TEIL I - Elysion - Das Ende der Kindheit
Nanna blickte am Tage ihrer Geburt nicht in das Licht der Sonne, sondern in das des Mondes. Er schien hell in dieser Nacht, so unwirklich hell, als hätte er den Glanz der Sterne in sich aufgesogen. Schwer und kugelrund sank er tiefer als je zuvor und küsste das kleine Mädchen mit seinem Schimmer. Es hob das Köpfchen, blinzelte gen Himmel und die Mutter erschrak über den Glanz, der sich in den gerade zum Leben erwachten Pupillen spiegelte. Als wäre all das Silber der Nacht in das kleine Geschöpf geflossen. Es strahle von innen heraus, unwirklich und schmerzhaft schön. Und so bekam das Kind seinen Namen − Nanna Mondtochter. Es war eine schicksalhafte Nacht, der Mond war der Erde nie zuvor so nah gewesen. Man hatte fast glauben können, er selbst hätte Nanna ihrer Mutter in die Arme gelegt.
Siebzehn Jahre später
Nanna konnte ihn von ihrem Zimmer aus sehen. Er schwebte dort oben wie die Glaskugel eines Magiers, fast dachte sie, zwei Hände zu erkennen, die den Mond umschlossen. Das silberne Licht hüllte den Himmel in einen surrealen Glanz und ließ die Welt wie ein Theater wirken.
Der Knoten in Nannas Brust schnürte ihr die Luft ab, das Atmen fiel ihr schwer. Nicht mal der Vollmond vermochte es heute, sie zu beruhigen. Es waren nur noch drei Wochen. Nur noch drei grausame Wochen, dann wäre ihre Kindheit endgültig vorbei.
Der Kamm glitt durch ihr Haar, zuerst angenehm kitzelnd, dann durchfuhr sie ein kurzer Schmerz. »Autsch!«, quietschte sie, als Saraya mit den Zinken in einem Knoten hängen blieb.
Saraya seufzte und ließ Nannas Haare los. »Ich hatte sowieso gerade vor, sie dir abzuschneiden. Warum tu ich mir das eigentlich an? Der Neid zerfrisst mich noch.«
Schnipp Schnapp, ertönte hinter Nanna das Geräusch einer Schere. Sie würde doch wohl nicht im Ernst ...
»Saraya!«, rief Nanna und fuhr herum. Immer dieses Drama um ihre Haare, vielleicht war es wirklich das Beste, sie abzuschneiden.
»Sie sehen aus wie das Mondlicht, wie flüssiges Silber. Unglaublich! Warum kann ich nicht so wundervolle Haare haben? Du bist echt gemein!«, jammerte Saraya und gab dabei Töne von sich, als würde ihr jemand die Finger abhacken.
»DU bist gemein! Was bitte schön kann ich denn dafür? Seit wann kann man sich seine Haarfarbe aussuchen?« Nanna hatte es satt. Am liebsten würde sie sich einen Müllsack über den Kopf stülpen und nur eine von vielen sein.
»Hast ja recht, nimm's mir nicht übel, aber sieh dir nur meine Strohhalme an. Grauenvoll, einen Haufen Mist hab ich auf dem Kopf.« Saraya fuhr sich durch die rote Lockenmähne und ihre grünen Augen sprühten Funken. Hitze stieg in ihre Wangen und es fehlte nur noch der Dampf aus ihrer Nase.
»Ach, mein kleiner Feuerdrache ...« Nanna lachte und nahm ihre Freundin in die Arme. Ihr Bauch krampfte sich zusammen, als sie an den baldigen Abschied dachte, und die Sorge verscheuchte ihre kurzweilige Freude, aber Saraya bemerkte es zum Glück nicht. »Ich wäre gern so ein Wildfang wie du, ich liebe dein Rot, es ist so wild und feurig eben.«
»Vielleicht können wir ja mal tauschen. Unsere lieben Androiden können doch so gut wie alles, oder was meinst du?« Ein Strahlen überflutete Sarayas Gesicht und das Leben in ihr glühte noch stärker. »Stell dir vor, sie haben sogar Emilias schiefe Nase gerichtet. Jetzt stolziert sie herum wie die Königin höchstpersönlich. Dabei war die Nase nicht mal das Schlimmste.« Sie kicherte wie ein kleines Mädchen.
Nannas Knoten in der Brust zog sich immer enger, sie kämpfte dagegen an, aber verlor schlussendlich. Sie konnte ihre Maske nicht mehr wahren, sie fiel von ihr ab und Tränen sammelten sich in ihren Augen. »Ich will nicht weg von dir! Ich will nicht weg von hier! Und ich will noch nicht erwachsen werden!«, schluchzte sie wie ein Kleinkind, dem man das Spielzeug aus den Händen gerissen hatte. Sie stürzte in Sarayas Arme, ihr Körper bebte und sie wollte nie mehr heraus aus dieser Umarmung.
