Spinnweben

Laylanis Gesicht hing in Nannas Kopf fest, als hätte sich ihr Bild dort eingebrannt. Sie konnte sich auf nichts konzentrieren und Hendrik blickte sie mehr als einmal zu intensiv an. Wie lang würde es noch dauern, bis er die ersten Schritte unternahm und sie mit ihren Problemen konfrontierte?

Nanna verbrachte den Nachmittag an ihrem Arbeitsplatz. Sie hatte ein eigenes kleines Zimmer, das in ihren Room integriert war. Levi hatte ebenso ein eigenes, ihn hatte sie seit der Mittagsruhe nicht mehr gesehen. Sie fröstelte, wenn sie an den kommenden Abend dachte. Wieder mit ihm in einem Bett nebeneinander zu liegen, schien für Nanna nicht sehr entspannend. Sie brauchte dringend Schlaf und eigentlich wollte sie heute den Dreamwalker wieder einsetzen. Sie würde sich kurz halten müssen, sonst klappte sie morgen komplett zusammen.

Der Arbeitsplatz bestand aus einem Stuhl und einer technischen Vorrichtung, mit der sie arbeiten sollte. Es sah etwas aus wie das Cockpit eines Raumschiffes. Mit ihr als Pilotin.

Hendrik wies ihr an, sich zu setzen. „Hier loggst du dich in dein System ein", er deutete auf einen Schalter, auf den sie ihren Chip halten sollte, „dann springen die Hologramme deines zu organisierenden Bereiches an."

Nanna setzte sich und hielt ihren Arm auf den roten blinkenden Schalter. Rundherum erschien das Hologramm eines Raumes, in dem auf den ersten Blick nicht viel zu sehen war. Auf den zweiten Blick erkannte sie ein Geflecht aus grauen Fäden und abgetrennten Bereichen. Wie ein Setzkasten reihten sich Quadrate aneinander, in denen irgendetwas zu leben schien. „Was ist da drin?", fragte Nanna.

„Spinnen", antwortete Hendrik und beobachtete Nannas Reaktion.

„Spinnen? Wozu?" Ausgerechnet! Sie hasste dieses widerliche Ungeziefer. Was machten so viele Spinnen in diesem Raum? Es mussten tausende sein.

„Hast du dich noch nie gefragt, aus was für einem Material unsere Textilfasern gewonnen werden?"

Nanna ahnte Ekelhaftes, aber in der Tat hatte sie darüber noch nie zuvor einen Gedanken verschwendet. Sie hatte geglaubt, all das würde künstlich gewonnen. Sie schüttelte den Kopf und sah den Androiden mit großen Augen an.

„Wir haben Löwenzahn, Mais, Hanf und eben Spinnenseide. Aus diesen Hauptbestandteilen gewinnen wir unsere Textilfasern."

„Ja, wir haben das mal zum Thema gehabt, glaube ich, aber ich kann mich kaum erinnern."

„Wahrscheinlich hast du nur nicht aufgepasst. Hast den Kopf nur voller nutzloser Träume." Hendriks Rüge kam schärfer als gedacht. Er sah Nanna schon wieder einen Moment zu lange in die Augen. War das eine Drohung gewesen? Nanna senkte den Blick und schwieg. Wieso wurden die Roboter so programmiert, dass Träume als etwas Negatives eingestuft wurden? Warum waren Gefühle schlecht - Ängste wie Wünsche? Und warum waren genau diese Dinge bei ihr selbst so stark? Hatte Marius womöglich doch recht mit seinen Andeutungen, sie sei wichtig für etwas Größeres? Marius. Nanna spannte es in der Brust, wenn sie an ihn dachte. Warum war er eigentlich so anders? Wer hatte ihn damals programmiert? Hatte dieser Jemand absichtlich „Fehler" eingebaut? Ihn mit Absicht so anders programmiert? Nanna schwirrte der Kopf, als hätte sie fünf Stunden gelernt.

Sie hörte Hendrik reden, doch seine Worte waren wie ein Regenschauer. Sie sah ihm auch dabei zu, wie er all die Handgriffe und Anweisungen erklärte, sie anwies, was zu tun war, doch es war, als beobachtete sie jemanden von weiter Ferne aus. Immer wieder traten Bilder ihrer Vision zu ihr durch. Der Junge, zu dem sie eine immer größer werdende Sehnsucht aufbaute. Ein Unbekannter, ein Gespinst ihrer Fantasie, und trotzdem so vertraut. Wie eine goldene Statue prangte er auf dem Hügel in Nannas Vorstellung. Er wartete und ließ sie nicht los. Nannas Hände waren schweißnass, sie rieb ihre Finger ineinander, musste ihre Emotionen irgendwo hinauslassen, wo Hendrik sie nicht bemerken würde. Wer wusste, was mit ihr geschähe, wenn sie weiterhin negativ auffiel.

