Zusammenführung

Die Gewissheit, hierbleiben zu müssen, brannte wie Feuer. Ein Feuer in das jemand unaufhaltsam Öl schüttete. Nanna glühte innerlich und sie meinte, alle Anwesenden müssten die Flammen doch sehen, die aus ihrem Inneren schlugen.

Doch alle Augenpaare blickten sie ruhig an. Sie sahen den Kampf in ihrer Seele nicht. Sahen nicht die Bilder, die Nanna sah. Sarayas tränenverquollene Augen, Hände, die nicht loslassen wollten, Schmerzen in der Brust - wegen der Ungerechtigkeit dieser Welt - und die verdammte Hilflosigkeit. Nichts gegen sein Schicksal tun zu können. Dem Abgrund entgegentreten zu müssen mit einer Schar Ungeheuer im Nacken.

Nanna sah nun die Augen all dieser Fremden, ihre Blicke klammerten sich an ihr fest wie die Saugnäpfe hungriger Oktopusse. Mit einer Leere und Kälte darin.

Wie sollte sie in einer Umgebung ohne die Wärme und Lebendigkeit ihrer Freunde überleben? Gab es hier irgendjemanden der wenigstens einen Funken Leben in sich trug? Nanna hoffte es, doch glaubte kaum daran. Wie lang würde es dauern, bis sie hier weg käme? Marius hatte ihr zwar die Funktion des Dreamwalker erklärt, doch die Benutzung war nicht so leicht, wie gedacht. Sie müsste Schritt für Schritt dazulernen, um sich dann, nach einiger Zeit, tatsächlich teleportieren zu können. Körperlich. Zuerst würden die Wandlungen nur auf geistiger Ebene stattfinden. Und ihr zukünftiger Mann durfte bis dahin keinen Verdacht schöpfen.

„Willkommen, Nanna, im Namen aller Bewohner. Wir freuen uns über deinen Übertritt", riss eine Stimme Nanna aus ihrer Gedankenwelt.

„Wir hoffen, dass du dich schnell einlebst. Hast du irgendwelche Wünsche oder Fragen?" Die Stimme klang wie klares Wasser.

Nanna versuchte, im Hier und Jetzt zu bleiben. Sie drehte den Kopf zu der Person, die gesprochen hatte. Es war die Androidin, die hier das Sagen hatte. Sie hieß Carla. Freundliche blaue Augen blickten in die ihren. Sie waren lang nicht so menschlich wie Marius' Augen, doch das Schimmern und die Gesichtszüge zeugten von Intelligenz.

Schwarze Haare umrandeten das hübsche Gesicht wie ein Porträt. Jedes Molekül saß perfekt. So erkannte man die Androiden am ehesten. Sie waren in allem perfekt.

Wie lang war sie nun schon wieder abgedriftet? Carla hob die Augenbrauen, ganz dezent.

„Ich habe keine Fragen, danke", antwortete Nanna. Ihre Stimme überschlug sich.

Sie schluckte das Brennen hinunter, das ihre Kehle hinauf züngelte wie die Giftschlange von vorhin.

„Das ist gut. Dann können wir mit der Zeremonie beginnen." Carla nickte, hob eine Hand und Musik ertönte. Leise Klavierklänge wanderten durch den Saal und legten sich wie Beruhigungsmittel auf Nannas pulsierende Nerven. Musik gab es hier? Das war schon mal ein Anfang. Ein guter.

Carla setzte sich zu den vier anderen Androiden. Sie blickten zu den Türen, die sich lautlos zur Seite schoben und den Weg für den Service freigaben. Es kamen einige Roboter herein und servierten das Festmahl mitsamt den Getränken. Ein Glas wurde vor Nanna abgestellt und eine rote Flüssigkeit rann hinein. Sie schimmerte wie ein Edelstein und für einen Moment wich Nannas Sorge der Faszination für das Neue und Unbekannte. Alkohol war eines davon. Nun war sie erwachsen. Der Platz neben ihr war noch frei. Nanna fröstelte, bei dem Blick auf den Stuhl neben sich.

Sie beobachtete die anderen Pärchen, die bereits zu essen begannen. Niemand sprach, nur wenige tuschelten miteinander. Es mussten so an die zwanzig bis dreißig Menschen sein, die nicht viel älter als Nanna waren. Sobald eins der Mädchen schwanger würde, käme das Paar in einen anderen Bereich - Parentium -, den der Eltern und Kinder. Dort war Nanna selbst schon während ihrer ersten sieben Lebensjahre gewesen. Zusammen mit ihren Eltern, an die sie sich nicht erinnern konnte. Sie wüsste gern, wie das Leben dort ausgesehen hatte. War sie ein glückliches Kind gewesen?

