand. Es brach heraus und er musste es einfach tun. Er küsste sie.
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