Irgendwann verschwand er und sie blieb allein mit ihren Spinnen, die sich in Hologrammen um sie herum tummelten. Es passte eigentlich sehr gut zu ihrer Gemütslage. Denn in ihrem Kopf schienen sich ebenso Spinnweben zu vernetzen und ihr die Klarheit nehmen. Sie brauchte Saraya, die wie eine Vollmondnacht für Nanna war. Beruhigend und vertraut. Doch so unendlich fern.

Würde sie ihre Freundin jemals wieder in die Arme schließen können? Natürlich hatte sie beim Traumwandeln diese Möglichkeit, aber es fühlte sich nicht zu hundert Prozent echt an, außerdem blieb ihnen immer nicht viel Zeit. Auch wenn Saraya nächstes Jahr nach Maternita kam, war die Wahrscheinlichkeit gering, dass sie zusammen sein durften. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie Mitspracherecht hätten, wen sie wann treffen durfte. Aber wer war es eigentlich, der hier die Regeln machte? Carla? Oder jemand aus der Marskolonie? Sie wusste so wenig, von ihrer eigenen Welt, sie kannten nicht mal diejenigen, die über ihr Leben bestimmten, als wäre sie ihr Spielzeug.

Die Menschen sollten doch endlich einmal begreifen, dass sie nichts weiter als Moleküle waren. Sie würden irgendwann zu Staub werden und nichts von alldem hier ergab dann noch Sinn. Wozu sich künstlich am Leben erhalten, wo die Zeit höchstwahrscheinlich schon bald abgelaufen war?

Ihr kam ein altes Buch aus der Bücherei in den Sinn. Bei dem bloßen Gedanken bekam sie Gänsehaut. Es waren die Naturkatastrophen, die das Leben auf der Erde unmöglich gemacht hatten. Hochwasser und Brände, Eiseskälte und Erdbeben. Nur eine Handvoll, nur die Elite, hatte früh genug diese Kuppel voller Hightech errichtet und das Portal geschaffen. Mithilfe eines Schwarzen Loches. Die Elite hatte sich künstlich am Leben erhalten, sich versteckt, und alle anderen Menschen da draußen elendig krepieren lassen. Nanna sah die Bilder vor sich, die dort abgebildet waren. Ertrinkende, Verbrennende. Kinder wie Frauen, Männer wie Alte. Jeder Einzelne musste sein Schicksal demütig annehmen. So wie es vorgesehen war. Doch diese eine Handvoll hatte über die gesamte Menschheit entschieden. Sie hatte all diese Erkenntnisse versucht zu verdrängen, ihre Angst hatte zugenommen, aber auch ihre Sehnsucht nach den Profillosen.

Nanna sehnte sich nach dem Mondlicht, nach Erlösung von diesem künstlichen Leben. Der Mond bedeutete für sie das echte Leben. Wenn sie nach oben blickte, so wusste sie stets, dass sie nur eine Feder im Wind war, nur eine Spiegelung des Lichts. Nur ein Staubkorn. Doch ihre Seele würde dort oben sein, bei ihrem Mond, und deshalb fütterte Nanna ihre Seele - mit Gefühlen und Emotionen. Keine Lüge durfte in ihrem Inneren ruhen. Niemals.

Nanna spürte diese Gewissheit. Sie wusste, was zu tun war. Das Ziel lag offen vor ihr. Ihr Weg führte zum Hügel. Und dort draußen würde sich zeigen, ob ihre Bestimmung das Leben und somit der Kampf ums Überleben auf diesem Planeten war oder der Tod und die Erlösung.

Nanna atmete tief ein und die Spinnennetze in ihrem Kopf zerrissen. Ihr Kopf war wieder klar wie ein Bergsee. Bis sie hier herauskäme, musste sie unbedingt mitspielen, so dass keiner der Androiden etwas bemerkte. Hoffentlich hatte Hendrik sie noch nicht vollständig durchschaut. Sie stand unter seiner speziellen Beobachtung, so viel war gewiss, doch wenn sie sich jetzt zusammenreißen würde, könnte sie ihn vielleicht überzeugen, dass sie normal wäre und somit keine Gefahr für das Kollektiv darstellte. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit gering war, so musste sie es einfach versuchen. Was hatte sie schon zu verlieren?

Und so schluckte sie all ihre Emotionen hinunter, auch wenn der Magen davon schmerzte, und widmete sich ihrer Aufgabe.

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