Nanna versuchte, sich auf das Essen zu konzentrieren, denn so machten es all die anderen auch. Es war anders als in Pueriton. Fremde Speisen empfingen Nanna. Sie nahm ein grünes glibberiges Törtchen und biss vorsichtig hinein. Es schmeckte süß und minzig. Nicht schlecht, fürs Erste.

Sie spürte die Blicke der anderen auf sich lasten. Wie sehr sie es hasste, sie wollte so gern in der Menge untergehen, eins sein mit ihrer Umgebung. Ihre Befürchtung bewahrheitete sich, sie spürte vor allem negative Emotionen um sich herum. Den Neid der Mädchen und die Ablehnung für alles, was sie nicht kannten oder einschätzen konnten. Die sonderbaren Blicke der Jungs wusste sie nicht zu deuten, wie auch, wenn sie bisher keine kennengelernt hatte. Doch aus den Filmen und Geschichten wusste sie, dass sie meist nur eines im Kopf hatten.

Was würde sie alles geben für das lockig blonde Haar des Mädchens gegenüber oder die braune Haut des Mädchens neben ihr.

Nanna versuchte, die Männer zu betrachten, doch sie scheute sich. In deren Blicken lag etwas, was ihr die Luft zum Atmen nahm und sie lähmte. Sie hatte das Gefühl, jede ihrer Bewegungen und Zuckungen würden mit Argusaugen beobachtet. Ihr Körper war wie mechanisch, sie wusste nicht mehr, wie sie sich verhalten sollte. Jeder Griff zum Essen erschien ihr falsch und jeder Blick in die Runde unangebracht. Also legte sie ihre Hände in den Schoß, senkte den Blick und versank in ihrer Innenwelt. So wie sie es gewohnt war.

Die Musik half ihr dabei und das Muster des Tisch-Mosaiks, das sich permanent veränderte. Kreise wurden zu Spiralen und Vierecke zu Kreisen. Unendliche Fraktale saugten Nanna mit sich. So entspannte sie sich allmählich und die Zeit rieselte dahin. Der Sand der Vergänglichkeit. Stück für Stück. Das Mondkind in der Wüste.

Als der Platz neben Nanna besetzt wurde, war sie inmitten einer Welt aus Formen, Farben und Klängen gefangen. Das Erste, was sie wahrnahm, war der fremdartige Geruch. Er ließ ihren Atem stocken. Nanna konnte nicht tiefer, als bis zur Brust einatmen, etwas wie Feuer und Regen schlich sich in ihre Sinne. Eine Sehnsucht nach den Elementen erwachte.

Nanna schlug die Augenlider auf, die Musik erstarb inmitten einer so wundervollen Symphonie, alle Blicke lasteten auf ihr wie ein Schwarm Mücken.

Dann drehte sie den Kopf und der Mann, den sie noch nie zuvor gesehen hatte, war nur noch wenige Zentimeter von ihr entfernt.

Er lächelte und es wirkte siegessicher. Als wäre er ein Raubvogel, der seine Beute schon sein Eigen wähnte. Noch kreiste er weit oben, über Nanna, mit höflichem Abstand, doch schon bald würden seine Krallen sich in ihren Körper graben, soviel war gewiss.

Sie duckte sich ins tiefe Gras, doch seinen Adleraugen würde sie nie entkommen, nicht hier drin. Das hungrige Feuer des Lebens, des Überlebens und der Drang nach Fortpflanzung jagte Nanna einen Schauder über den Rücken, kalt und klebrig. Doch auch eine Spur der Faszination schwang mit. Nanna hatte eben eine Schwäche für das Leben und die Emotionen. Und dieser Augenblick war voll davon.

Die Zeremonie begann.

Androiden kamen, schmückten Nanna mit Blumen und Glanz. Eine neue Musik erklang. Wie der heulende Wind im Eismeer. Glasklar und rein. Das Licht erlosch und das Paar erhob sich, um als einziges auf der Bühne zu tanzen. Seine Hände waren nicht kalt wie die von Marius, nein, sie verbrannten Nanna geradezu.

Der Raum lag im Dunkeln, nur Nanna und ihr Mann wurden beleuchtet. Es war wie ein Traum. Ein Albtraum? Wer weiß. Nanna war nicht mehr sie selbst. All die Erinnerungen fielen ab wie Staub. Das Leben sog sie in ihren Bann. Sie hatte keine Angst, denn Marius' Geschenk war bei ihr und sie konnte es noch in dieser Nacht ausprobieren. Dann könnte passieren, was wolle, Nanna würde bei Saraya in ihrem alten Zimmer sitzen. Geistig jedenfalls. Sie würden lachen und reden, als wäre nichts gewesen.

Nanna wiegte sich in Sicherheit und so geschah es, dass sie die erste Begegnung mitsamt der Zeremonie nahezu genießen konnte. Jetzt war sie kein Kind mehr. Niemand konnte ihr von nun an etwas anhaben.

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