All die Bilder der unbeschwerten Momente mit ihrer Freundin zogen an ihr vorüber. Ihre Streifzüge durch den Dschungel, Klettertouren auf die Hügel um Pueriton herum, ja sogar die langweiligen Schulstunden waren lustig mit Saraya. Die heimlichen Nachrichten, die sie sich dabei schickten, und die Strafen, die es ständig hagelte, hatten sie stets tapfer erduldet. Ein Nachmittag nachsitzen bei Marius war kaum der Rede wert. Was sie jedoch am meisten fürchtete, waren die Nächte. Wenn die Ängste kamen, die dunklen Schatten und Geister ihrer Alpträume ... nur Saraya konnte ihr dabei helfen.
»Ich bleib doch bei dir, meine Mondmaus, in Gedanken bin ich jede Sekunde bei dir«, versuchte Saraya, ihre Freundin zu beruhigen. Sie streichelte ihren Rücken, der noch immer zuckte. »Du wirst einen wundervollen und lieben Mann bekommen. Dein Strahlen wird ihn um den Verstand bringen und er wird dir jeden Wunsch von den Augen ablesen und schon bald brauchst du mich nicht mehr.«
Nanna blinzelte durch ihre silbernen Haarsträhnen hervor, ihre Augen brannten. »Und wenn nicht? Was, wenn er merkt, dass mit mir was nicht stimmt? Wer will sich schon mit einem Problemfall herumärgern? Da helfen mir meine Haare auch nicht weiter.« Nanna schniefte und schluckte schwer. »Mein Äußeres ist nur ein Ablenkungsmanöver der Natur. Eine Art Tarnung. Wie eine giftige Blume und jeder, der mich berührt, wird vergiftet.«
»Du bist einfach nur doof, das ist absoluter Blödsinn! Vertrau mir! Nächstes Jahr komme ich doch auch und dann sind wir wieder zusammen. Wir werden über die dummen Männer lachen, werden Wetten abschließen, wer von uns beiden eher schwanger sein wird. Wahrscheinlich wird es die fantastischste Zeit unseres Lebens. Keine Schule und keine Langeweile mehr. Wir werden behandelt wie Erwachsene. Wir dürfen viel mehr als jetzt. Zum Beispiel länger wach bleiben und Alkohol trinken. Und wir bekommen Glückspillen!«
Doch Nannas Sorgen türmten sich vor ihr auf wie ein unüberwindbares Hindernis. Hier war ihr Zuhause, sie fühlte sich noch nicht bereit für die Ehe. Für einen Mann. Wie auch, sie kannte Männer nur aus Illusionen und Erzählungen. Ohne Saraya war sie verwundbar, nicht überlebensfähig.
»Du weißt genau, dass ich ohne dich verloren bin, nur du kennst meine Probleme. Und damit meine ich nicht die Wehwehchen wie bei den anderen Mädchen, ihr Gejammer um Belanglosigkeiten. Erinnere dich an mein Abschlussfest, am Ende habt ihr ohne mich gefeiert und ich lag im Krankenzimmer. Für die anderen bin ich ein Alien, nur du kennst mich wirklich.«
Saraya strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, sie lächelte, als wäre alles in bester Ordnung. »Alles wird gut! Ich bin mir sicher, du wirst Hilfe bekommen, Marius wird nicht zulassen, dass dir jemand schadet. Und ich werde immer wieder fragen, mich versichern, dass es dir gut geht. Irgendwie werden wir es schaffen, in Kontakt zu bleiben. Kopf hoch!«
Es musste einen anderen Weg geben, Saraya musste mit ihr kommen oder sie auf den Mond beamen, oder was auch immer. Nanna konnte keine Ehefrau werden, das war so unmöglich wie dass es jetzt auf der Stelle Frösche regnete. Wer würde ihr denn helfen in Maternita? Dort sollte sie selbst Verantwortung übernehmen. Für sie, für ihren Mann und noch schlimmer – für ein Kind!
Panik kroch ihre Kehle empor, doch Nanna schwieg. Saraya sollte sich um sie keine Sorgen machen. Es reichte schon, dass sie ihrer Freundin die Ohren vollheulte. Erbärmlich. Einfach nur grauenvoll. Schlimmstenfalls musste sie Marius bitten, ihr Leben auf würdevolle Weise ein Ende zu setzen.
Dann drückte Nanna Sarayas Hände ganz fest. Sie blickte ihr tief in die Augen. Verlor sich für einen Moment in dem Grün, als würde sie im Gras versinken. Sie roch Wiese und Blumen und Leben. Was sah Saraya in Nannas Augen? Kälte, Trauer und Leid? Sah ihre Freundin, was in ihr drin war? Wie eisig ihre Seele geworden ist, erstarrt und erfroren von all den vielen Sorgen und Ängsten? Von all den Vorahnungen und Visionen, die sie jede Nacht plagten? Hoffentlich sah sie es ihr nicht an. Nanna wollte ihr Inneres für sich behalten.
Saraya lächelte. Und Nanna lächelte ebenso. Saraya zuliebe schluckte sie den Eisklumpen hinunter und schwieg.
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